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Tunesien fünf Jahre nach der Revolution
Die Last der Freiheit

Auch fünf Jahre nach dem Sturz von Diktator Ben Ali ist Tunesiens Politik nicht in der Lage, die Hoffnungen der Menschen einigermaßen zu erfüllen. Deren wirtschaftliche Lage hat sich sogar verschlechtert, zahlreiche Tunesier sind arbeitslos. Und in den Ministerien? Dort sitzen noch immer die Beamten des alten Regimes.

Von Jens Borchers | 17.01.2016
    Tunesier beklagen ihre Verwandten, die während des sogenannten Arabischen Frühlings ums Leben kamen.
    Tunesier beklagen ihre Verwandten, die während des sogenannten Arabischen Frühlings ums Leben kamen. (Mohamed Messara, dpa picture-alliance)
    14. Januar 2011. Über die Avenue Bourghiba in Tunis hallen die Sprechchöre der Demonstranten. Sie wollen Ben Ali in die Wüste schicken. Sie wollen den Diktator loswerden, der 24 Jahre lang Tunesien dominiert hat. Mithilfe seines riesigen Sicherheitsapparates. An diesem 14. Januar 2011 ist auch Souha Ben Othman auf der Straße. Sie studiert Jura. Sie ist in einer Oppositionspartei engagiert, in der demokratischen Fortschrittspartei. Souha Ben Othman erinnert sich an die Demonstration auf der Avenue Bourghiba.
    "Der 14. Januar – das war beeindruckend. Ich bin nach Tunis gekommen und war platt. Zuerst waren nicht viele Leute da. Und ich dachte, naja, das wird das Übliche: Nichts wird sich ändern. Es kommen etwa 100 Leute, man wird herumschreien, sich unterhalten, sich verstecken und dann wieder nach Hause gehen. Und dann wird es das gewesen sein. Aber dann wurde es unglaublich. Es wurde immer voller und voller. Irgendwann habe sie das Ende der Avenue Bourghiba nicht mehr sehen können – so viele Menschen waren da."
    So viele Menschen, die das Ende der Diktatur herbeischreien wollen. Vier Wochen lang gab es schon Demonstrationen überall im Land. Der Herrscher Ben Ali ließ die Protestierer verprügeln und mit Tränengas traktieren. Und er ließ sogar auf sie schießen. Und trat dann, als die Proteste nicht nachlassen wollten, am Abend vor diesem 14. Januar noch einmal im Staatsfernsehen auf. Es sollte Ben Alis letzter Versuch sein sich und sein Regime zu retten.
    14. Januar 2011: Nach der Fernsehansprache, in der Tunesiens Präsident Ben Ali Reformen versprochen hatte, jubeln Unterstützer in Tunis
    14. Januar 2011: Nach der Fernsehansprache, in der Tunesiens Präsident Ben Ali Reformen versprochen hatte, jubeln Unterstützer in Tunis (AP)
    "Meine Trauer ist sehr groß und sehr tief. Die Waffen müssen schweigen. Wir müssen uns alle gemeinsam eine Chance geben. Der Weg ist noch weit."
    Souha Ben Othman, die junge Jurastudentin, erinnert sich auch an das, was ihr der Vorsitzende ihrer Partei, der linken demokratischen Fortschrittspartei, am Anfang dieser Revolutionswoche gesagt hat:
    "Parteichef Najib Chebbi kam von einem Treffen mit Ben Ali in dessen Palast zurück und sagte zu uns: 'Ben Ali ist fertig!' Warum, haben wir ihn gefragt. Und er antwortete: Das ist das erste Mal, dass Ben Ali uns Oppositionelle in den Palast gerufen hat. Dass er gesagt hat, ich muss mit euch reden, wir müssen eine gemeinsame Lösung finden. Das hat er noch nie getan."
    "Wir konnten es nicht fassen, dass Ben Ali weg war"
    Und er sollte es auch nie wieder tun. Die Demonstranten an diesem 14. Januar werden wieder von Sicherheitskräften brutal angegriffen.
    Schüsse fallen, Tränengas-Granaten fliegen. Die Demonstranten wehren sich mit Steinen. Irgendwann ist es vorbei. Eine bleierne Stille legt sich über Tunis. Das erzählen Menschen, die damals dabei waren. Als sie das Staatsfernsehen einschalten, kommt die Nachricht: Diktator Ben Ali hat das Land verlassen. Souha Ben Othman will es erst gar nicht glauben.
