Freitag, 03. Mai 2024

Ukraine
Auf dem Weg in die Europäische Union

Die EU hat beschlossen, dass die Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine beginnen können. Wie lange der Prozess dauern wird, ist allerdings völlig ungewiss. Weitere finanzielle Hilfen für das Land hat Ungarn vorerst blockiert.

15.12.2023
    Eine EU-Fahne neben einer ukrainischen Fahne mit der Aufschrift "Stand with Ukraine".
    Bis der Beitrittskandidat Ukraine tatsächlich in der EU aufgenommen werden kann, gibt es auf beiden Seiten noch viel zu tun. (picture alliance / Daniel Kubirski / Daniel Kubirski)
    Der EU-Gipfel am 14. Dezember hat den Weg für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine frei gemacht. Damit kommt das Land seinem Wunsch näher, Teil der Europäischen Union zu werden. Die Entscheidung kam nach stundenlangen Verhandlungen durch eine ungewöhnliche Wende zustande: Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban, der zuvor seinen Widerstand angekündigt hatte, war nicht im Raum, als die EU-Staats- und Regierungschefs den Konsens herstellten.
    Wie lange es nun dauert, bis die Ukraine EU-Mitglied wird, ist kaum vorherzusagen und hängt von vielen verschiedenen Faktoren ab. Die wichtigsten Fragen und Antworten.

    Inhalt

    EU-Forderungen, bei denen die Ukraine Fortschritte gemacht hat

    Im Sommer 2022 erhielt die Ukraine eine Liste der Europäischen Union mit sieben Reformprojekten. Sie sollten innerhalb von zehn Jahren umgesetzt werden.
    Bereits Anfang November 2023 kam die EU-Kommission zu dem Schluss, dass die Ukraine inzwischen mehr als 90 Prozent der Auflagen erfüllt hat. Darunter fallen Reformen bei der Verfassungsgerichtsbarkeit und der Korruption. Außerdem hat die Ukraine Schritte zur Bekämpfung der Geldwäsche und gegen oligarchische Strukturen und Monopole unternommen.
    EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen lobte bereits Anfang 2023 die Fortschritte der Ukraine bei der Korruptionsbekämpfung. Das Land hatte gleich mehrfach Konsequenzen aus jüngsten Korruptionsfällen gezogen. So waren die Wohnhäuser eines Oligarchen und Steuerbüros in der Hauptstadt Kiew durchsucht worden. Außerdem wurde der ehemalige stellvertretende Verteidigungsminister der Ukraine verhaftet. Auch mehrere Gouverneure und hochrangige Beamte wurden in diesem Zusammenhang entlassen.
    Eine der wichtigsten Reformen ist die Dezentralisierung. Diese soll die Kommunen stärken und aus Sowjetzeiten stammende Strukturen beseitigen. Fachleute bewerten die Dezentralisierung bislang insgesamt als Erfolg.
    Kürzlich wurden zudem auch zwei Gesetze verabschiedet, die nationale Minderheiten stärken sollen. Die Neuregelungen ermöglichen eine verstärkte Nutzung von Minderheitensprachen in Schulen, Büchern und bei öffentlichen Veranstaltungen.

    EU-Forderungen, bei denen die Ukraine noch nachschärfen muss

    Viele Forderungen der EU hat die Ukraine bereits abgearbeitet, doch in verschiedenen Bereichen muss sie noch Verbesserungen vornehmen. Dazu gehören unter anderem die Erhöhung des Personals beim Nationalen Antikorruptionsbüro und die Stärkung der Nationalen Agentur für Korruptionsprävention. Auch die Verabschiedung eines Gesetzes zur Überwachung von Lobbyismus fehlt noch, und bei der Dezentralisierung gibt es Lücken.
    Trefffen von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und dem ukrainische Präsident Wolodimir Selenski - beide lachen sich an
    Gute Stimmung: EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski (picture alliance / ASSOCIATED PRESS / Efrem Lukatsky)
    Brüssel erwartet zudem weitere Schritte zum Schutz nationaler Minderheiten, darunter die Überarbeitung einer Regelung, wonach öffentliche Veranstaltungen, die in Minderheitensprachen abgehalten werden, ins Ukrainische übersetzt werden müssen.

