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Martin Heidegger
Über Denkwege und Sprachgirlanden

Die späten Texte Martin Heideggers gelten als dunkel und schwer fassbar. Eine vierbändige kritische Ausgabe gibt Überblick und erlaubt, Heidegger von verschiedenen Seiten kennenzulernen – als Aphoristiker, Vortragenden und als dichtenden Denker.

Von Andrea Roedig | 10.07.2022
Martin Heidegger: "Kleine Schriften"
Zu sehen ist das Buchcover auf dem ein Porträt von Heidegger abgebildet ist.
Im Hintergrund ein Schreibtisch
"Denkwege" - Die Sammlung zeigt das breite Spektrum des späten Heidegger, auch der verschiedenen Textsorten. (Buchcover: Klett-Cotta Verlag)
Es gibt keinen Philosophen der abendländischen Tradition, bei dem Tiefsinn und Plattitüde, Erhabenheit und Kitsch so nah beieinander liegen wie bei Martin Heidegger. „Wer die großen Scheine des Meisters in Kleingeld wechseln will, hält nur wertlose Münzen in Händen“, hat die Redakteurin und Schriftstellerin Elke Schmitter einmal gesagt, und das trifft ins Schwarze. Jeder Versuch, Heideggers Gedanken und Worte in eine einfache oder auch nur eine andere Sprache zu übersetzen, wird maßlos scheitern; einfach ausgedrückt erscheinen seine Gedanken banal, sie scheinen nur in dieser Sprache, nur als Heidegger-Sprache existieren zu können:
„Die Freiheit ist das lichtend Verbergende, in dessen Lichtung jener Schleier weht, der das Wesende aller Wahrheit verhüllt und den Schleier als den verhüllenden erscheinen lässt. Die Freiheit ist der Bereich des Geschickes, das jeweils eine Entbergung auf ihren Weg bringt.“
Zudem klingt der hohe Ton oftmals geschwollen, pathetisch und nahezu lächerlich. Heidegger ist der Wagner der Philosophie: Große Musik und schlimme Libretti. Oder formulieren wir es so: große Musik trotz schlimmer Libretti. Denn andererseits eröffnen etliche dieser Sätze auch etwas. Genauso wie die lächerlichen gibt es solche von klarer Schönheit und Tiefe. Heidegger zu erfassen oder zu verstehen hängt – wie beim Lesen von Gedichten – stark von der eigenen Stimmung ab. Das Gestimmtsein ist überdies ein wichtiges Konzept schon in Heideggers früher Philosophie. Sich einlassen ist gefragt und auch Mitgehen.
„Der Tod ist als der Schrein des Nichts das Gebirg des Seins.“

Wanderung durch nebliges Gebiet

Heidegger kreist immer um dasselbe Thema, aber nichts ist feststehend in diesem Prozess. „Denkwege“ heißt daher sinnigerweise die vierbändige Kassette mit späten Schriften aus den Jahren nach 1945, die jetzt bei Klett Cotta vorliegt. Den Wegcharakter seines Denkens hat Heidegger selbst oft genug betont – schließlich war er auch im wörtlichen Sinn ein passionierter Wanderer und Spaziergeher. Der Weg kommt schon vor in den Titeln der von ihm selbst noch herausgegebenen Aufsatzsammlungen wie „Wegmarken“ oder „Holzwege“. Eine der Herausgeberinnen der neuen Ausgabe ist die Romanistin Dorothea Scholl. Sie sieht dieses „auf dem Weg-Sein“ als Heideggers Methode:
„Heidegger wollte nie didaktisch sein. Hannah Arendt hat dieses nicht-Didaktische an Heidegger sehr gut charakterisiert, sie sagte: Heidegger durchläuft sein eigenes Denken immer wieder neu. Es ist ein ständiges Durchdenken des schon Gedachten, und zwar ein kritisches Durchdenken des schon Gedachten. Diese Art des Denkens ist unglaublich anregend – wenn man sich darauf einlässt.“
Die vier Bände sollen einen Überblick über das Denken des späten Heidegger geben, wobei sich die Auswahl auch aus den Publikationsrechten ergibt: Klett-Cotta hat, als Nachfolger des Neske-Verlages, die Rechte an den hier abgedruckten Texten, die zu Heideggers Lebzeiten als Einzelausgaben bei Neske erschienen. Der erste Band kombiniert unter dem Titel „Kleine Schriften“ leicht zugängliche Vorträge und Aufsätze, etwa eine Festrede mit dem Titel „Gelassenheit“, und härtere Brocken wie etwa den bekannten Text „Die Technik und die Kehre“. Der zweite Band enthält die akademische Vorlesung „Der Satz vom Grund“; der dritte wiederum Vorträge und Aufsätze – etwa „Das Ding“ oder „Bauen, Wohnen, Denken“, und der vierte, ebenfalls eine Aufsatzsammlung, nennt sich „Unterwegs zur Sprache“. Mit Ausnahme des ersten Bandes sind all diese Textsammlungen in der vorliegenden Form schon einmal als Einzelbände erschienen, allerdings sind sie nun – und das ist wesentlich – um einen editorisch-kritischen Kommentarapparat und Anmerkungen erweitert.
Die Bände lassen sich also zugleich als Leseausgabe für Einsteiger:innen als auch zu Studien- und Forschungszwecken verwenden. Als Ganzes geben sie einen guten Einblick in diesen schwer zu fassenden so genannten späten Heidegger – dessen Werk nach „Sein und Zeit“ ja ausschließlich aus kurzen Texten besteht.