    "Die Nachricht lautete: Ben Ali ist weg. Mohamed Ghannouchi, das war damals der Premierminister, sagte im Fernsehen: Ben Ali ist weg, er ist ausgereist. Wir konnten es nicht fassen, dass Ben Ali weg war."
    Erst am Tag darauf reagieren die Demonstranten auf der Straße.
    "Tunesien ist frei", rufen sie. Und: "Wir haben keine Angst!"
    Souha Ben Othman erlebt die Tage danach mit gemischten Gefühlen. Alles ging so schnell. So unerwartet. Und anscheinend hatte niemand einen Plan für ein Tunesien ohne den Diktator Ben Ali und seine profitgierige Familie:
    "Man hatte nicht gedacht, dass es eine Revolution geben würde. Man hatte nicht gedacht, dass Ben Ali gehen würde. Und plötzlich, am 16. Januar, wusste keiner wie es weiter gehen soll. Das heißt: Alle Oppositionsparteien hatten keine Ahnung, was sie jetzt tun sollten. Sie hatten gedacht, sie bleiben in der Opposition."
    Ähnlich überrascht ist das Ausland. Viele Regierungen hatten in Ben Alis autoritärem Regime einen Garanten für die Stabilität Tunesiens gesehen. Eine Stabilität, in der Islamisten unterdrückt, die Masse der Bevölkerung ruhig gestellt und hoffnungslose junge Tunesier daran gehindert wurden nach Europa zu fliehen.
    Emil Lieser weiß darüber viel. Lieser arbeitete als Repräsentant der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung viele Jahre lang in Tunesien. Er baute zahllose Kontakte auf. Emil Lieser hatte vor der Revolution immer versucht, anreisenden Delegationen aus Deutschland die Lage in Tunesien zu erklären.
    "Das war ein ausgesprochener Polizeistaat. Und er gab sich nach außen natürlich immer als großer Garant der Stabilität in Tunesien. Das war ja für uns auch immer das Hauptproblem als Ebert-Stiftung, dass wir ja immer mit dem Hütchen, also Demokratieförderung hier auftraten. Aber die ganze deutsche und europäische Außenpolitik, war Stabilität, Stabilität, Stabilität."
    Und deshalb wollte die deutsche Politik auch nicht gerne eine andere Erzählung hören. Eine Erzählung, die Experten wie Emil Lieser von der Ebert-Stiftung immer wieder vorbrachten:
    "Wir hatten schon damals gesagt, diese Stabilität steht auf hohlen Füßen. Weil nämlich diese islamistischen Bewegungen, die hier existierten, die wurden unterdrückt. Die wurden mit polizeistaatlichen Methoden unterdrückt. Anstatt sich mit ihnen auseinanderzusetzen, wurden sie unterdrückt. Das Ergebnis war dann nach der Revolution zu sehen."
    Nämlich bei der Wahl zur verfassunggebenden Versammlung im Oktober 2011. Die Ennahda Partei gewinnt mit einem riesigen Vorsprung. Für viele Tunesier ist zunächst vor allem wichtig, dass diese Wahl überhaupt stattgefunden hat. Deshalb erklingt die Nationalhymne, als das Ergebnis verkündet wird. Die Sieger dieser Wahl, die Ennahda, sind gemäßigte Islamisten. So charakterisiert man nicht zuletzt im europäischen Ausland die Partei, die mit dem Koran in der Hand Politik machen will. Die Partei auch, deren Führer unter Ben Ali verfolgt wurden. Jetzt kommt politisch erst mal niemand mehr an ihnen vorbei und das ist bis heute so – fünf Jahre nach der Revolution. Emil Lieser von der Friedrich-Ebert-Stiftung hat einige Zeit außerhalb von Tunesien gearbeitet. Als er zurück kommt ins Land überraschen ihn zwei Dinge ganz besonders:
    "Da war ich natürlich schon davon überrascht, in ein Tunesien zurückzukommen, in dem eine islamistische Partei die stärkste Gruppe in der verfassunggebenden Versammlung geworden ist. Das war für mich schon überraschend. Und dann noch die Veränderung im Straßenbild. Also die Vielzahl von Frauen, die mit Kopftüchern durch die Gegend gelaufen sind."
