Donnerstag, 28. März 2024

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Ukraine
"Das bedrohlichste Szenario"

Präsident Janukowitsch Kiew hat verlassen. Das könnte bedeuten, dass er versucht, "den Osten vom Westen abzuspalten", sagte die grüne Außenpolitikerin Marieluise Beck im Deutschlandfunk. Sogar innerhalb seiner Partei folgten ihm nicht mehr alle Politiker.

Marieluise Beck im Gespräch mit Martin Zagatta | 22.02.2014
    Die Grünen-Politikerin Marieluise Beck trägt einen grünen Schal
    "Die Spaltung zwischen Volk und politischen Führern ist eine Folge zu langen Wartens": Marieluise Beck (Bündnis 90/Die Grünen) (JOHN MACDOUGALL / AFP)
    Martin Zagatta: Die Demonstranten auf dem Maidan, dem Unabhängigkeitsplatz in Kiew singen die Nationalhymne. "Noch ist die Ukraine nicht gestorben", heißt es darin, "das Glück wird in unserer Ukraine noch gedeihen", doch ob das jetzt ein Moment des Glücks ist, muss sich erst noch zeigen. Präsident Janukowitsch hat zwar gestern ganz überraschend ein Abkommen unterzeichnet mit der Opposition, man kehrt zur alten Verfassung zurück, das heißt, weniger Rechte für den Präsidenten, es soll Neuwahlen geben. Aber heute Morgen ist die Lage unübersichtlich, vielen Demonstranten genügt das Abkommen nämlich nicht. Sie haben Präsident Janukowitsch ein Ultimatum gestellt, noch heute zurückzutreten, noch am Vormittag, in einer Stunde, läuft dieses Ultimatum aus, sonst drohen sie damit, seinen Amtssitz zu stürmen – und es gibt auch Gerüchte, Janukowitsch sei schon dabei, das Land zu verlassen. Informationen, die auch die grüne Bundestagsabgeordnete Marieluise Beck sicher mit Spannung verfolgt: Sie war auch in den letzten Tagen wieder in Kiew und musste auch in Deckung gehen vor den Scharfschützen. Gestern ist sie zurückgekehrt nach Deutschland. Guten Morgen, Frau Beck!
    Marieluise Beck: Guten Morgen, Herr Zagatta!
    Zagatta: War es denn leicht für Sie, die Stadt und das Land da gestern wieder zu lassen? Da ist ja noch geschossen worden zu dem Zeitpunkt.
    Beck: Ja, es war vollkommen unproblematisch, denn es war ja inzwischen der Kompromiss ausgehandelt worden und damit wurden sofort auch die Barrikaden von den Straßen entfernt. Es gab ja das Gerücht, dass sich viele Menschen auf die Flughäfen begeben haben. Es gibt wohl doch einige, die es vorgezogen haben, das Land zu verlassen, weil sie fürchteten, dass sie zur Rechenschaft gezogen werden könnten.
    Zagatta: Was wissen Sie zur Stunde? Es gibt ja diese Gerüchte, Janukowitsch sei dabei, das Land zu verlassen, seine Flucht schon vorzubereiten. Wie sind da Ihre Informationen? Sie haben mir ja schon gesagt in unserem Vorgespräch, Sie waren die ganze Nacht in Kontakt mit Leuten in Kiew, mit Leuten in der Ukraine.
    Verfolgt per Radar-App
    Beck: Ja, ich war vor allen Dingen im Internet. Es ist ja unglaublich, wie inzwischen über Radarflug-Apps man verfolgen kann, wo die Präsidentenmaschine sich hinbewegt. Die hat sich tatsächlich außer Landes begeben. Aber es ist wohl doch eher so, dass Präsident Janukowitsch in Charkow ist, und ich halte das für das bedrohlichste Szenario.
    Zagatta: Warum?
    Beck: Das kann bedeuten, dass er jetzt versucht, den Osten vom Westen abzuspalten.
    Zagatta: Warum, das fragen wir uns heute oder das frage ich mich heute Morgen, warum hat er überhaupt so überraschend nachgegeben, sich auf dieses Abkommen gestern eingelassen? In den Tagen davor sah es ja so aus, als wollte er da ganz, ganz hart bleiben und auf keinen Fall einlenken.
    Macht überraschend gebröckelt
    Beck: Es war doch ganz offensichtlich so, dass seine Macht gebröckelt ist. Es haben Vertraute von ihm das Land verlassen und – das ist das Entscheidende und das war der erste Schritt – Abgeordnete seiner Partei, der Partei der Regionen, haben in einer Parlamentssitzung beschlossen, dass alle Sicherheitskräfte zurückgezogen werden müssen, dass es Verfolgung der Verbrechen und der Verantwortlichen geben wird, dass alle Demonstranten freigelassen werden und dass es keine Strafverfolgung für die Demonstranten gibt. Das war der erste Schritt vor dem Kompromiss, der durch die Außenminister des Weimarer Dreiecks ausgehandelt worden ist, und das bedeutete, dass Mitglieder seiner Partei zur Mehrheit für diesen ersten Kompromiss beigetragen haben und damit musste ihm klar sein: Es gibt zunehmend Politiker, die ihm nicht mehr folgen. Dazu trat der Bürgermeister, der Gouverneur von Kiew zurück, auch ein Mitglied seiner Partei, der sagte, er wolle die Verantwortung für dieses Blutvergießen nicht übernehmen und er werde jetzt die U-Bahn wieder in Gang setzen, damit die Stadt wieder einem normalen Leben nachgehen könne.