Die Seinsfrage

„Weg und Waage / Steg und Sage / Finden sich in einem Gang/ Geh und trage /Fehl und Frage / deinen Pfad entlang.“
In Band 1 der Ausgabe lernt man Heidegger als Dichter kennen und als Aphoristiker, „Aus der Erfahrung des Denkens“ – heißen diese lose aneinander gefügten Gedankensplitter. Aber der Band enthält auch gut verständliche Einführungstexte wie den Vortrag, „Was ist das, die Philosophie?“, den Heidegger 1955 in Paris gehalten hat. Immer geht es ihm ja darum, die abendländische Philosophietradition umzuwenden, umzudeuten und tiefer in sie hineinzuschürfen. Dazu verwendet er rhetorische Verfahren etwa der Umkehrung, des Spiels mit Substantivierungen – ein Licht scheint – dieses Scheinen; wir sagen – diese Sage, oder umgekehrt der Verbalisierung von Substantiven: das Ding dingt, das Sein west, das Nichts nichtet und der Raum räumt. Oft treibt er dabei einen Gedanken wortspielend immer weiter, was eine gewisse Dramatik und auch eine Spannung erzeugt. Ein einfaches Beispiel für diese Methode ist die Umdeutung der klassischen Definition der Philosophie als Staunen:
„Es wäre sehr oberflächlich und vor allem ungriechisch gedacht, wollten wir meinen, Platon und Aristoteles stellten […] nur fest, das Erstaunen sei die Ursache des Philosophierens. […] Wären sie dieser Meinung, dann hieße das: irgendeinmal erstaunten die Menschen, nämlich über das Seiende, darüber, das es ist und was es ist. Von diesem Erstaunen angetrieben, begannen sie zu philosophieren. […] Aber: das Erstaunen ist archē – es durchherrscht jeden Schritt der Philosophie. Das Erstaunen ist pathos. […] Es ist gewagt, wie immer in solchen Fällen, wenn wir pathos durch Stimmung ersetzen, womit wir die Ge-stimmtheit und Be-stimmtheit meinen.“
Bekanntlich kreist Heidegger nur um ein einziges Thema, auch in den vier Bänden der „Denkwege“: Das ist die Frage nach dem Sein. Die Klassische Metaphysik fragt nach dem Sein des Seienden. Sie fragt nicht empirisch, also etwa: Woraus besteht ein Baum? Sondern: Was ist ein Baum eigentlich, insofern er ist? Schon das ist nicht einfach, denn die so genannte ontologische Differenz – der Unterschied zwischen Sein und Seiendem – liegt nicht unbedingt auf der Hand, man könnte ihn für einen Trick der Grammatik halten. Heidegger aber geht noch einen Schritt weiter, denn er will nicht das Sein des Seienden, also der gegenständlichen Welt erfassen, sondern Sein als solches. Er schreibt dieses Sein dann auch phasenweise mit y – Seyn – oder kreuzt das ausgeschriebene Seyn durch. Er umtanzt es, stellt es in Konstellationen, denn das Sein selbst ist nicht zu fassen – es ist stete Bewegung zwischen Entzug und Erscheinen. Genau im Sich-Verbergen und im Sich-Enthüllen, aber auch im Sich-Zusprechen besteht dieses Sein.
Und hier kommt die Sprache ins Spiel. Für den späten Heidegger besteht die Rolle des Menschen im Zuhören auf den Zuspruch des Seins. Sein, Sprache und Denken sind unlösbar verknüpft, aber nicht der Mensch spricht, sondern die Sprache spricht – beziehungsweise das Sein spricht sich uns in der Sprache zu. Daher muss jedes Wort auf die Goldwaage gelegt werden – auf eine, zugegeben, nur von Heidegger selbst geeichte Goldwaage. Ausgehend vom oben zitierten Erstaunen, erhält Philosophie dann bei Heidegger schließlich folgende Definition:
„Das eigens übernommene und sich entfaltende Entsprechen, das dem Zuspruch des Seins des Seienden entspricht, ist die Philosophie.“