    Lieser verweist auf die öffentliche Präsenz und die politische Stärke der Islamisten:
    "Die haben einfach ein gut ausgebautes Netzwerk, die sitzen überall in diesen sozialen Bewegungen drin, die machen die Arbeit, die der Staat in vielen Ländern nicht mehr leistet, und das ist in Tunesien natürlich auch passiert. Was mich halt überraschte war, dass sie so stark in der verfassunggebenden Versammlung waren. Das hat sich ja dann aber bei den nächsten Wahlen wieder etwas reduziert. Aber ich meine trotzdem, es gibt in dieser tunesischen Gesellschaft einen festen Kern, sagen wir mal von 25 Prozent der Wähler, die so islamistische Parteien wählen würden. Egal, was sie für eine Politik machen."
    Ennahda in Tunesien muss sich den Vorwurf gefallen lassen, viel zu lange, viel zu lax und unaufmerksam mit echten, gewaltbereiten Radikalen umgegangen zu sein. Zumindest in der Zeit, als sie die Regierung führten. Für Menschen wie die 32-jährige Yamina Mechri sind die Islamisten nicht die Einzigen, die aus ihrer Sicht die tunesische Revolution negativ beeinflusst haben. 2011 war sie glühende Anhängerin der Revolution.
    "Ich gehörte zu einer Generation, die die absolute Freiheit wollte. Unteilbar und absolut. Wir wollten alles. Alles, alles, alles. Und alles gleichzeitig. Wir konnten überhaupt nicht verstehen, dass uns Leute anderthalb bis zwei Monate nach dem 14. Januar sagten 'ah, jetzt ist nicht der Moment dafür, wir müssen erst mal die Übergangsjustiz regeln, uns um die kümmern, die im Gefängnis sitzen.' Wenn wir denen etwas von Minderheitsrechten erzählt haben, von individueller Freiheit, von körperlicher Freiheit, von Glaubensfreiheit – dann hieß es, jetzt ist nicht der Moment. Aber wir wollten alles, alles, alles. Und zwar sofort!"
    In den Ministerien sitzen immer noch die Beamten des alten Regimes
    Viele wollen vieles im post-revolutionären Tunesien. Und es treffen sehr verschiedene Wünsche aufeinander. Die Islamisten der Ennahda-Partei wollen mehr Religion im öffentlichen Leben. Die Menschen außerhalb der großen Städte wollen Arbeitsplätze, Chancen auf ein besseres Leben. Viele, sehr viele Tunesier wollen das Ende der grassierenden Korruption und der Bevormundung durch etablierte, regimenahe Gruppen.
    Aber in den Ministerien sitzen immer noch die Beamten des alten Regimes, beispielsweise im Innenministerium. In der Wirtschaft des Landes geben immer noch die Leute den Ton an, die sich mit dem alten Regime schon arrangiert hatten. In der Politik ziehen zunächst diejenigen die Köpfe ein, denen allzu enge Verflechtung mit der Diktatur vorgeworfen wurde. Sie treten in den Hintergrund; sie ziehen es vor, von dort aus die Fäden zu ziehen. Yamina erlebt immer noch Willkür.
    "Es gibt Probleme mit den Ausweispapieren. Dir wird der Reisepass entzogen, wenn Du verreisen willst. Es gibt Arbeitsplätze, die einfach nicht für jeden zugänglich sind, wenn Du nicht zu einer bestimmten Gruppe, einem bestimmten Clan gehörst. Das ist heute noch so wie damals. Auch wenn die Clans heute andere sein mögen, es gibt immer noch diese Günstlingswirtschaft. Eine Sphäre der Extravaganz, in die nicht hinein kommt, wer nicht zum Clan X oder zum Clan Y gehört."
    Yamina arbeitete bis 2013 bei einem privaten Fernsehsender, einem Unterhaltungssender zu Ben Alis Zeiten. Aber nach der Revolution mutierte er geschmeidig zu einem Informationskanal. Yamina hat dort Programmverantwortung. Und die wollte sie dann nicht mehr tragen:
    "Ich bin gegangen. Im Januar 2013. Ich war nicht mehr einverstanden mit dem, was im Sender passierte. Es gab viele politische Machenschaften im Sender selbst, außerhalb auch. Da ging es um Geld aus der Politik, es gab viel Unehrlichkeit. Ich fühlte mich dann irgendwann mitverantwortlich für bestimmte Dinge. Ich hatte schließlich das Gefühl, ich verrate mein Land, wenn ich weiter für einen Sender arbeite, der für mein Empfinden dabei war, dieses Land zu täuschen."
