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Türkei
"Das hier ist ein kompletter Geheimdienststaat"

Ein neues Geheimdienstgesetz in der Türkei gibt den Mitarbeitern Befugnisse, die weit über das in anderen demokratischen Staaten übliche Maß hinaus gehen. Es sei ein "Blankoscheck zum Machtmissbrauch", beklagt die Opposition. Die Regierung hingegen verspricht mehr Transparenz.

Von Luise Sammann | 03.05.2014
    "Starke Demokratien haben starke Geheimdienste. Genau deswegen unterstützen wir diese Reform. Wir wollen einen starken Geheimdienst, der dem Zeitgeist entspricht."
    "Ab sofort können Sie ohne Richterbeschluss jede Information von jeder Einrichtung fordern. Begriffe wie Berufs- oder Bankengeheimnis gelten nicht mehr. Ich frage mich, wieso da noch jemand in der Türkei investieren sollte. Glauben Sie, das Kapital kommt an einen rechtelosen Ort?"
    Nur die Fäuste flogen diesmal nicht. Ansonsten glich die Sitzung, mit der die türkischen Abgeordneten am 17. April ein neues Geheimdienstgesetz verabschiedeten, eher einem Kampf als einer Parlamentsdebatte. Als einen "Blankoscheck zum Machtmissbrauch" bezeichneten Oppositionelle die Reform auch dann noch, als sie mit den Stimmen der regierenden AK-Partei längst angenommen worden war. "Ein weiterer Schritt in den Polizeistaat", so kommentierte einer der berühmtesten Journalisten des Landes das Paket. Und auch die Nichtregierungsorganisation Human Rights Watch warnte: Dieses Gesetz lädt zum Missbrauch ein.
    Mehr Befugnisse als in anderen europäischen Staaten
    Tatsächlich gehen die Befugnisse türkischer Geheimdienstmitarbeiter ab sofort weit über das in anderen demokratischen Staaten übliche Maß hinaus: Zum Abhören von Telefongesprächen braucht der MIT – so das Kürzel der in Ankara ansässigen Behörde – ab sofort nicht mal mehr einen Gerichtsbeschluss. Sämtliche staatliche Einrichtungen, aber auch Nichtregierungsorganisationen, Unternehmen und Banken, sind auf Anfrage verpflichtet, die Daten aller Bürger zur Verfügung zu stellen. Bei Nichtbeachtung drohen mehrjährige Gefängnisstrafen. Die warten außerdem auf Journalisten, die in Zukunft Geheimdienstinformationen veröffentlichen. Das neue Gesetz macht die Mitarbeiter des Geheimdienstes gegenüber den Medien aber auch gegenüber der Justiz unantastbar.
    "Die Türkei ist mit Vollgas auf dem Weg in ein autoritäres Regime", hatte Oppositionsführer Kemal Kılıcdaroğlu schon vor fast einem Jahr gewarnt. Damals war die Regierung gerade dabei, die Reste der Gezi-Proteste zu zerschlagen. Demonstranten landeten vor Gericht, kritische Journalisten verloren ihren Job, aufmüpfigen Theatern wurden die Zuschüsse gestrichen. Spätestens mit dem neuen Geheimdienstgesetz scheint sich die Warnung von damals für den Oppositionsführer bewahrheitet zu haben:
    Die Istanbuler Polizei setzte Wasserwerfer gegen Demonstranten ein.
    Die Istanbuler Polizei setzte Wasserwerfer gegen Demonstranten ein. (picture alliance / dpa / EPA / Sedat Suna)
    "Das hier ist ein kompletter Geheimdienststaat. Menschen wurden auch vorher schon abgehört, aber das war wenigstens illegal. Jetzt ist es juristisch erlaubt! Wenn die Bürger eines Staates abgehört werden, bedeutet das, dass dort keine Demokratie herrscht, dass es in diesem Land keine Freiheit gibt. Das ist der Punkt, an den wir gelangt sind."
    Das Parlament soll über den Geheimdienst wachen
    Es war Vize-Premier Beşir Atalay, der die Aufgabe hatte, Kritikern wie Oppositionsführer Kılıcdaroğlu entgegenzutreten und Werbung für das Gesetz zu machen, das eine Kommission der regierenden AK-Partei zuvor erarbeitet hatte.
    "Einige urteilen über dieses Gesetz, ohne richtig hinzusehen. Tatsächlich sorgen wir hiermit für einen transparenteren Geheimdienst. All die Befugnisse, die wir ihm geben, hat der MIT auch jetzt schon. Allerdings im Rahmen eines geheimen Regelwerks. Von nun an wird das Parlament über seine Arbeitsbedingungen bestimmen."
