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Türkei
Umstrittene Integration syrischer Flüchtlinge

Ein neues Gesetz der AKP-Regierung sieht vor, dass jeder Syrer, der auf legalem Wege in die Türkei eingereist ist, Zugang zum Arbeitsmarkt erhalten soll. Hunderttausende könnten davon profitieren. Doch des einen Freud ist des anderen Leid.

Von Luise Sammann | 01.12.2014
    Munir aus Aleppo hat es geschafft! Ein Job in der Türkei – das bedeutet für den jungen Architekten etwa so viel wie ein Sechser im Lotto. Nach zwei Jahren im südtürkischen Gaziantep hatte Munir gerade seine Rückkehr nach Syrien beschlossen. Gefahr hin oder her, die Ersparnisse der fünfköpfigen Familie waren aufgebraucht. Zuletzt mussten gar die einzigen Ohrringe der Schwester zum türkischen Juwelier, um dafür Reis, Bulgur und Öl kaufen zu können.
    "Ich habe überall vorgesprochen, aber das Erste, was mir die Leute sagten, war: Du bist kein Türke, du kannst hier nicht arbeiten."
    Die Stelle, die Munir schließlich über Bekannte in einem Architekturbüro fand, ist illegal. Keine Krankenversicherung, keine Rente – aber ein Lohn von knapp 300 Euro im Monat, der ihm und seiner Familie das Leben rettet.
    Munirs neuer Chef zuckt mit den Schultern. Wenn er könnte, sagt er, würde er gern noch mehr syrische Architekten einstellen. Aber das Risiko ist groß.
    "Wir restaurieren häufig historische Stätten. Darin sind die Syrer viel besser als wir, weil sie bis heute viel mit Stein arbeiten. Bei uns dagegen ist alles nur noch Beton. Das Wissen dieser Leute können wir also gut gebrauchen. Aber ich kann ja noch nicht mal ihre Löhne als Kosten angeben. Und weil sie keine Versicherung haben, können wir sie für bestimmte Arbeiten sowieso nicht einsetzen."
    7.000 Lira Strafe, gut 2.000 Euro, müsste Munirs Chef zahlen, sollten die türkischen Behörden ihm auf die Spur kommen. Ein Risiko, dass die wenigsten Arbeitgeber eingehen wollen. Und wenn doch, dann soll es sich wenigstens lohnen: Gerade aus großen Städten wie Istanbul oder Gaziantep sind Fälle bekannt, in denen Syrer für wahre Hungerlöhne und zu ungleich schlechteren Arbeitsbedingungen als ihre türkischen Kollegen schuften. Beschweren können sie sich nicht.
    All das soll sich nun ändern. Ein neues Gesetz der AKP-Regierung sieht vor, dass jeder Syrer, der auf legalem Wege in die Türkei eingereist ist, Zugang zum Arbeitsmarkt erhalten soll. Hunderttausende könnten davon profitieren. Doch des einen Freud ist des anderen Leid.
    Der Mann im bunt gestreiften T-Shirt sieht eigentlich nicht aus wie einer, der regelmäßig in ein Mikrofon spricht. Heute aber tut er es. Und er spricht nicht, er schreit.
    "Unser Problem ist, dass die türkischen Arbeiter in der Türkei schon jetzt von Syrern verdrängt werden. Nur, wenn du bereit bist, für noch weniger Geld zu arbeiten als die, dann kriegst du noch einen Job. Aber wenn morgen jemand noch billiger ist, dann feuern sie dich wieder."
    Der wütende Fabrikarbeiter weiß, wovon er spricht. Er und die knapp 100 Männer, die im Hof einer Schuhfabrik im westtürkischen Izmir demonstrieren, haben es am eigenen Leib erlebt. Von einem Tag auf den anderen waren sie ihre Jobs los. Denn, so ihre einzige Erklärung, billige Arbeitskräfte gibt es mehr als genug, seit die inzwischen fast 2 Millionen Syrer ins Land gekommen sind.
    "Wir haben kein Problem mit den Syrern an sich",
    stellt einer der Arbeiter klar.
    Aber wenn sie nicht wären, wäre unsere Arbeit wieder mehr wert. So nehmen sie uns die Jobs weg. Wenn wir Türken jetzt zu Opfern werden, was bringt es dann, wenn unser Land den Syrern hilft?
    Noch sind Demonstrationen wie diese die Ausnahme in der Türkei, deren Bürger sich bisher auffallend gastfreundlich gegenüber dem nicht endenden Strom an syrischen Flüchtlingen gezeigt haben. Immer häufiger aber kippt die Stimmung nun.
    Denn ausgerechnet in einer Zeit, in der das Gespenst einer drohenden Wirtschaftskrise umgeht und die türkischen Arbeitslosenzahlen steigen, will die AKP-Regierung den Syrern helfen. Zwar ist von Mindestlohn und maximal 10 Prozent Syrer-Anteil pro Betrieb die Rede. Doch die lautstarken Kritiker beruhigt das kaum. Schon jetzt hätten die syrischen Billigarbeitskräfte das soziale Gefüge im Land zerstört, wettert die größte Oppositionspartei CHP.
    "Die offizielle Arbeitslosenquote liegt bei zehn Prozent. Die der Akademiker gar bei knapp 18",
    bemerkt ihr Abgeordneter Haluk Koc.
    "Da müssen wir doch zuerst an unsere eigenen Bürger denken!"
    Das sehen viele Türken ähnlich. Und nicht alle drücken sich dabei so zurückhaltend aus. Architekt Munir aus Gaziantep ist nicht der einzige Syrer, der in den letzten Monaten auf der Straße beschimpft und gar angespuckt wurde. Nach beinahe vier Jahren Krieg im Nachbarland sind Geduld und Gastfreundschaft vieler Türken am Ende.