    Yamina engagiert sich weiterhin politisch. Sie zählt zu den jungen Tunesiern, die sich Hoffnung machen, dass es jetzt endlich um sie geht, dass sie mitbestimmen und mitgestalten können. Stattdessen erlebt sie in ihrer eigenen Partei, dass die alten Führungsfiguren weiterhin alles unter sich ausmachen, alles bestimmen. Wirkliche Veränderungen seien weder in ihrer Partei noch anderswo gefragt:
    "Ganz schnell gab es Leute, die den Begriff Revolution für sich persönlich nutzten. Sie machten Geschäfte damit. Und wer wirklich etwas ändern wollte, der machte sich damit nicht beliebt. Über die machte man sich lustig. Das war mehr Business, als dass es Leute mit einer fundierten Vorstellung gab, die die Dinge wirklich verändern wollten."
    Tunesien bleibt instabil. Auf der politischen Bühne sieht die Bevölkerung Machtkämpfe, Eifersüchteleien um Positionen und Karrieren. Im wirklichen Leben sehen viele: Ihre wirtschaftliche Lage hat sich nicht verbessert. Sie hat sich sogar verschlechtert. Die Arbeitslosigkeit ist hoch. Junge Menschen haben es enorm schwer, überhaupt eine Arbeit zu finden. Und das gilt keineswegs nur für die großen Städte. Außerhalb der Zentren, in den ländlichen Gebieten, ist die wirtschaftliche Not noch größer.
    Die Kleinstadt Siliana ist ein Beispiel dafür, etwa 125 Kilometer südlich der Hauptstadt Tunis gelegen. Rund um die Markthalle des Städtchens gruppieren sich Cafés, kleine Imbissbuden und ein paar Geschäfte. Vor dem Rathaus protestieren gerade streikende Mitarbeiter der Stadtverwaltung. Siliana hat 40.000 Einwohner und einen bedeutenden Arbeitgeber. Das ist eine deutsche Firma - Dräxlmaier. Sie produziert Kabelbäume für die Autoindustrie. Damit hat sie etwa 3.000 Arbeitsplätze geschaffen in einer Region, in der es sonst nur wenige Arbeitgeber gibt.
    Die Familie Ayari lebt hier in Siliana – in einem sehr bescheidenden Häuschen. Vater Ayari ist pensioniert. Zwei seiner Söhne haben keine Arbeit, ein weiterer hat einen Job als Grundschullehrer und unterstützt so die Familie. Vater Ayari hat Sorgen: Wegen der Perspektivlosigkeit seiner Kinder. Und weil sie in einem Fall konkrete Folgen hatte. Einer seiner Söhne sitzt seit drei Jahren in einem syrischen Gefängnis. Der junge Mann hatte zunächst in Tunis studiert, kam dort aber nicht zurecht. Dann kam er in Kontakt mit radikalen Islamisten. Er ging nach Libyen, angeblich um zu arbeiten und so Geld für die Familie zu verdienen. Dann erhielt Vater Ayari eines Tages einen Anruf. Sein Sohn hatte sich in Libyen als Kämpfer für Syrien anwerben lassen. Und war dann in Syrien sofort vom Assad-Regime verhaftet worden.
    "Das war ein riesiger Schock für uns. So etwas gibt es in unserer Familie nicht, bei uns ist niemand gewalttätig. Das hat das Leben der ganzen Familie durcheinander gebracht. Es ist eine sehr schwierige Situation für uns."
    "Nicht mal als Kellner im Café findest Du hier noch Arbeit…"
    Einer der jüngeren Brüder kommt hinzu. Auch er ist arbeitslos. Eine Zeitlang hatte er in Tunis durch einen Bekannten als Transportarbeiter jobben können. Dann stellte der Bekannte aber einen Cousin ein, und Gaith Ayari stand wieder ohne Einkommen da. Gaith weiß, dass in Siliana radikale Islamisten versuchen, Kämpfer zu rekrutieren:
    "Das sind Leute, die man irgendwie kennt. Wir sind ja eine kleine Stadt hier. Wenn man dann im Internetcafé sitzt, dann kommt jemand und sagt 'Wir sitzen doch hier fest, hier ist doch alles Mist. Schau Dir mal diese Internetseite an'. Oder sie zeigen einem Videos von Dschihadisten, wie gut die doch leben. Dann kommen sie später wieder und fragen, 'Warum hast Du denn meine Anfrage auf Facebook nicht beantwortet?'"