    Ein Parlament wohlgemerkt, in dem die regierende AKP 313 von 539 Sitzen innehat und in dem die Gesetzesvorschläge von Recep Tayyip Erdogan daher bereits als angenommen gelten, bevor sie überhaupt diskutiert werden. Gerade in diesem Fall, so sind sich Beobachter einig, dürfte die Initiative tatsächlich vom Ministerpräsidenten höchstpersönlich gekommen sein. Denn Erdogan befindet sich in einem Krieg, für den er einen starken, nur ihm untergebenen Geheimdienst braucht: Es ist der Krieg mit der Bewegung des mächtigen Predigers Fetullah Gülen, der Erdogan von seinem Exil in den USA aus das Leben schwer macht. Die Videos und Telefonmitschnitte, die in den letzten Monaten immer wieder im türkischen Internet auftauchten und Korruption bis in höchste Regierungskreise beweisen sollen, werden Gülens Leuten zugerechnet.
    Orhan Kemal Cengiz: "Diese Geheimdienstreform kam auf, nachdem der Konflikt mit Gülen ausgebrochen ist. Und höchstwahrscheinlich wird sie dafür verwendet werden, die Bewegung anzugreifen", vermutet nicht nur der der bekannte Journalist und Menschenrechtsanwalt Orhan Kemal Cengiz, der sich schnell als einer der führenden Kritiker der Reform entpuppte.
    "Die Gülen-Bewegung ist für Erdogan zu einer Rechtfertigung für jeden undemokratischen Schritt geworden. Er behauptet immer wieder, es gäbe da eine Bande, die den Staat unterwandert hat. Und unter diesem Vorwand schränkt er die Freiheit der Menschen ein."
    Kriegserklärung an die Gülen-Bewegung
    Tatsächlich hatte der Ministerpräsident öffentlich angekündigt, dass der Kampf gegen Gülen erst begonnen habe. Am Abend der Kommunalwahlen am 30. März glich seine Balkonansprache denn auch eher einer Kriegserklärung als der Rede eines Politikers. Angesprochen, das wusste jeder in der Türkei, war Erdogans einstiger Weggefährte und heutiger Erzfeind, der Prediger Gülen samt seinen Anhängern.
    "Einige fliehen schon. Und von morgen an werden noch weitere wegrennen. Einige davon habe ich persönlich angezeigt. Von jetzt an werden wir sie bis in ihre Höhlen verfolgen. Wir werden die Rechnung fordern, sie werden bezahlen!"
    Ein Monat ist seit dieser Drohung vergangen. Von Anzeigen oder gar Gerichtsverfahren gegen Gülen und seine Anhänger war seitdem nicht wieder die Rede. Für Orhan Kemal Cengiz ein Beweis dafür, dass die legalen Methoden bisher einfach nicht ausreichten, um der Bewegung beizukommen. Es musste erst eine neue Waffe her. Eine Waffe, wie das neue Geheimdienstgesetz.
    "Es ist kein Zufall, dass der MIT jetzt so viel Macht erhalten hat. Hier möchte jemand ein Monster kreieren! Den Geheimdienstmitarbeitern wird mit dem Gesetz völlige Immunität gegenüber dem Recht verliehen. So etwas kann in einem demokratischen Staat niemals akzeptabel sein. Niemals!"
    Fethullah Gülen in einem Park
    Seine Anhänger sehen den Fethullah Gülen als einen "islamischen Gandhi". (Picture Alliance / dpa / Selahattin Sevi / Handout Zaman Da)
    Doch solche Kritik kommt zu spät. Nichts und niemand wird den türkischen Geheimdienst in Zukunft noch kontrollieren können. Selbst für Bombenattentate, Diebstahl oder Mord könnten seine Mitarbeiter in Zukunft nicht mehr belangt werden, wenn es Teil ihrer Arbeit ist, befürchten Kritiker. Ob das der Fall ist, entscheidet der Geheimdienst selbst. Kein Richter hat das Recht Anklage zu erheben, wenn die MIT-Führung es nicht ausdrücklich gestattet.
    Erdogan,sitzt fest im Sattel wie eh und je
    "In der Vergangenheit hatten Armeeangehörige solche Privilegien in der Türkei, auch sie waren auf eine Art immun. Wir dachten, dieser Zustand wäre überwunden. Aber nun wird wieder eine Struktur mit unglaublicher Macht und ohne irgendein Gegengewicht geschaffen. Das ist gefährlich, nein: beängstigend!"
