Laut Angaben des Bundesinnenministeriums hat die Bundespolizei über 320.000 Geflüchtete aus der Ukraine in Deutschland festgestellt (Stand: 08.04.22). Die tatsächliche Zahl könnte aber höher liegen, da es keine festen Grenzkontrollen zu EU-Ländern wie Polen gibt und für die Kriegsflüchtlinge keine Pflicht gilt, sich registrieren zu lassen. Ukrainer und Ukrainerinnen mit biometrischem Pass dürfen sich ohne Visum für 90 Tage frei innerhalb der EU bewegen.
In Deutschland sollen ukrainische Geflüchtete ab dem 1. Juni 2022 wie anerkannte Asylbewerber behandelt werden. Dadurch haben sie Anspruch auf Grundsicherung und Zugang zum Gesundheitssystem, außerdem soll ihnen so der Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtert werden. Die Kosten wird dabei überwiegend der Bund zahlen.
- Wer flüchtet aktuell aus der Ukraine und wie viele Menschen sind es?
- Wohin wenden sich die Flüchtenden?
- Welchen Status haben die Ankommenden in der EU, wie lange dürfen sie bleiben?
- Welche Maßnahmen plant die Bundesregierung?
- Welche Chancen haben die Menschen auf dem Arbeitsmarkt?
- Wie könnte sich die Integration von Flüchtenden zum Beispiel auf die Pflegebranche auswirken?
- Welche Unterschiede gibt es zur Flüchtlingssituation von 2014/15?
Wer flüchtet aktuell aus der Ukraine und wie viele Menschen sind es?
Die Grenzen zwischen der Ukraine und der Europäischen Union sind weiter offen. Allerdings hat die ukrainische Regierung verfügt, dass 18- bis 60-jährige Männer im Land bleiben und Wehrdienst leisten müssen. Daher sind es vor allem Frauen, Kinder und ältere Menschen, die derzeit in der EU Schutz suchen.
Nach Angaben der Vereinten Nationen sind inzwischen mehr als vier Millionen Menschen aus der Ukraine geflohen. Rund die Hälfte von ihnen sind Kinder, wie das Kinderhilfswerk UNICEF mitteilte. Hinzu kämen 2,5 Millionen Kinder, die innerhalb des Landes vor dem Krieg fliehen mussten. Damit sei mehr als jedes zweite Kind nicht mehr in seinem bisherigen Zuhause.
Laut Statista hatte die Ukraine im Jahr 2020 rund 41,48 Millionen Einwohner, das Durchschnittsalter betrug damals 41,2 Jahre (Altersmedian).
Wohin wenden sich die Flüchtenden?
In Polen, das eine mehr als 500 Kilometer lange Grenze mit der Ukraine verbindet, sind bisher die meisten Geflüchteten eingetroffen. Laut UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR wurden dort mehr als 2,3 Millionen Menschen registriert. Es gibt jedoch keine offiziellen Angaben dazu, wie viele der Kriegsflüchtlinge in Polen bleiben oder in andere EU-Staaten weiterreisen. Andere wichtige Aufnahmeländer sind Ungarn, die Slowakei, Moldawien und Rumänien.
Viele Geflüchtete haben Verwandte oder Freunde in Europa, bei denen sie zunächst unterkommen können. Große ukrainische Communities gibt es unter anderem auch in Spanien oder Italien. Nach Polen waren schon nach der Annexion der Krim und dem Krieg in der Ostukraine 2014 viele Ukrainer und Ukrainerinnen geflohen.
Welchen Status haben die Ankommenden in der EU, wie lange dürfen sie bleiben?
Die EU-Innenminister haben bereits bei einem Treffen in Brüssel Anfang März die sogenannte Massenzustrom-Richtlinie aktiviert. Diese war bereits 2001 als Konsequenz der Balkankriege geschaffen worden. Geflüchtete erhalten damit auch ohne Asylantrag zunächst für ein Jahr einen Schutzstatus. Eine Verlängerung auf bis zu drei Jahren ist möglich. Zugleich werden den Menschen Mindeststandards wie der Zugang zu Sozialhilfe, eine Arbeitserlaubnis und die Teilnahme von Kindern am Schulunterricht garantiert.
