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Ukraine
Dichten an der Front

Maxim Musyka war sowohl als Reservist der ukrainischen Armee als auch als Freiwilliger an der Front. Mitgebracht hat er von dort keine Orden, dafür unzählige Gedichte. Denn in der Extremsituation Krieg lernte er sich ganz neu kennen.

Von Sabine Adler |
    Das Foto zeigt Maxim Musyka auf dem umkämpften Flughafen von Donezk in der Ostukraine
    Maxim Musyka kämpfte freiwillig an der Front. In schlaflosen Nächten schrieb er Gedichte. (Sergej Loiko )
    "Als die Zeit zu kämpfen kam
    Nahm er ihren Namen
    Neben sein Herz
    Auf die Uniform
    um es warm zu halten."
    Poesie als Rehabilitation
    Für Maxim Musyka ist Poesie Rehabilitation. Poesie nicht von anderen Autoren, sondern selbst verfasste. Monatelang hat der in Kiew geborene Maxim Musyka auf dem Maidan demonstriert. Der Offizier studierte Wirtschaft an einer Militärhochschule, hatte 15 Jahre keine Waffe in der Hand, doch er meldete sich freiwillig, als russische Soldaten die Krim besetzten und die Abspaltung der Ostukraine unterstützten.
    "Solange du kämpfst, funktionierst du nur. Du denkst nicht. Der Körper tut, was er tut, die Hand schießt, wie sie muss, du triffst keine Entscheidungen. Wenn du anfängst zu denken, hast du verloren. Aber danach in die Normalität zurückzukehren, wieder schlafen zu können, das braucht Zeit."
    Wenn er dichtet, dann nicht im Elfenbeinturm, nicht im stillen Kämmerlein, sondern dort, wo er gerade geht und steht, auch an der Front, wenn nach den Kämpfen die Leere kommt.
    "Manche trinken. Bei uns herrschte aber Gott sei Dank Alkoholverbot. Ich leide nach den Kämpfen unter Schlaflosigkeit. In solchen Momenten sind viele Gedichte entstanden. Du verstehst, dass du keinen Schlaf finden wirst und freundest dich damit an."
    "Die Gedanken pulsieren"
    Der 36-Jährige hat sich keinen Moment vorgenommen, Gedichte zu verfassen. Seit seiner Demobilisierung vor einigen Wochen gibt er Selbstverteidigungskurse wie zu Beginn der Maidan-Proteste, als Gegner des Janukowitsch-Regimes auf offener Straße überfallen wurden. Er will nicht schreiben, er muss.
    "Das ist kein Wunsch. Es muss einfach raus. Das ist ein Druck, ich kann gar nicht anders. Auf Bestellung geht gar nichts. Aber wenn ich schreiben muss, hält mich nichts davon ab. Ich tue es dann, egal wo ich mich gerade befinde, ganz gleich, was ich gerade zu tun habe. Die Gedanken rasen. Zack, zack, zack, kommt die erste Zeile, die zweite, die dritte. Als würde etwas pulsieren oder vibrieren. Dumdum, dumdum, dumdumdum. Das ist nicht zu stoppen, eine Zeile reiht sich an die andere."
    Wann es passiert, weiß er nie vorher. An der Front, beim Essen, tags oder nachts. Die über 20.000 Fans können genau nachverfolgen, wann es wieder soweit war.
    Über Facebook kam der Wunsch nach einer Gedichtsammlung
    "Einmal waren wir bei einer Übung und schliefen unter freiem Himmel. Ich blickte zu den Sternen, fragte mich, wo Norden ist und stellte fest, dass ich mit den Füßen Richtung Norden lag. Und da ging es auch schon los: "Die Füße Richtung Norden …" und so weiter. Fünfzehn Minuten später war das Gedicht fertig. Das entsteht ganz von selbst, du musst es nur noch aufschreiben. Ich lag zwischen unserer Munition und den Funkgeräten und stellte das Gedicht auf Facebook. Da fragten mich die ersten sofort: Wann hast du das geschrieben? Na jetzt, ich liege jetzt gerade mit den Füßen Richtung Norden."
    Mal jeden Tag eins, mal länger nichts, mal auf Russisch, mal Ukrainisch - auf seinem Account kann jeder lesen, was er gerade gedichtet hat. Der Offizier ist so produktiv wie populär.
    "Immer mehr Leute sagten: Mach ein Buch daraus! Ich kündigte an, dass ich es drucken lassen werde, wenn es genug Interessenten gibt. Das ging ganz schnell. In Kürze gab es so viele Bestellungen, dass ich eine ganze Auflage zusammen hatte. Und dann hat einer meiner Bekannten den Druck sogar finanziert. Die ganze Auflage von 2000 Exemplaren."
    "Zoran" lautet der Titel der Gedichtsammlung, wie sein Kampfname als Freiwilliger. Schwarzes Cover, 240 Seiten. Der zweite Band könnte bald folgen. An die 50 Gedichte sind noch nicht veröffentlicht.
    "Mich erstaunt die Reaktion der Leute, die vielen Kommentare, wenn sie sich bedanken. Aber so ganz verstehe ich es nicht. Es ist, als wenn die Gedichte ohne mein Zutun entstehen. Ich stelle sie sofort auf Facebook, sobald ich sie geschrieben habe. Sie sind wie Neugeborene: blutig, blau, nass. Nicht hübsch zurecht gemacht wie für eine Foto. Wie bei der Geburt meiner Kinder, bei der ich jeweils dabei war. So sind die Gedichte, die so frisch eine bestimmte Energie haben und Resonanz hervorrufen."
    Erste Gedichte werden vertont
    Der studierte Fachmann für Militärfinanzen hat noch mehr musische Begabungen. Er spielt Bambusflöte und könnte wohl auch als Fotograf reüssieren. Fünf seiner Gedichte werden von einer ukrainischen Band derzeit vertont.
    "Wenn ich die Songs höre mit meinen Texten, dann ist es ja nicht so, dass ich damit nichts zu tun hätte, aber sie sind ein bisschen weiter entfernt von mir. Keine Neugeborenen, sondern vielleicht Enkel."