    Das türkische Parlament hat das MIT-Gesetz am 17. April gebilligt. Die Unterschrift von Staatspräsident Gül – im vergangenen Jahr noch Hoffnungsträger einiger Reformer und Gezi-Demonstranten – erfolgte beinahe kritiklos. Und doch spricht Menschenrechtsanwalt Cengiz von einem "Frankensteingesetz", das einst auf die zurückfallen könnte, die es geschaffen haben. "Wenn die Regierung solche Schritte tut, dann in der Annahme, dass sie für immer an der Macht bleiben wird. Sie versucht, die Judikative zu kontrollieren, sie versucht den Geheimdienst selbst die Schlafzimmer ihrer Bürger überwachen zu lassen... Aber sie denkt nicht daran, dass ihre Leute selbst eines Tages Opfer dieser antidemokratischen Initiativen werden könnten."
    Dieser Tag aber, so scheint es, liegt zurzeit noch in weiter Ferne. Das hat nicht nur das Ergebnis der Kommunalwahlen im vergangenen Monat einmal mehr gezeigt: 45 Prozent der Stimmen erhielt die AKP im Landesdurchschnitt. Der Krieg mit Gülen, die Korruptionsvorwürfe, die Twitter-Sperre - nichts konnte ihre Wähler abschrecken, im Gegenteil: Erdogan, so scheint es, sitzt fest im Sattel wie eh und je. Mit dem neuen Geheimdienstgesetz dürfte er seine Macht nun sogar noch weiter ausbauen. Denn der gestärkte MIT mit seinem Chef Hakan Fidan – einem engen Vertrauten Erdogans – erlaubt es ihm in Zukunft noch besser, Kritiker und Störenfriede schon im Vorfeld zu erkennen und zu bekämpfen.
    Das Debattenkarussell im türkischen Parlament dreht sich inzwischen weiter, schon bestimmen andere Themen den politischen Alltag in Ankara. Einige wenige aber wollen den Widerstand gegen das neue Geheimdienstgesetz nicht aufgeben. Die Oppositionspartei CHP plant den Gang zum türkischen Verfassungsgericht. Dem Organ also, das Beobachter in diesen Tagen oft als letzte Bastion gegen Erdogans scheinbare Allmacht bezeichnen und auf dessen Einspruch sie nun einmal mehr hoffen. Denn längst geht es den Regierungsgegnern um mehr als um eine Geheimdienstreform. Spätestens seit der Niederschlagung der Gezi-Proteste im vergangenen Sommer taucht in ihren Diskussionen immer öfter das Wort vom Überwachungsstaat auf. "Türkei 1984" hieß nicht zufällig eine Titelgeschichte der Tageszeitung Radikal – eine der wenigen, die es noch wagen, die Erdogan-Regierung zu kritisieren.
    Die Verkaufszahlen von "1984" sind explodiert
    Der britische Schriftsteller George Orwell.
    George Orwells Roman "1984" ist in der Türkei ein Bestseller. (AP)
    Ein Besuch in einer Istanbuler Buchhandlung zeigt, dass es nicht nur die Chefredakteure der "Radikal" sind, die sich in diesen Zeiten an die Lektüre von George Orwells Zukunftsroman "1984" erinnern: "Die Verkaufszahlen von 1984 sind seit der Geheimdienstdebatte explodiert", erklärt Buchhändler Firat, der in seinem Geschäft für ausländische Literatur zuständig ist und in normalen Zeiten eher zu wenig als zu viel zu tun hat. "Das Buch geht weg wie nichts im Moment. Früher haben wir vielleicht eins am Tag verkauft, jetzt mindestens fünf. Von Woche zu Woche werden es mehr. Wenn Sie mich fragen, wird die Nachfrage weiter steigen."
    Und tatsächlich: Noch während Buchhändler Firat spricht, kommt eine Kundin zielstrebig auf das Regal mit den Orwell-Werken zu, trägt die vorerst letzte Ausgabe von "1984" zur Kasse. Firat lächelt triumphierend. Nachschub ist bereits bestellt.