Diese Richtlinie gilt für Inhaber eines ukrainischen Passes und für alle, die ihren regelmäßigen Aufenthalt in der Ukraine haben. Wer nur für einen begrenzten Zeitraum in dem Land war, soll über die EU einen sicheren Transit in die Heimat bekommen. EU-Innenkommissarin Ylva Johansson und Bundesinnenministerin Nancy Faeser sprachen von einer „historischen Entscheidung“.
Durch die Visumsfreiheit und die Anwendung der Massenzustrom-Richtlinie besteht für die Ukrainerinnen und Ukrainer die grundsätzliche Möglichkeit, in die EU zu migrieren. Sie können außerdem weiterhin einen Asylantrag in einem Mitgliedsland der Union stellen.
Welche Maßnahmen plant die Bundesregierung?
Ab dem 1. Juni sollen Geflüchtete aus der Ukraine in Deutschland Grundsicherung beziehen können, das haben Bund und Länder am 7. April 2022 beschlossen. Die Kosten dafür trägt der Bund. Damit werden die Kriegsflüchtlinge bei den Leistungen für ihre Lebenshaltungskosten behandelt wie anerkannte Asylbewerber. Wenn sie dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen, können sie also Hartz IV beziehen, andernfalls Sozialhilfe. Die Geflüchteten werden damit zudem vollen Zugang zum Gesundheitssystem haben. Sie haben damit mehr Ansprüche als Asylbewerber.
Bund und Länder bekräftigen, dass die Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine nach dem so genannten Königsteiner Schlüssel verteilt werden sollen, der sich vor allem nach der Wirtschaftskraft der Länder richtet. Darauf hatten sie sich bereits im März geeinigt. Der Bund ist für die Koordinierung zuständig und informiert die betreffenden Länder jeweils über die anstehenden Verteilungen. Für Menschen mit Anspruch auf Grundsicherung gibt es eigentlich keine Möglichkeit, sie einem Ort zuzuweisen. Bundeskanzler Olaf Scholz betonte aber, dass man hier die Möglichkeit schaffen werde, einen Wohnsitz zuzuweisen, sofern berufliche oder familiäre Gründe dem nicht entgegenstehen.
Die Geflüchteten sollen zudem schnell die Möglichkeit bekommen, zu arbeiten. Dazu werden sie Zugang zu den Jobcentern haben und können unmittelbar eine Arbeit in Deutschland aufnehmen. Die Ausländerbehörden erlauben bei der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis ausdrücklich die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit. Eine Zustimmung der Bundesagentur für Arbeit ist nicht nötig.
Der Kompromiss zwischen Bund und Ländern ist bis Ende des Jahres 2022 gültig. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und die Länderchefs und -chefinnen wollen Anfang November über die Entwicklung der Flüchtlingssituation erneut beraten und eine Regelung für das Jahr 2023 vereinbaren.
Welche Chancen haben die Geflüchteten auf dem Arbeitsmarkt?
"Wir haben unseren Arbeitsmarkt von Anfang an geöffnet und erleichtern so auch pragmatisch den Weg in Arbeit für die Geflüchteten", sagte Hubertus Heil der Deutschen Presse-Agentur nach den Beschlüssen von Bund und Ländern vom 7. April 2022. Durch den Zugang zu den Jobcentern sei sichergestellt, dass soziale Unterstützung, Arbeitsvermittlung, Unterstützung bei der Kinderbetreuung und psychosoziale Angebote aus einer Hand kommen.
Wichtige Voraussetzungen dafür, dass Kriegsvertriebene möglichst schnell gute Arbeitsmöglichkeiten finden und wahrnehmen können, sei die Erfassung von Qualifikationen, sagte Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) nach einem Spitzengespräch mit Arbeitgebern, Gewerkschaften, Kammern, Handwerk, Bundesagentur für Arbeit und anderen am 30. März in Berlin. genügend Sprachkursangebote und erleichterte Anerkennungen von ukrainischen Abschlüssen. Dafür werde er sich einsetzen und mit den Ländern über ein gemeinsames Vorgehen sprechen, versprach Heil.