    Reformen, die in EU vor einem Beitritt der Ukraine nötig sind

    Vor einem EU-Beitritt der Ukraine muss es nicht nur Reformen in dem Land, sondern auch in der Europäischen Union geben. Dabei geht es vor allem um die Vereinfachung von Entscheidungsverfahren und die Agrarpolitik.
    Entscheidungsverfahren sollen schneller ablaufen, damit die EU auch mit noch mehr Mitgliedsstaaten handlungsfähig bleibt. Auf dem Prüfstand steht hier die Abschaffung des Einstimmigkeitsprinzips in vielen Politikbereichen.
    In Bezug auf die Agrarpolitik steht eine Änderung der bisherigen Verteilung der Gelder im Fokus. Hochrechnungen deuten darauf hin, dass die Ukraine ohne eine Anpassung rund 17 Prozent der europäischen Agrarsubventionen bekommen würde. Es ist anzunehmen, dass die Reformen viele Jahre in Anspruch nehmen werden.

    Die Rolle Ungarns bei den EU-Beitrittsverhandlungen der Ukraine

    Die Beziehungen zwischen der Europäischen Union und dem Mitglied Ungarn sind konfliktbeladen. Bei wichtigen Entscheidungen in der EU ist bisher die Einstimmigkeit der Mitgliedsländer gefordert - was der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán in der Vergangenheit immer wieder für Blockaden genutzt hat.
    Orbán ist mit seinem autoritären Politikstil vor allem auf den eigenen Machtausbau bedacht. Vorgaben aus Brüssel akzeptiert er nur ungern – EU-Fördergelder dagegen schon.
    Die EU-Kommission hatte vor wenigen Wochen vorgeschlagen, mit den Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine sofort zu beginnen, obwohl das Land noch nicht alle Bedingungen für solche Gespräche vollständig erfüllt hatte. Dies sei aber greifbar nahe, argumentierte die EU-Kommission. 26 EU-Länder wollten dem Vorschlag folgen - nur Orbán sagte Nein. Er bezeichnete die Ukraine als das korrupteste Land der Welt.
    Nun ist der Beschluss für Beitrittsgespräche mit der Ukraine doch noch zustande gekommen - unter sehr ungewöhnlichen Umständen. Vor der Abstimmung auf dem EU-Gipfel am 14. Dezember 2023 verließ Orbán den Raum und stimmte nicht mit ab. Entsprechend erhob niemand Einspruch, als EU-Ratspräsident Charles Michel das Thema aufrief.

    Blockadedrohungen verzögern den Gipfelbeginn

    Orbán hatte nach Angaben mehrerer EU-Diplomaten zuvor ausdrücklich sein Einverständnis gegeben, dass in seiner Abwesenheit über die Aufnahme von Beitrittsgesprächen entschieden wird. Dies ist nach der Geschäftsordnung möglich. Als Erklärung für sein Verhalten nannte der ungarische Premier später auf seiner Facebook-Seite, dass er sich nicht an der "schlechten Entscheidung" des Gipfels habe beteiligen wollen.
    Die Wende kam überraschend, denn zuvor hatten Blockadedrohungen des ungarischen Ministerpräsidenten sogar den Beginn des EU-Gipfels in Brüssel verzögert.
    EU-Diplomaten vermuteten, dass es Orbán darum ging, den Druck zu erhöhen, um weitere eingefrorene EU-Mittel für sein Land freizupressen. Andererseits hatte der Rechtspopulist zuletzt mehrfach behauptet, auch nach einer Freigabe von Geldern beim Thema Ukraine nicht klein beigeben zu wollen.
    Die Macht, die das Einstimmigkeitsprinzip den einzelnen EU-Staaten verleiht, nutzte Orbán auf dem Gipfel doch noch und blockierte Finanzhilfen für die Ukraine. Die EU hat dem Land 50 Milliarden Euro in Aussicht gestellt, konnte sich aber in Brüssel wegen des Widerstands Ungarns nicht auf einen formalen Beschluss einigen.
    In diesem Punkt hat Orbán die EU-Haushaltsverhandlungen inklusive neuer Ukraine-Hilfen mit der Auszahlung der eingefrorenen EU-Gelder für sein Land verknüpft. In einem Fernsehinterview bezeichnete er die Situation als "eine ausgezeichnete Chance für Ungarn, den Rest der zurückgehaltenen Mittel zu erhalten".