    Fußballfans, die Spieltickets kaufen, Schwangere, die zur Voruntersuchung gehen, Kunden, die ein einfaches Prepaid-Handy kaufen wollen. Kaum etwas können türkische Bürger heute noch tun, ohne ihre kompletten Personalien anzugeben und zentral abspeichern zu lassen. Nur wenige Wochen ist es her, dass der Vorsitzende des Gynäkologenverbandes öffentlich beklagte: Abtreibungen seien zwar offiziell noch erlaubt in der Türkei. Durch die zentrale Erfassung jeder Schwangeren aber faktisch unmöglich, ohne unangenehme Nachfragen zu provozieren. Immer mehr seiner Kollegen würden die Eingriffe inzwischen aus Angst ablehnen. Noch besorgniserregender klingt für viele der geplante "Venenabdruck", der in Zukunft über die Gesundheitsakte jedes türkischen Bürgers Auskunft geben soll. Trinkt jemand regelmäßig Alkohol? Wie oft war eine Frau schwanger? Welche Medikamente benutzt wer? Schon bald soll der Venenabdruck zur Bedingung für die Mitgliedschaft im staatlichen Versicherungssystem werden.
    Es verschwindet, was der Regierung schaden könnte
    Details wie aus einem Horrorfilm sind das für Gürkan Özturan, Mitglied der türkischen Piratenpartei. Besonders gegen das neue Internetgesetz, das die Regierung im Februar erließ, gingen er und zahlreiche seiner Kollegen wochenlang auf die Straße. Vergeblich.
    "Freie Meinungsäußerung wird sowieso immer mehr zum Problem in der Türkei. Durch dieses Gesetz erreichen wir eine neue Dimension", klagte der Internetexperte, als das Gesetz gerade das Parlament passiert hatte. Innerhalb von Stunden darf
    . Ohne richterlichen Beschluss verschwindet damit vor allem all das aus dem türkischen Netz, was der Regierung schaden könnte. Bis zu zwei Jahre werden die Daten aller türkischen Internetnutzer außerdem ab sofort gespeichert.
    Es gehe um den Schutz von Familie, Kindern und Jugend, rechtfertigte die Regierung das Gesetz – das nach einhelliger Meinung von Beobachtern tatsächlich vor allem dazu dienen soll, die zuletzt dutzendfach aufgetauchten Telefonmitschnitte von angeblichen Gesprächen unter Erdogan-Vertrauten verschwinden zu lassen. Die Türkei sei nicht China und würde das Internet niemals wie China zensieren, beteuerte Regierungssprecher Celik gegenüber Kritik aus dem In- und Ausland. Gürkan Özturan jedoch fürchtet genau das: "Wer sich wo eingeloggt hat, was er getan hat, wie lange er auf welcher Seite war, welche Themen ihn interessieren... All diese Informationen zu sammeln bedeutet, dass die Menschen ständig verfolgt werden. Das gleicht einem Überwachungsstaat."
    5.500 hochauflösende Kameras gibt es inzwischen allein in Istanbul
    Nicht weit entfernt von dem Café, in dem Gürkan Özturan vor seinem Laptop sitzt und versucht, sich durch Antivirusprogramme und Proxyseiten vor unerwünschten Verfolgern im Netz zu schützen, steht ein junger Mann in Jeans und Lederjacke auf dem nachmittäglich überlaufenen Taksim-Platz.
    "Ich stehe hier als einfacher Bürger. Aber über all die Kameras rundherum, können sie mir dabei zusehen." Serhat Koc – Anwalt und ebenfalls Mitglied der Istanbuler Piratenpartei – legt den Kopf in den Nacken, schaut zu den Kameras auf, die den Taksim-Platz und den angrenzenden Gezi-Park seit letztem Sommer rund um die Uhr überwachen.
    "Sehen Sie, dort ist eine, und dort noch eine... Wer auch immer am anderen Ende sitzt, kann sehen, dass ich hier gerade interviewt werde. Sie haben eine Gesichtserkennungssoftware. Wenn sie wollen, können sie ganz schnell herausfinden, wer wir sind. Was wir hier tun, ist a
    Demonstranten am Taksim Platz in Istanbul
    Demonstranten am Taksim Platz in Istanbul (picture alliance / dpa / ABACA)
    bsolut nicht verboten. Aber sie wollen einfach diese ständige Furcht verbreiten: Du wirst beobachtet, wir haben ein Auge auf dich."
    Mehr als 5.500 dieser hochauflösenden Kameras gibt es inzwischen allein in Istanbul– zusätzlich zu den unzähligen gewöhnlichen, die dazu dienen, den Verkehr der Millionenmetropole zu überwachen. Auf Plätzen und Bosporusfähren, an Bushaltestellen und in Fußgängerzonen - fast überall lauert ein elektronisches Auge. Hinzu kommen mehr als 100.000 privat installierte Geräte.