Zugleich betonte der Minister, dass die Flüchtlinge nicht in erster Linie als Arbeitskräfte gesehen würden. Priorität sei derzeit, ihnen Schutz zu bieten und sie zu versorgen. Viele wollten aber arbeiten. Rechtlich sei für die Vertriebenen der sofortige Zugang zum Arbeitsmarkt zwar gesichert. Aber „lebenspraktisch“ gebe es eine Fülle von Fragen, die zu klären seien. Dazu gehöre auch mehr Kinderbetreuungsmöglichkeiten, wobei aus dem Kreis der Geflüchteten Betreuerinnen und Betreuer eingesetzt werden könnten.
Zentral sei, die Erfassung der Qualifikationen. Rund die Hälfte der Ukrainerinnen und Ukrainer hätten auch eine akademische Ausbildung. Doch die Berufe seien nicht identisch mit denen in Deutschland. Entsprechend Ausgebildete sollten nicht als Hilfskräfte arbeiten müssen, sondern passende Stellen in Deutschland finden.
Gerade die schnelle Anerkennung der Qualifikationen von Erzieherinnen und Erziehern sowie von Lehrerinnen und Lehrern sei jetzt wichtig, sagte die stellvertretende Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), Anja Piel: "Weil die natürlich gebraucht werden jetzt, in den Willkommensklassen in den Schulen und auch zur Unterstützung in den Kindergärten."
Durch die sogenannte Massenzustrom-Richtlinie der EU sind die Voraussetzungen geschaffen worden, dass Menschen aus der Ukraine in der gesamten EU leben und arbeiten dürfen, zunächst zumindest für ein Jahr. Auch mittelfristig sei die Perspektive auf dem Arbeitsmarkt sehr gut, meint Herbert Brücker vom Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung in Nürnberg (IAB). Allerdings müssten die Ukrainerinnen auch dorthin geschickt werden, wo große Arbeitsmärkte seien und nicht in strukturschwache Gebiete, betonte Brücker im Dlf.
Laut IAB lebten schon vor Kriegsbeginn mehr als 320.000 Ukrainerinnen und Ukrainer in Deutschland, mehrheitlich Frauen. Mit einem Akademiker-Anteil von rund der Hälfte waren Migrantinnen und Migranten aus der Ukraine in der Vergangenheit überdurchschnittlich gut qualifiziert. Doch die Anerkennungsverfahren in Deutschland sind aufwändig. Möglicherweise einer der Gründe, warum eine Vielzahl der aus der Ukraine stammenden Frauen hierzulande in Dienstleistungsberufen wie der Pflege tätig sind. Männliche Berufstätige aus der Urkaine arbeiten dagegen überwiegend im Bau oder in handwerklichen Berufen. "Aber die Dienstleistung dominieren relativ klar das Geschehen. Und das wird nach unserer Einschätzung auch jetzt für die neue Fluchtwelle gelten", so Brücker.
Das IAB fordert in einer ersten Einschätzung für eine gelungene Arbeitsmarktintegration:
- Ansiedlung in prosperierenden Ballungsräumen
- Arbeitsmarktintegration durch systematische Sprachförderung
- schnelle Anerkennung beruflicher Abschlüsse
- umfassende Bildungs- und Weiterbildungsangebote
- schnelle Aufnahme der Arbeitsvermittlung
- Integration von Kindern in Bildungs- und Betreuungseinrichtungen
- gezielte Förderung der Integration geflüchteter Frauen in Arbeitsmarkt, Bildungssystem und Gesellschaft
Welche Folgen könnte die Integration von Kriegsflüchtlingen auf den Arbeitsmarkt haben?
Dies ist momentan noch nicht abzusehen. Warnende Stimmen kommen aus der Pflegebranche. So befürchtet etwa der Bundesvorsitzende des Bundesverbandes für häusliche Betreuung und Pflege (VHBP), Daniel Schlör, negative Auswirkungen für rumänische und polnische Betreuungskräfte, die in deutschen Haushalten pflegebedürftige Menschen versorgen: Bis zu 300.000 Ukrainerinnen würden künftig schätzungsweise für die Hälfte des Honorars arbeiten, um ihre Familien zu ernähren, sagte Schlör, im Interview mit "Report Mainz".
