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Tunesien
Wie die junge Demokratie am Terror erstickt

Sie sind hoffnungslos und fühlen sich von ihrer Regierung vergessen: Immer mehr junge Tunesier schließen sich dem IS an - etwa 3.000 kämpfen bereits in den Reihen der Terrormiliz. Der Grund: Sie sehen für sich keine Perspektive mehr in ihrer Heimat Tunesien. Einem Land, das immer häufiger selbst zum Ziel der Terroristen wird.

Von Elisabeth Lehmann | 28.11.2015
    Sicherheitskräfte halten in der Nähe des Anschlagsortes Angehörige zurück. Im Hintergrund sind Krankenwagen zu sehen.
    12 Tote und mindestens 16 Verletzte: Das ist die Bilanz des jüngsten Anschlags in Tunesien. In der Hauptstadt Tunis explodierte ein Bus mit Mitgliedern des Sicherheitsdienstes des tunesischen Präsidenten. (AFP / Fethi Belaid)
    Salem Ben Said ist sauer. Der alte Mann steht in seiner Lehm-Hütte, davor ein Tisch mit Souvenirs. Eingerahmte Skorpione, Ketten, Kühlschrankmagneten. Doch keiner kauft sie. Es kommt kaum noch jemand nach Mos Espa im Südwesten Tunesiens – dabei wurde hier doch das Fantasy-Epos "Star Wars" gedreht. Früher eine Attraktion:
    "Ich arbeite seit über 30 Jahren im Tourismus. Aber so etwas wie jetzt habe ich noch nie erlebt. Unter den früheren Machthabern Bourgiba und Ben Ali ging es uns immer gut."
    Doch nun hat Tunesien ein Problem mit dem Terror. In dieser Woche hat es die Präsidentengarde getroffen. Schmerzhafter für das Land sind die Anschläge auf Touristen. Im März töten drei Bewaffnete im Bardo-Museum in Tunis 22 Ausländer, im Juni erschießt ein 24-jähriger Tunesier 38 Menschen am Strand von Sousse. Vor allem Briten.
    Seitdem haben viele europäische Regierungen Reisewarnungen herausgegeben. Und zwar für ganz Tunesien, also auch für Mos Espa, 400 Kilometer südlich von Sousse. Für Souvenirhändler Ben Said unverständlich:
    "Früher hatten wir 100, 150 Autos am Tag. Jetzt sind wir froh, wenn fünf kommen. Dabei ist doch bei uns nie etwas passiert. Kein Tourist wurde je angegriffen."
    Noch nie ging es dem Tourismus in Tunesien so schlecht
    6,5 Prozent der tunesischen Wirtschaft hängen vom Tourismus ab, 400.000 Tunesier arbeiten in dem Sektor. Und noch nie ging es ihm so schlecht. Vor allem die Küstenregionen leiden. Im Landesinneren hingegen hatten sie sowieso noch nie viel vom Geld, das die Badeorte erwirtschaftet haben.
    Sidi Bouzid ist eine typische Kleinstadt in der tunesischen Provinz. Eine Hauptstraße, rechts und links davon Cafés, die schon am Vormittag voll sind mit jungen Männern. Sie haben sonst nichts zu tun.
    "Wenn der Staat den Terror schwächen will, dann sollte er sich mehr um solche Regionen wie unsere kümmern – bevor es zu spät ist."
    Khaled Aouainia ist Anwalt. Von seiner Kanzlei aus hat er Blick auf die Stadtverwaltung von Sidi Bouzid. Dort hat sich vor fünf Jahren der junge Händler Mohammed Bouazizi angezündet und damit einen Flächenbrand in der Region entfacht. Eine Gemüsekarre aus Stein erinnert heute an ihn.
    Geändert habe sich seitdem nichts, sagt Aouainia. Er habe die Regierung darum gebeten, eine medizinische Fakultät in Sidi Bouzid zu eröffnen. Vergeblich. Am Ende wurde sie in einem Küstenort gebaut. Die jungen Menschen im Landesinneren langweilten sich und fühlten sich vergessen, erzählt Aouainia:
    "Ich kenne Leute, die sich islamistischen Terrorvereinigungen angeschlossen haben, obwohl sie keinerlei Bezug zur Religion hatten. Sie sind diesen Weg nur aus Rache gegangen, aus Hoffnungslosigkeit. Der Staat ist in unserer Region abwesend. Deswegen sind viele hier nach Syrien oder Libyen gegangen."
    Der Terror-Tourismus der jungen Tunesier
    Laut Schätzungen kämpfen etwa 3.000 junge Tunesier in den Reihen der Terrormiliz IS. Mehr als aus jedem anderen Land der Region. Doch unter ihnen sind keineswegs nur Arme und Ungebildete. Hamsa Iqbal wollte auch dazugehören. Der IT-Experte machte sich 2013 auf den Weg nach Syrien. Doch er wurde schnell zurückgeschickt, denn Hamsa sitzt im Rollstuhl. Für seinen Bruder Mohammed Iqbal ein Weckruf. Er wollte etwas gegen den Terror-Tourismus tun und hat die Organisation "Ratta", "Initiative zur Rettung im Ausland verschollener Tunesier", gegründet:
    "Die Jugendlichen sind meist zwischen 18 und 27 Jahren alt. Wir haben beobachtet, dass viele von ihnen Naturwissenschaften studieren. Ich kenne einen Fall von einem Jungen, der im letzten Jahr seines Studiums zum Flugzeugingenieur war."
    Iqbal ist der Ansicht, dass die jungen Männer einer Art Gehirnwäsche unterzogen werden. Ihre Familien seien meist vollkommen machtlos. Rund 150 haben sich an ihn gewendet auf der Suche nach Hilfe. Doch viel kann Iqbal nicht machen:
    "Unsere Möglichkeiten sind begrenzt. Wir versuchen, den jungen Menschen zu verdeutlichen anhand von Beispielen, die wir kennen, welche Auswirkungen es auf sie und ihre Familien hat, wenn sie zum IS reisen."
    Doch selbst wenn sie wieder nach Tunesien kommen: Viele der Rückkehrer sind danach radikaler als je zuvor. So war es auch im Fall des Attentäters von Sousse.
    Souvenirhändler Ben Said hat endlich Kundschaft. Ein Ehepaar aus Frankreich, große Star-Wars-Fans. Bedenken, nach Mos Espa zu kommen, hatten Francoise und Yvonne Boisson keine:
    "Es gab Attentate in Spanien, Großbritannien, den USA, Kanada und Frankreich. Aber keiner hat gesagt, die Touristen sollen diese Länder meiden. Die Menschen fahren nach wie vor nach London oder Paris. Warum sollte denn ausgerechnet Tunesien unter diesem Terror leiden?"
    Für die beiden Franzosen ist das ihr Beitrag zu Tunesiens Zukunft. Damit die junge Demokratie nicht schon am Anfang scheitere.