    Überwachungskameras - das gefällt vielen Bürgern
    "Denen können Sie gar nicht entkommen. Wenn Sie ins Hotel gehen, dann ist da eine – im Shoppingcenter genauso wie im Café... Sehen Sie, dort ist eine am Eingang zum Burger King. Und jede Bank hat ja sowieso eine. Jeder Zentimeter dieser Shoppingstraße hier wird aufgenommen. Egal ob Läden, Büros oder Cafés – alles wird überwacht!"
    Doch was dem Piraten Serhat Angst macht, gefällt den meisten Passanten, die an diesem Tag über den Taksim-Platz spazieren. Und das, obwohl Istanbul in der Liste der sichersten Großstädte weit vor Metropolen wie London, Paris oder Berlin rangiert.
    "Ich finde, es sollte noch mehr Kameras geben. Es passiert so viel. So lässt sich wenigstens herausfinden, wer Schuld ist. Und es wirkt abschreckend. Wenn ich einen Laden ausrauben will, dann bestimmt nicht vor einer Kamera. Und wenn ich mich streiten will, dann ziehe ich jedenfalls kein Messer, wenn ich weiß, dass ich dabei beobachtet werde."
    Es sind Worte wie diese – genau wie die Tatsache, dass der Markt für Überwachungstechnologie in der Türkei jedes Jahr um satte 20 Prozent wächst – die auf eine weitverbreitete Mentalität in der Türkei hinweisen. Eine Mentalität, die der Anwalt Orhan Kemal Cengiz als "Blindes Staatsvertrauen" bezeichnet und die dazu führt, dass auch das von ihm so heftig kritisierte neue Geheimdienstgesetz in der breiten Bevölkerung kaum auf Ablehnung stieß. Im Gegenteil. Mit ihren Reden von einer starken Türkei, die einen starken Geheimdienst verdiene, konnte die Regierung viele Bürger beeindrucken.
    Wir passen tatsächlich nicht zur EU
    Die kritischen Diskussionen in diesen Tagen erreichen höchstens einen Bruchteil der türkischen Gesellschaft. Auch Piratenparteimitglied Serhat Koc weiß das nur zu gut: "Wir bohren immer wieder nach: Ist euch klar, dass ihr beobachtet werdet? Aber wir dringen kaum durch. Die Leute sind sich dessen sogar bewusst. Aber sie finden es einfach ganz normal. Sie sagen: Was ist schon dabei, wenn einer meine Nachrichten mitliest oder meine Internetdaten speichert? Es schadet ja keinem."
    Die staatliche Telekommunikationsbehörde darf unliebsame Webinhalte aus dem Verkehr ziehen.
    Die staatliche Telekommunikationsbehörde darf unliebsame Webinhalte aus dem Verkehr ziehen. (picture alliance / dpa / Oliver Berg)
    Auch Oppositionsführer Kılıcdaroğlu versuchte mit seiner Rede die vielen Bürger aufzurütteln, die in diesen Tagen nur mit den Schultern zucken.
    "Einige in der EU sagen heute, es gäbe keine Gerechtigkeit bei uns, Korruption würde vertuscht. Sie sagen: Sorry, ihr passt nicht in unsere Standards. Und kann ihnen irgendjemand widersprechen? Nein. Denn wir passen tatsächlich nicht! Bei alldem aber gibt es Institutionen, die trotzdem einfach schweigen: die Universitäten! Ich frage: Wenn jetzt nicht die Zeit ist, um den Mund aufzumachen, wann dann?
    Gerade nach dem erneuten Wahlsieg vom vergangenen Monat haben viele Kritiker resigniert, so scheint es. Das neue Geheimdienstgesetz sorgte selbst bei ihnen nur noch für müdes Abwinken. Ein Fehler, warnt Anwalt Orhan Kemal Cengiz. Er will den Kampf nicht aufgeben, formuliert seine Zeitungskolumnen bissig wie eh und je. Trotz der Tatsache, dass die Türkei inzwischen zu den Ländern mit den meisten inhaftierten Journalisten gehört.
    "Die Weltgeschichte lehrt uns: Wann immer in einem Staat Inseln für den Missbrauch geschaffen werden, dann werden sie auch genutzt. Jedes Mal, ohne Ausnahme! Vielleicht erscheint den Leuten das neue Geheimdienstgesetz heute noch zu abstrakt. Aber bald, wenn die ersten Verhaftungen stattfinden, dann werden sie es bemerken."