    Zehn Milliarden Euro für Ungarn

    Kurz vor dem Gipfel hatte die EU-Kommission bereits mitgeteilt, rund zehn Milliarden Euro an zurückgehaltenen Mitteln an Ungarn zu überweisen, weil mit Justizreformen Auflagen erfüllt worden seien. Weitere Mittel hält die Kommission aber noch unter Verschluss.
    Eine Entscheidung über die Ukraine-Hilfen soll nach Angaben von EU-Ratspräsident Charles Michel und des niederländischen Ministerpräsidenten Mark Rutte im Januar fallen.

    Wann könnte ein möglicher EU-Beitritt der Ukraine stattfinden?

    Wann die Ukraine der EU beitreten kann, ist schwer zu sagen: In der Praxis verläuft der Beitrittsprozess sehr unterschiedlich. Finnland wurde in weniger als drei Jahren Mitglied, während die Türkei bereits seit 2005 Verhandlungen führt, die momentan auf Eis liegen. Finnland erfüllte die Kriterien rasch, während die EU bei der Türkei weiterhin demokratische und rechtsstaatliche Defizite moniert.
    Konflikte mit Ländern, die bereits in der EU sind, können den Beitrittsprozess ebenfalls beeinflussen, wie im Fall von Nordmazedonien. Das Land erhielt 2020 grünes Licht für Beitrittsverhandlungen, nachdem es seinen Namen von Mazedonien in Nordmazedonien geändert hatte. Zuvor wurde ein jahrzehntelanger Streit mit Griechenland über den Namen des Landes beigelegt. Ein Sprachenstreit mit Bulgarien verhindert nun jedoch den Start von offiziellen Beitrittsgesprächen.
    Karte zeigt EU-Beitrittskandidaten (Stand 8.11.2023)
    EU-Beitrittskandidaten (Stand 8.11.2023) (Deutschlandradio / Andrea Kampmann)
    Der Beitritt zur EU ist in der Regel ein langwieriger Prozess, der von der EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen als "leistungsabhängig" beschrieben wird. Dieser Prozess erfordert, dass Beitrittskandidaten schrittweise den gesamten Rechtsbestand der EU übernehmen. Die Ukraine hatte die EU-Mitgliedschaft vier Tage nach Beginn des russischen Angriffskriegs im Februar 2022 beantragt und erhielt im Juni 2023 den Kandidatenstatus.

    Engere Beziehungen seit 30 Jahren

    Engere Beziehungen zwischen EU und Ukraine bestehen seit fast 30 Jahren. 1994 unterzeichnete die Staatengemeinschaft ein Partnerschafts- und Kooperationsabkommen mit der Ukraine, das 1998 in Kraft trat. Das nach Russland flächenmäßig zweitgrößte Land Europas wurde 2004 zu einem vorrangigen Partner der EU, ein Assoziierungs- und Handelsabkommen trat 2017 in Kraft.
    EU-Ratspräsident Charles Michel hat in Aussicht gestellt, dass die EU möglicherweise ab 2030 für die Aufnahme weiterer Länder bereit sein könnte. Auf dem Brüsseler Gipfel Mitte Dezember 2023 wurde nicht nur die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine, sondern auch mit der Republik Moldau beschlossen.
    Weitere Länder haben einen Kandidatenstatus. Dazu zählen Georgien, Türkei, Serbien, Montenegro, Albanien, Nordmazedonien und Bosnien und Herzegowina. Auch der Kosovo will in die EU, wird aber von fünf EU-Ländern bisher nicht anerkannt.

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