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Flüchtlinge aus der Ukraine
Faeser (SPD): "Schnell eine einheitliche europäische Lösung finden"

Um Flüchtlingen aus der Ukraine Zugang in die EU-Länder zu ermöglichen, hat Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) schnelles Handeln gefordert. Sie setzt dabei auf das Instrument der "Massenzustromsrichtlinie". Darüber hinaus erhoffe sie sich ein Umdenken beim Thema Asyl generell, sagte sie im Dlf.

Nancy Faeser im Gespräch mit Moritz Küpper |
Flüchtlinge gehen auf einen Grenzübergang zu
Ukrainische Flüchtlinge auf dem Weg zum Grenzübergang in Korczowa, Polen (picture alliance / Beata Zawrzel / Anadolu Agency)
Die Zahl der Flüchtlinge, die vor dem Krieg in der Ukraine fliehen, steigt rasend schnell. Eine Woche nach dem Einmarsch der russischen Truppen hat die Zahl die Millionenmarke bereits überschritten, wie UN-Flüchtlingskommissar Filippo Grandi  am Donnerstag (03.03.2022) über den Kurznachrichtendienst Twitter mitteilte. In Brüssel kommen die EU-Innenminister zusammen, um die weitere Lage der Flüchtlinge zu erörtern und eine humanitäre Krise abzuwenden.
Im Interview mit dem Deutschlandfunk hat Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) eine schnelle europäische Lösung angemahnt. Sie berief sich auf eine EU-Richtlinie, die sogenannte Massenzustromsrichtlinie, die es Flüchtlingen ermögliche, unbürokratisch einen Aufenthaltstitel für zunächst ein Jahr zu bekommen. Beim Treffen der EU-Innenminister wolle man erreichen, dass diese Richtlinie in Gang gesetzt werde, sagte Faeser. Ein Verteilungsschlüssel für ankommende Flüchtlinge wird nach Einschätzung der Ministerin nicht nötig sein.
Nancy Faeser (SPD), Bundesministerin für Inneres und Heimat, steht an einem Rednerpult
Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) (imago images/photothek, Florian Gaertner)
Faeser äußerte die Hoffnung, dass es angesichts der aktuellen Situation auch Fortschritte für ein gemeinsames Asylsystem der EU geben werde. Sie setze auf ein Umdenken bei den Mitgliedsländern, dass man die Herausforderungen nur gemeinsam bewältigen könne. Zuletzt hatten sich Länder wie Polen und Ungarn in Fragen einer gemeinsamen Asylpolitik quergestellt. Diesmal habe es erstmals einen europäischen Schulterschluss zwischen allen Staaten gegeben, sagte Faeser. "Ich habe kein Land erlebt, was nicht gesagt hätte, wir nehmen selbstverständlich Geflüchtete auf." Dabei spiele sicher auch die geographische Lage der Ukraine und die Nähe zur EU eine Rolle.
Was ist die Massenzustromsrichtlinie?
Die EU-Kommission hat vorgeschlagen, die Massenzustromsrichtlinie im Zusammenhang mit den Flüchtlingen aus der Ukraine erstmals zur Anwendung kommen zu lassen. Sie war als Konsequenz der Balkankriege entstanden. Die Richtlinie verleiht einen Schutzstatus von bis zu drei Jahren und gewährt Flüchtlingen gleiche Rechte in jedem EU-Mitgliedsland - etwa Zugang zu Arbeitsmärkten und Bildung. Dafür benötigt es kein langwieriges Asylverfahren, auch wenn es den Flüchtlingen freisteht, dies zusätzlich zu durchlaufen. Es gilt als sicher, dass es für die Richtlinie die erforderliche Mehrheit unter den EU-Innenministern gibt.

Das Interview in voller Länge:
Moritz Küpper: Frau Faeser, auf wie viele Menschen, die Zuflucht suchen in Deutschland, in der Europäischen Union, stellen Sie sich aktuell ein?
Nancy Faeser: Wir können das aktuell noch nicht absehen, wie viele tatsächlich in Deutschland ankommen. Bislang sind die Zahlen noch sehr gering. Der UNHCR – das haben Sie eben auch in Ihrem Bericht gebracht – hat bislang gesagt, dass zirka 600, 700.000 Binnenvertriebene in der Ukraine sind, die vor allen Dingen jetzt in den Nachbarländern Schutz gesucht haben, und bislang sind erst rund 5500 Geflüchtete in Deutschland angekommen. Aber wir wissen natürlich, dass das mehr wird.