    Zagatta: Jetzt haben aber auch die Oppositionsführer, die da gestern dabei waren, dieses Abkommen unterschrieben. Die Straße offenbar, der Unabhängigkeitsplatz Maidan, die Demonstranten oder viele von denen wollen ihnen nicht folgen. Die Oppositionsführer sind gestern Abend da ausgepfiffen worden, und jetzt drohen die Demonstranten mit neuer Gewalt. Wie beurteilen Sie das? Ist die Opposition da auch völlig gespalten?
    Beck: Ja, es gibt eben inzwischen eine Spaltung zwischen Volk und den politischen Führern. Das ist eine Folge des zu langen Wartens. Man muss wissen, dass die Menschen jetzt seit etwa drei Monaten auf dem Maidan stehen und dass es inzwischen diese unendlich vielen Toten gegeben hat. Und dieser Kompromiss, der ausgehandelt worden ist, war eine große Zumutung für die Bürger auf dem Platz, denn es bedeutete: Der, von dem jeder sagte, er trägt die Verantwortung für die Zuspitzung der Verhältnisse, für das Einsetzen der Scharfschützen, die ja wirklich Todeskommandos gewesen sind, dieser Mann soll als Präsident, wenn auch auf Zeit, aber an der Macht bleiben. Und da es überhaupt kein Vertrauen in Janukowitsch gibt, dass er ein gegebenes Wort auch hält, sind leider, sage ich, die Menschen auf dem Maidan diesem Kompromiss nicht gefolgt. Ich fand ihn schwer zu ertragen, das sind Kompromisse aber häufig. Aber sie hatten eben vorweg genommen die Gefahr, dass Janukowitsch nicht etwa das Land verlassen würde, sondern sich in den Osten begeben würde, um dort zu versuchen, seine Bataillone vielleicht auch mit Unterstützung des Kremls zusammenzutragen, um das Land möglicherweise sogar in die Spaltung zu führen.
    Zagatta: Befürchten Sie denn einen Bürgerkrieg, oder wird das dann so ablaufen, dass Sie sagen, das wäre dann die Möglichkeit, dann kommt es zur Spaltung?
    Rolle der Oligarchen bei beginnender Rechtsstaatlichkeit unklar
    Beck: Also ich glaube, es hilft jetzt gar nicht viel weiter, die schlimmsten Szenarien an die Wand zu malen. Es ist auch im Osten so – obwohl dort sicherlich mehr Bevölkerung ist, die russischsprachig ist, und die auch beschäftigt ist noch in den alten Strukturen der Industrie, von denen sie ahnen, dass bei einer Modernisierung auch ein Teil ihrer Arbeitsplätze dem zum Opfer fallen würde –, ... Es sind dort Oligarchen, von denen noch nicht ganz klar ist, ob sie zum Beispiel eine beginnende Rechtsstaatlichkeit, die Annäherung an die EU ja bedeutet und damit hoffentlich Ende der Korruption, ob sie das als Bedrohung empfinden oder ob sie verantwortlich genug sind, zu wissen, dass diese Modernisierung unausweichlich ist, oder ob sie darauf setzen, dass Russland sie in Ruhe lassen würden, so lange sie politisch mitziehen. Das alles sind Unwägbarkeiten, die man heute nicht übersehen kann. Und man muss natürlich daran denken: Die russische Flotte auf der Krim – da gibt es ein großes geostrategisches Interesse des Kreml.
    Zagatta: Jetzt soll auch die Oppositionsführerin Timoschenko freigelassen werden. Könnte die eine Rolle spielen in diesem Konflikt?
    Timoschenkos Kraft und Einfluss in der Bevölkerung
    Beck: Sie hat ja natürlich doch auch noch aus der Haft sehr großen Einfluss genommen auf die Abgeordneten ihres Blocks Timoschenko, wie er früher hieß. Ich war darüber nicht sehr glücklich, dass sie einen Kompromiss, der ja schon mal vor zwei Wochen auf dem Tisch lag, empfohlen hat, nicht anzunehmen. Ein bisschen ist die Zeit über sie natürlich hinweggegangen und die Entwicklung auf dem Maidan ist eben über die zunehmende Wut der Menschen immer aggressiver geworden, was den Boden für radikalere Kräfte bereitet hat. Und ob sie nun wirklich mäßigend eingreifen würde, für Kompromisse werben um des Wohles des gesamten Landes willen, oder ob sie einen scharfen und unversöhnlichen Ton anschlagen wird, das kann derzeit niemand vorhersehen. Und welche Rolle sie, wie gesagt, noch spielt, weiß man auch nicht. Aber sie hat natürlich immer noch sehr viel Kraft und Einfluss in der Bevölkerung.
    Zagatta: Die grüne Bundestagsabgeordnete Marieluise Beck, Frau Beck, ganz herzlichen Dank für diese Einschätzungen!
    Beck: Ich danke Ihnen auch!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.