Die Sprache spricht

Heidegger hat sein frühes Werk „Sein und Zeit“ nicht fortgeführt, weil ihm, so sagte er, die angemessene Sprache fehlte, um auszudrücken, was er dachte. Die in der Klett-Cotta-Ausgabe enthaltenen Texte zeigen ihn als einen Denker, der um Worte ringt, weil eben das gewöhnliche Sprechen, vor allem das herkömmliche wissenschaftliche Sprechen nicht ausreicht. Daher verwendet Heidegger eine poetische Sprache, obwohl er selbst nicht den Anspruch hat, Dichter zu sein. Er ist Denker mittels dichterischer Sprache. Noch einmal die Herausgeberin Dorothea Scholl:
„Da werden mittels der Dichtung Aussagen gemacht, die man mittels der Philosophie nicht auf eine solch konzentrierte Art ausdrücken könnte. Die Dichtung ist ja man kann sagen die Poesie des Herzens gegen die Prosa der Verhältnisse, oder das, was Heidegger das herzhafte Denken nennt. Das kann man auch mit Pascal in Verbindung bringen: ‚Le coeur a le raison que la raison ne connait pas‘, also das Herz hat eine Vernunft, die die Vernunft nicht kennt – insofern ist das Dichterische bei Heidegger auch – ohne das Dichterische als irrational bezeichnen zu wollen – ein Kontrapunkt zu einer rein rechnenden, kalkulierenden Vernunft.“
Ein ganzer Band der Ausgabe – ebenfalls Nachdruck der zu Lebzeiten Heideggers erschienenen Textsammlung „Unterwegs zur Sprache“ – zeugt von dieser Auseinandersetzung mit dem Dichterischen. Neben Vorträgen und Aufsätzen mit Titeln wie „die Sprache“, „Das Wort“, „Wesen der Sprache“ und endlos dahinmäandernden Gedichtinterpretationen, nutzt Heidegger auch die dialogische Textform. So simuliert er etwa das Gespräch zwischen einem Japaner und einem Fragenden – vulgo Heidegger. Das liest sich dann wie ein Sprechtheater:
„F: Ein Sprechen über die Sprache macht sie fast unausweichlich zu einem Gegenstand.
J: Dann entschwindet ihr Wesen
F: Wir haben uns über die Sprache gestellt, statt von ihr zu hören.
J: Dann gäbe es nur ein Sprechen von der Sprache …
F: in der Weise, daß es von ihrem Wesen her gerufen und dahin geleitet wäre
J: wie vermögen wir solches?
F: Ein sprechen von der Sprache könnte nur ein Gespräch sein.“