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"Wir sehen diesmal eine ganz andere Bewegung"

Küpper: Es gibt auch andere Zahlen; teilweise ist von rund einer Million Flüchtlinge die Rede nach rund einer Woche Krieg. Lassen sich die Dimensionen noch gar nicht absehen?
Faeser: Noch nicht so richtig zumindest. Wir sehen ja diesmal bei den Geflüchteten eine ganz andere Bewegung. Viele gehen zu Familien, zu Angehörigen, zu Freunden, Bekannten und kommen dort unter. Sie werden mitunter an den Grenzen abgeholt. Das ist eine sehr, sehr große humanitäre Hilfe, die wir da gerade sehen. Aber jetzt geht es für uns natürlich darum: Wie können wir den Menschen, die kommen, schnell und unbürokratisch dann helfen.
Küpper: Worauf kommt es da jetzt an?
Faeser: Jetzt geht es vor allen Dingen darum, dass wir schnell eine einheitliche europäische Lösung finden. Deswegen haben wir letzten Sonntag hier in Brüssel schon mit den Innenministern aus der EU darüber beraten, was können wir tun. Es gibt für diesen Fall eine Richtlinie, die in Gang gesetzt werden kann durch die Kommission, wonach Geflüchtete aus einem Kriegsgebiet sehr unbürokratisch einen Aufenthaltstitel für ein Jahr erhalten und damit auch arbeiten können in den jeweiligen Ländern, und das scheint mir in diesem Fall sehr angemessen. Deswegen gab es erstmals einen europäischen Schulterschluss zwischen allen Staaten, sich darauf zu verständigen und zu sagen, ja, jetzt ist so ein Fall nach dieser großen humanitären Katastrophe, nach diesem fürchterlichen völkerrechtswidrigen Angriff der Russen auf die Ukraine wäre jetzt der Zeitpunkt, diese Richtlinie in Gang zu setzen, und das wollen wir heute beim offiziellen Innenrat in Brüssel auch erreichen.

"Der Konsens überrascht micht nicht"

Küpper: Sie haben gerade diese große Einigkeit, diesen Konsens betont oder geschildert. Von dem jahrelangen Streit auf europäischer Ebene über Migration, Flucht ist aktuell nichts mehr übrig. Überrascht Sie dieser Konsens nun?
Faeser: Nein! Angesichts dieser furchtbaren Katastrophe und der wirklich schrecklichen Lage, in der die Menschen in der Ukraine sind, überrascht mich das nicht und ist vielleicht auch ein gutes Signal, dass jetzt innerhalb der EU auch die Einsicht darüber bei allen vorherrscht. Ich habe kein Land erlebt am Sonntag, was nicht gesagt hätte, wir nehmen selbstverständlich Geflüchtete auf.
Küpper: Aber 2015/2016 waren es ja auch Menschen, die vor Krieg geflohen sind. Damals, schien es, war die Lage ein wenig anders, die politische Lage vor allem.
Faeser: Die politische Lage in der Frage, wer wie aufnahmebereit ist, mit Sicherheit. Ich glaube, dass Krieg mitten in Europa diese Lage noch mal ein Stück weit verändert hat und dass deshalb sich die Mitgliedsstaaten dort auch bewegt haben. Ich erhoffe mir davon ein Signal, dass man versteht in den europäischen Staaten, dass es wichtig ist, gerade in diesen Fragen zusammenzuarbeiten und eine einheitliche Vorgehensweise auch zu haben.
Ein Flüchtling läuft eine Straße entlang, an der Seite eine lange PKW-Schlange (1. März 2022)
Ein Flüchtling läuft auf den Shehyni Checkpoint an der ukrainisch-polnischen Grenze zu (picture alliance / ZUMAPRESS.com)

"Geographische Nähe spielt eine große Rolle"

