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Tunesien
"Es ist, als wäre die Revolution mit ihm gestorben"

Mohamed Bouazizi gilt als Auslöser des Arabischen Frühlings: Vor fünf Jahren zündete sich der tunesische Gemüseverkäufer aus Protest gegen die Willkür des Staates selbst an und starb wenig später. Seitdem hat Tunesien viele Reformen auf den Weg gebracht. Doch bis heute herrscht Verzweiflung über fehlende Perspektiven. Und auch Selbstverbrennungen gibt es noch immer. Viele.

Von Alexander Göbel | 17.12.2015
    Ein kleines Mädchen sitzt auf den Schultern eines Mannes und hat in beiden Händen kleine tunesische Flaggen. Im Hintergrund ist an einer Hauswand ein großes Porträt von Mohamed Bouazizi zu sehen.
    Bouazizi ist immer noch präsent im Stadtbild von Sidi Bouzid. Zum fünfjährigen Jahrestag der Revolution in Tunesien ist ist Vielen nicht zum Feiern zumute. (dpa/picture alliance/epa)
    Begraben ist Mohamed Bouazizi auf einem Friedhof weit vor den Toren von Sidi Bouzid. In der Stadt lebt die Erinnerung an ihn. Ein großes Fotoplakat über dem Gebäude der Post zeigt Mohamed wie er schüchtern lächelt, bei einer Hochzeitsfeier, kurz vor seinem Tod.
    Auf dem Dach des Rathauses wehen frische tunesische Fahnen, ein paar Männer bauen eine kleine Bühne auf. Doch zur Gedenkfeier für den berühmten Märtyrer von Sidi Bouzid kommen jedes Jahr weniger Menschen. Nicht einmal Polizisten werden dafür noch abgestellt. Mohameds Cousin Hichem Amor Kallel steht vor dem verlassenen Haus der Bouazizis.
    "Hier hat Bouazizi gewohnt. Er war wie ein Bruder. Ich habe ihm die Haare geschnitten, noch wenige Tage, bevor er sich angezündet hat. Nach seinem Tod war das Gedenken an ihn noch eine große Sache. Aber jetzt ist nichts mehr los in Sidi Bouzid."
    Mohameds Mutter floh vor den Erinnerungen - und vor der Misere im Land
    Der Platz, auf dem Mohamed Bouazizi sich vor fünf Jahren selbst verbrannte, ist inzwischen nach ihm benannt. Hier steht auch eine einsame Bronzeskulptur seines Gemüsewagens. Mit einem solchen Karren aus Holz ist er damals als fliegender Händler unterwegs, um für seine Familie Geld zu verdienen. Bis die Polizei seine Ware beschlagnahmt, bis er von Beamten misshandelt wird - und die Demütigungen seines Lebens in bitterer Armut einfach nicht mehr erträgt. Das Volk erhebt sich, fegt Diktator Ben Ali aus dem Land. Fünf Jahre danach ist Bouazizis Cousin Hichem aber nicht zum Feiern zumute. Trotz Verfassung, trotz Demokratie.
    "Bouazizi mag das Symbol der Revolution sein, des neuen Tunesien. Aber es ist, als wäre diese Revolution damals auch gleich mit ihm gestorben."
    Mohameds Mutter sei nach Kanada gegangen, sagt Hichem. Sie sei vor der Erinnerung geflohen, und auch vor der Misere im Süden Tunesiens. Der neue Bürgermeister von Sidi Bouzid beteuert, bald werde das neue Investitionsprogramm der Regierung starten, mit dem Bau der Autobahn nach Tunis zum Beispiel solle es 2017 losgehen – "inchallah", sagt er, so Gott will. Doch wie überall in der Region wurden auch in Sidi Bouzid die Hoffnungen der Menschen schon zu oft enttäuscht.
    "Es gibt einfach keine Jobs, gar nichts gibt es hier", sagt der 32-jährige Mohamed Salah. "Ich gehe betteln und lebe von der Hand in den Mund. Manchmal gibt mir jemand einen Dinar, das sind nicht mal 50 Eurocent. Sogar unter Ben Ali ging es uns hier besser als heute."
    "Wenn wieder eine Revolution kommt, mache ich es wie Bouazizi"
    Straßenhändler gibt es immer noch in Sidi Bouzid. Sie verkaufen Obst, Gemüse, geschmuggelte Zigaretten aus Libyen - weil es sonst keine Perspektiven gibt. Smaïn ist 26 Jahre alt - so wie Bouazizi damals, als er starb.
    "Um zwei Uhr morgens muss ich mich auf dem Großmarkt eindecken, damit ich tagsüber frische Ware verkaufen kann. Wenn es gut läuft, verdiene ich rund zehn Dinar am Tag, das sind keine fünf Euro. Aber dann kommt oft ein Polizist vorbei und kassiert Bestechungsgeld.
    "Ich bin 20, finde keinen anderen Job", ergänzt Smaïns Freund Atef. "Aber ständig kommen die Behörden und verlangen Geld. Weißt Du, wir brauchen bald wieder eine Revolution. Aber oh, ob ich die erlebe - ich werde es machen wie Bouazizi."
    Mohamed Bouazizi war nicht der Erste, der sich in Tunesien mit Benzin übergossen und angezündet hat. Aber auch nicht der letzte. Seit seinem Tod vergeht kaum ein Monat, ohne dass sich ein verzweifelter junger Mensch auf diese Weise tötet. Bis heute sind es in Tunesien weit mehr als zweihundert.