Nach Recherchen des ARD-Politikmagazins seien viele Ukrainerinnen bereits jetzt für nur 900 Euro netto im Monat in deutschen Haushalten tätig. Aufgrund ihrer Notlage seien sie bereit, auch für Niedriglöhne zu arbeiten. Betreuungskräfte aus Polen und Rumänien, die in der Regel mehr als 1.600 Euro monatlich verdienen, würden so aus dem Markt gedrängt, befürchtet Schlör.
Welche Unterschiede gibt es zur Flüchtlingssituation von 2014/15, welche Lehren wurden gezogen?
Im Gegensatz zu 2014/15, als hunderttausende Flüchtende vor allem aus Syrien und Afghanistan nach Europa kamen, nehmen nun auch osteuropäische Staaten Migrantinnen und Migranten auf. Vor sieben Jahren war es noch zum Streit um die Verteilung der Ankommenden innerhalb der EU gekommen. Dass dies diesmal anders ist, liegt nach Einschätzung von Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) vor allem an der geographischen Lage der Ukraine und ihrer Nähe zur EU. "Ich glaube, dass Krieg mitten in Europa diese Lage noch mal ein Stück weit verändert hat und dass deshalb sich die Mitgliedsstaaten dort auch bewegt haben", sagte die SPD-Politikerin Anfang März im Dlf.
Zudem sei die rechtliche Grundlage auch komplett anders als 2015. "Damals waren alle nach Asylrecht zu beurteilen, heute reisen die Ukrainerinnen und Ukrainer visumsfrei ein, die einen biometrischen Pass haben", betonte Faeser am 15. März im Dlf. Wichtig sei nun aber, dass die von den europäischen Staaten abgegebenen Versprechen, dass "alle solidarisch Geflüchtete aufnehmen", auch tatsächlich von allen umgesetzt werden, sagte die Innenministerin.
Vor dem Hintergrund der Erfahrungen von 2015 verwies Wirtschaftswissenschaftler Brücker darauf, die Ankommenden nicht wie damals in Regionen unterzubringen, wo die Arbeitslosigkeit hoch sei. Die Forschung zeige, dass dies der Integration schade. Man müsse also Arbeitsmarktkriterien und auch wirtschaftliche Kriterien für die Verteilung anlegen. Zudem dürfe man auch nicht unterschätzen, das die Geflüchteten aus der Ukraine Kontakte hätten. "Die persönlichen Kontakte helfen dann, in den Arbeitsmarkt hineinzukommen", so Brückner.
Seitens der Bundesregierung will man es den Ankommenden jedoch nicht gänzlich alleine überlassen, wo sie wohnhaft werden. Innenministerin Faeser betonte, dass aufgrund der stark gestiegenen Flüchtlingszahlen eine Steuerung notwendig werde, insbesondere, um die großen Metropolen zu entlasten. "Wir sind gerade dabei, die Geflüchteten in Deutschland so zu verteilen, dass mehr Gerechtigkeit da reinkommt",
sagte Faser im Dlf.
"Im Moment sind die großen Metropolstädte wie Berlin, Hamburg, München sehr stark belastet."
Wie Bund und Länder am 7. April 2022 beschlossen haben, sollen die Städte mit den Belastungen aber nicht alleine bleiben: "Die Länder werden sich solidarisch zeigen, um diejenigen Länder zu unterstützen, in denen besonders viele Geflüchtete Zuflucht gefunden haben", heißt es in der am Donnerstag getroffenen Vereinbarung. Mit Ländern, die als eine Art Drehkreuze bei der Flüchtlingsverteilung fungieren, will der Bund eine Kompensation der dadurch entstehenden Kosten vereinbaren.
(Quellen: Gudula Geuther, IAB, UNHCR, Statista, AFP, epd, og, al, pto)