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Türkisches "Immunitätsgesetz"
Die entscheidende Abstimmung

Das türkische Parlament will heute über den Entzug der Immunität von knapp einem Viertel seiner Abgeordneten entscheiden. Die islamisch-konservativen Regierungspartei AKP strebt dazu eine befristete Verfassungsänderung an. Besonders massiv würde es die prokurdische HDP treffen. Dem Großteil ihrer Abgeordneten drohen dann lange Haftstrafen.

Von Reinhard Baumgarten | 20.05.2016
    Viele Abgeordnete im Parlament in Ankara heben bei einer Abstimmung die Hand.
    Am Ende der ersten Abstimmungsrunde hatten am Dienstag zu wenige Abgeordnete da­für gestimmt, die parlamentarische Im­munität von 138 Abgeordneten vorüber­ge­hend aufzuheben. (AFP PHOTO / ADEM ALTAN)
    Die Fronten vor der entscheidenden Abstimmung sind klar: "So Gott will, wird die zweite Runde zur Aufhebung der Immunität am Freitag stattfinden und dann von der Tagesordnung der Türkei verschwinden", gibt sich der AKP-Abgeordnete Bülent Turan zuversichtlich. Die wirklichen Probleme würden erst beginnen, wirft HDP-Chef Selahattin Demirtaş mahnend ein: "Die Aufhebung der Immunität führt zum Staatstreich und einem diktatorischen Regime."
    Abgeordneten drohen langjährige Gefängnisstrafen
    367 Stimmen sind notwendig. Am Ende der ersten Abstimmungsrunde mit drei Wahlgängen hatten am Dienstag 357 Abgeordnete dafür gestimmt, die parlamentarische Immunität von 138 Abgeordneten vorübergehend aufzuheben. Besonders massiv würde es die prokurdische HDP treffen. 50 von 59 HDP-Volksvertretern würde nach dem Verlust ihrer parlamentarischen Immunität Strafverfolgung und bei einer rechtskräftigen Verurteilung langjährige Gefängnisstrafen drohen sowie der Verlust ihres Abgeordnetenmandats. Sollte es dazu kommen, warnt der Publizist Mustafa Akyol, könnte das schwerwiegende Folgen für das Land haben. "Aus Sicht der Kurden ist das ein Desaster, weil es wahrscheinlich mehr Kurden davon überzeugen wird, dass der türkische Staat ihnen keine politische Repräsentanz zugesteht und dass die bewaffnete Lösung auch die einzige Lösung ist. Auf der kurdischen Seite wird dadurch alles militanter."
    Mehr als 4600 PKK-Guerillas und 450 Sicherheitskräfte sollen Regierungsangaben zufolge seit Ende Juli vergangenen Jahres getötet worden sein. Damals erklärten beide Seiten den gut zweieinhalb Jahre zuvor vereinbarten Waffenstillstand für beendet. Beide Konfliktparteien seien bereit, den de facto Krieg in Teilen Südostanatoliens weiter zu eskalieren, meint Mustafa Akyol, der bis vor kurzem noch als glühender Anhänger Erdoğans und dessen AKP galt: "Die Logik dahinter ist: Die Türkei kann viele Soldaten, Polizisten und Zivilisten verlieren. Aber die andere Seite wird mehr verlieren. Am Ende, so glauben sie in der AKP, werden sie die PKK zerstören und das Problem beenden."
    AKP: Verfassungsänderung im Alleingang?
    Insgesamt haben Staatsanwälte belastendes Material für 667 Strafprozesse gesammelt. Die Vorwürfe lauten unter anderem auf Unterstützung einer terroristischen Vereinigung, Volksaufwiegelung, Amtsmissbrauch, Beleidigung und Körperverletzung. Würden derart viele HDP-Abgeordnete ihr Mandat verlieren, hätte das folgenschwere Auswirkungen auf die Zusammensetzung des Parlaments, erläutert Publizist Akyol: "Präsident Erdogan will die Verfassung ändern, aber es fehlt an den nötigen Stimmen im Parlament. Das könnte der magische Wurf sein, um die nötige parlamentarische Arithmetik zu erreichen, damit die Verfassung geändert werden kann."
    Denn laut Verfassung müssten die möglichweise bis zu vier Dutzend freiwerdenden HDP-Sitze durch eine Nachwahl neu besetzt werden. Eine verfemte und politisch enthauptete prokurdische HDP hätte wohl kaum Chancen, ihre Wahlerfolge vom vergangenen Jahr zu wiederholen. Die AKP könnte genügend Parlamentssitze bekommen, um eine Verfassungsänderung im Alleingang auf den Weg zu bringen.