Technik und ein anderes Verhältnis zur Welt

Wie zeitgemäß ist das alles? Heidegger inszenierte sich dezidiert antimodern in bäuerlichem, ländlichem Duktus, und bekannt ist seine Kritik an der Technik als „Gestell“ – als rein herstellendem, berechnendem Zugriff auf Welt. Der Alte vom Todtnauberg raunt. Aber: Heidegger war mit den gängigen naturwissenschaftlichen und technischen Entwicklungen seiner Zeit vertraut. Auffällig häufig erwähnt er in den vorliegenden Texten das „Atomzeitalter“, und seine Mahnung der Gelassenheit im Umgang mit technischem Gerät klingt, bezogen auf die digitalen Medien, deren Aufstieg Heidegger ja nicht einmal erleben musste, geradezu brandaktuell:
„Unversehens sind wir […] so fest an die technischen Gegenstände geschmiedet, daß wir in die Knechtschaft zu ihnen geraten. Aber wir können auch Anderes. Wir können zwar die technischen Gegenstände benutzen und doch zugleich […] uns von ihnen so freihalten, dass wir sie jederzeit loslassen. […] Wir können ‚ja‘ sagen zur unumgänglichen Benützung der technischen Gegenstände, und wir können zugleich ‚nein‘ sagen, insofern wir ihnen verwehren, daß sie uns ausschließlich beanspruchen und so unser Wesen verbiegen, verwirren und veröden.“
Nicht der ikonische, und von heute aus gesehen eher nervtötende Text „Die Technik und die Kehre“ zeigt etwas Zeitgenössisches auf, auch nicht Heideggers Kritik am Technischen selbst. Was wirklich ins Zentrum auch heute geführter Debatten trifft, ist eine bestimmte Haltung zur Welt, die Heidegger zum Beispiel in den großartigen Texten „Das Ding“ und „Bauen Wohnen Denken“ als Ideal vorführt. Beide Texte zeigen – bei allem Wortgeklingel – Heideggers Meisterschaft in der Rhetorik und im Aufbau einer sich fortführenden Gedankenkette, und sie beschreiben einen Zugang zur Welt, der nicht auf Aneignung, Gebrauch und Vernutzung beruht. Das macht Heidegger unweigerlich zum Verbündeten einer Umwelt- und auch Friedensbewegung:
„Die Sterblichen wohnen, insofern sie die Erde retten – das Wort in dem alten Sinne genommen, den Lessing noch kannte. Die Rettung entreißt nicht nur einer Gefahr, retten bedeutet eigentlich: etwas in sein Wesen freilassen. Die Erde retten ist mehr, als sie ausnützen oder gar abmühen. Das Retten der Erde meistert die Erde nicht und macht sich die Erde nicht untertan, von wo nur ein Schritt ist zur schrankenlosen Ausbeutung.“
„Etwas in sein Wesen freilassen“- es ist schwer, diese Haltung zur Welt zu beschreiben, geschweige denn zu verstehen, aber man könnte versucht sein, sie in gewissen Kontexten einfach mit dem Wort „Nachhaltigkeit“ zu übersetzen. Heideggers Denken ist nur aus einer intensiven und in gewisser Weise passiven, rein betrachtenden Naturerfahrung zu verstehen. Das Sein, das sich enthüllt und verbirgt begegnet jedem, der wandert, wenn die Wolken plötzlich den Blick auf gigantische Bergkulissen freigeben und dann wieder die Sicht verstellen. Wir können nichts dafür tun, außer schauen und sehen.
Der späte Heidegger spricht auch immer wieder vom Geviert aus Erde, Himmel, Göttlichen und Sterblichen – deren Verschränkung an das Muster göttlicher Trinität erinnert. Rational nachzuvollziehen ist all das nicht, und nichts an Heideggers Vorstellung vom Menschen als dem Hirten des Seins klingt demokratisch.  – Heidegger, so scheint es, ist über Demokratie längst hinaus, weil der Mensch nicht im Mittelpunkt seines Denkens steht. Das ist einerseits schwer auszuhalten, doch andererseits blitzt in diesen Texten, wenn man sich auf sie einlässt, immer wieder die Perspektive auf einen vollkommen ungewohnten, man möchte sagen – wesentlicheren - Zugang zur Welt auf.