    Die Rekrutierer suchen gezielt unter arbeitslosen Jugendlichen. Sie versprechen ihnen Ruhm, Ehre, Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft und – Geld. Dafür sollen sie als Kämpfer in den Dschihad nach Syrien ziehen. Gaith Ayari hält sich von ihnen fern. Gaith weiß ebenso wie die tunesische Regierung: Die jungen Männer ohne Arbeit, ohne Perspektive und ohne Geld sind leicht zu verführen; sie gehen den Radikalen auf den Leim. Eine Untersuchungskommission der Vereinten Nationen kam in Tunesien zu dem Ergebnis, dass etwa 4.000 junge Tunesier zwischen 18 und 35 Jahren in Syrien kämpfen und schätzungsweise noch einmal 1.500 in Libyen. Viele sterben, andere kommen klammheimlich zurück ins Land - radikalisiert.
    Gaith Ayari hat in Siliana kaum noch Hoffnung, eine Arbeit zu finden.
    "Das kann man vergessen. Es gibt nichts. Nicht mal als Kellner im Café findest Du hier noch Arbeit. Es gibt einfach nichts!"
    In Tunis spielt sich in diesen Tagen ein Machtkampf innerhalb der Partei Nidaa Tounes ab. Sie stellt den Regierungschef und auch den Präsidenten. Und sie hat versprochen, endlich Reformen einzuleiten. Die Wirtschaft soll in Gang gebracht, Investoren ins Land geholt werden. Passiert ist bisher wenig. Tunesiens Politiker sind auch fünf Jahre nach der Revolution noch immer nicht in der Lage, die Hoffnungen der Menschen einigermaßen zu erfüllen.
    Souha Ben Othman, die als Jura-Studentin mit auf der Straße war am 14. Januar 2011, die sich anschließend als Rechtsanwältin für Menschenrechte in Tunesien engagiert hat, die bei der Gründung der Partei Nidaa Tounes mitmachte, sie ist enttäuscht von dem, was bisher erreicht worden ist.
    "Es gab so viel Hoffnung für Tunesien. Hoffnungen auf Veränderung, auf das Ende der Korruption, der Ungleichheit. Diese Revolution war ja nicht primär durch politische Forderungen ausgelöst worden, auch nicht durch wirtschaftliche Forderungen oder wegen der Menschenrechtslage. Deshalb sind die Leute nicht auf die Straße gegangen. Sie wollten Arbeit, ein Leben in Würde. Sie wollten Chancengleichheit."
    Souha Ben Othman will Tunesien für eine Zeitlang verlassen. Sie will nach Deutschland gehen und versuchen, sich dort weiter zu entwickeln. Eine gut ausgebildete junge Frau, 27 Jahre alt, engagiert, mit dem Willen, etwas für ihr Land zu tun. Jetzt verlässt sie dieses Land mit dem Gefühl, dass Menschen wie sie dort keine Rolle spielen, keinen Einfluss haben.
    Yamina Mechri, die Fernsehproduzentin, die sich ebenfalls politisch engagiert hatte, die in einer Organisation der Zivilgesellschaft junge Tunesier in einem Jugendparlament für Politik begeistern wollte, sie will Tunesien ebenfalls verlassen. Yamina ist fünf Jahre nach der Revolution vor allem von einem enttäuscht:
    "Von der Verdrängung der jungen Menschen. Im wahrsten Sinne des Wortes. Die jungen Menschen sind raus gedrängt worden aus dem politischen Leben, aus der Arbeitswelt, aus der Bildung. Die alte Garde ist jetzt noch älter als die alte Garde, die es früher gab. Das sind Leute, die nicht unbedingt in der ersten Reihe stehen. Aber es sind Leute, die das alte Regime mit installiert haben: Im Sicherheitsapparat, in der Verwaltung, in der Politik."
    "Tunesien ist frei!" Das hatten begeisterte Menschen nach der Flucht der Diktators Ben Ali gerufen. Jetzt muss niemand mehr Angst vor dem repressiven Regime Ben Alis haben. Tunesien hat sich Freiheit erkämpft. Aber viele im Land tragen schwer an der Last dieser Freiheit.