Akribische Textarbeit

„Hermann Heidegger hat wirklich ganz akribisch die Gesamtausgabe überwacht. Und zum Beispiel im Handexemplar von ‚Unterwegs zur Sprache‘ das sind zum Beispiel auch Anmerkungen von Hermann Heidegger, wo er schreibt ‚nicht in GA, nicht in GA‘ also das sind Dinge, die er dann festgestellt hat, die in der Gesamtausgabe nicht vorhanden sind. Und das haben wir natürlich alles berücksichtigt, dass wir wirklich alles aufnehmen.“
Keiner der in die „Denkwege“ aufgenommenen Texte ist neu, doch im Gegensatz zur Gesamtausgabe, die im Verlag Vittorio Klostermann erscheint und sich mittlerweile auf 102 Bände beläuft, beansprucht die Auswahl der Klett-Cotta-Bände die Vollständigkeit einer wirklich textkritischen Ausgabe. Zwar enthält auch die Gesamtausgabe editorische Angaben und verzeichnet Randbemerkungen Heideggers, aber sie stand in der Kritik, gegebenenfalls kompromittierende Textvarianten zu unterschlagen, was angesichts der Diskussion um Heideggers Nähe zum Nationalsozialismus heikel ist. Diese Vorwürfe an die Gesamtausgabe findet Dorothea Scholl unbegründet, doch gerade aufgrund der geäußerten Kritik achtete das Herausgeberteam bei Klett Cotta besonders auf Vollständigkeit; mehr als vier Jahre Arbeit stecken in dieser Ausgabe – jeder Band enthält einen ausführlichen editorischen Anmerkungsapparat, verzeichnet sämtliche Randbemerkungen, die Heidegger in seinen Handausgaben machte, weist Unterstreichungen, Querverweise, Notizzettel und Stichwortverzeichnisse Heideggers nach.
Das war eine Herkulesaufgabe – und vielleicht deshalb ist dieser Anmerkungsapparat nicht wirklich handlich gelungen; für Laien ist er schlicht verwirrend, unübersichtlich und wirkt redundant. Zudem hätte man sich für eine Leseausgabe – die die „Denkwege“ ja auch sein sollen – deutlicher hervorgehobene Angaben zu den Erscheinungsjahren der jeweiligen Texte gewünscht, nun sind sie irgendwo zwischen Text und Editorischen Anmerkungen als „Hinweise“ versteckt und die Leserin muss sich die Informationen irgendwie zusammensuchen. Auch wirkt der Aufbau der vier Bände nicht unbedingt einheitlich.
Sicher sind die „Denkwege“ ein erster Schritt hin zu einer historisch-kritischen Heidegger-Ausgabe. Fraglich bleibt aber, wie sinnvoll ein solches Unterfangen überhaupt ist. Wie angemessen ist ein historisch-kritisches Editionsverfahren, das alle Wortvarianten aufführt, bei einem Denker, der seine Sprache permanent transformiert und für sich selbst eine ganz eigene, manchmal phantastisch anmutende Philologie erfindet? Hier streng editionsphilologische Maßstäbe anzusetzen ist, als wolle man den dahintreibenden Fluss mit einem Lineal vermessen.
Ist Heidegger ein großer Meister oder nur ein zur Meisterschaft aufgeblasener kitschiger Phantast? Die Klett-Cotta Ausgabe zeigt das breite Spektrum des späten Heidegger – auch der verschiedenen Textsorten – und lässt die Entscheidung offen. Ob man sieht, was Heidegger am Schopf hat, hängt nicht zuletzt von der eigenen Einstellung ab, von der Stimmung: ob man überhaupt etwas sieht oder nicht vielmehr nichts. Wie in einem Kippbild erscheint da manchmal etwas und manchmal nicht. Wie das Sein selbst, das Heidegger unter anderem auch als Lichtung, als sich verbergende Unverborgenheit umschreibt.
Martin Heidegger: „Denkwege. Ausgabe in vier Bänden. Kleine Schriften; Bauen Wohnen Denken; Der Satz vom Grund; Unterwegs zur Sprache“, Herausgegeben von Alfred Denker und Dorothea Scholl, Klett-Cotta Verlag, Stuttgart, 1600 Seiten, 175 Euro.