Küpper: Liegt diese Einstimmigkeit jetzt vor allem an der Nähe zu den Menschen dort in der Ukraine? Sie haben es schon gesagt, die geographische Nähe teilweise auch.
Faeser: Ja, mit Sicherheit spielt diese geographische Nähe eine große Rolle und natürlich auch das große Leid, was durch diesen Krieg dort gerade angerichtet wird. – Klar!
Küpper: Denken Sie, dass es nun eine Möglichkeit geben könnte? Wir sind gerade in der Aktualität. Dort muss, Sie haben es gesagt, unbürokratisch und schnell geholfen werden, und das scheint es ja zu geben. Aber denken Sie, dass über dieses Thema das große Thema Asyl und Migration in der Europäischen Union noch mal neu angegangen werden kann, dass auch in Ländern wie Polen und Ungarn, die sich damals ja eher quergestellt haben, es zu einem Umdenken kommen könnte?
Faeser: Ich erhoffe mir das. Wir sind ja auch daran, mit den europäischen Staaten an einer Lösung zu arbeiten, wie wir ein gemeinsames Asylsystem in Europa etablierten können und wie wir dort auch schrittweise vorankommen. Da hat Frankreich jetzt in seiner Ratspräsidentschaft einen guten Aufschlag gemacht und wir haben das auch in diesem Prozess unterstützt als Bundesrepublik Deutschland, und ich erhoffe mir schon, dass jetzt ein Umdenken bei den Staaten eintritt im Sinne von, wir können das nur gemeinsam bewältigen, solche Krisen. Leider ist es ja so, dass solche furchtbaren humanitären Katastrophen immer mal wieder irgendwo auf der Welt auftauchen, und da wäre es einfach gut, wenn die Europäische Union ein einheitliches Vorgehen hätte.
Küpper: Sie haben es gerade geschildert: Das nun angestrebte Verfahren sieht vor, dass die Menschen hier bis zu drei Jahre Schutz bekommen sollen, zunächst für ein Jahr, das kann aber verlängert werden um zwei weitere Jahre. Warum eigentlich drei Jahre?
Faeser: Es ist damals bei der Richtlinie eine Zeit gewählt worden, die man für angemessen hielt. Diese Richtlinie ist ins Leben gerufen worden damals nach dem Bürgerkrieg in Ex-Jugoslawien und damals hat man die Zeit für angemessen gehalten, weil man davon ausgeht, dass die Geflüchteten aus einem Krieg auch in ihr Heimatland wieder zurück möchten. Deswegen ist diese Zahl in diesem Verfahren.

"Viele Menschen wollen wieder zurück"

Küpper: Gehen Sie davon aus in diesem aktuellen Fall, sollte dieser Krieg hoffentlich bald vorbei sein, dass die Menschen dann wieder zurück wollen?
Faeser: Ich glaube schon, dass viele der Menschen wieder zurück wollen, ja.
Küpper: Stand jetzt ist es ja so, dass diese Menschen dann auch frei wählen können, wenn ich das richtig verstanden habe, wo sie bleiben wollen innerhalb der Europäischen Union. Lässt sich das politisch steuern?
Faeser: Ich glaube, dass jetzt innerhalb der Europäischen Union die Menschen aus der Ukraine vor allen Dingen dort hingehen, wo sie viele Freunde, Verwandte, Bekannte haben. Das sind zum Beispiel auch Länder wie Spanien und Italien. Die haben große ukrainische Communities, wo viele Geflüchtete mit Sicherheit gerne hingehen. Deswegen glaube ich schon, dass es einen relativ unterschiedlichen Gang der Flüchtlinge innerhalb der EU geben wird.
Küpper: Aber einen Verteilungsschlüssel braucht es da nicht?
Faeser: Den braucht es da nicht, wenn die Aufnahme so funktioniert. Die Europäische Kommission hätte aber auch rechtlich die Möglichkeit, einen Verteilungsschlüssel festzulegen. Bislang macht sie aber von dieser Möglichkeit keinen Gebrauch. Ich denke auch nicht, dass das nötig sein wird.

"Hilfsbereitschaft ist sehr, sehr groß"

Küpper: Sie haben schon zugesagt, dass die Kommunen, die Länder hierzulande finanzielle Hilfen bekommen sollen. Sind unsere Kommunen, unsere Länder für die Aufnahme gerüstet?
Faeser: Ja. Ich finde, die Hilfsbereitschaft der Kommunen, unserer Städte, unserer Länder sehr, sehr groß in diesen Tagen. Dafür darf ich mich auch noch mal herzlich bedanken. Und ich bin sicher, dass sie auch damit gut umgehen können, wenn jetzt Geflüchtete vermehrt aus der Ukraine kommen.
Küpper: Schauen wir noch einmal auf die Situation an der Grenze. Vor allem Polen ist es ja, aber auch andere Länder. Ist der Grenzübergang da jetzt einfach offen, oder wie müssen wir uns das vorstellen?
Faeser: Der Grenzübergang ist theoretisch offen, aber die Ukraine macht ihn von ihrer Seite zu, weil sie im Moment die 18- bis 60-jährigen Männer rauszieht und in den Wehrdienst einzieht und zum Mitkämpfen da behält. Das heißt, es sind auch ziemliche menschliche Dramen an den Grenzen im Moment zu sehen, dass sich Familien dann von ihren Familienvätern verabschieden müssen und dann vor allen Dingen Frauen und Kinder über die Grenze kommen. Aber es gibt von anderer Seite keinerlei Grenzschließung. Alle Geflüchteten können dann über die Grenze kommen.

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Küpper: Es ist noch gar nicht so lange her, da kam es vor allem über Belarus zu Flüchtlingsbewegungen. Da wurden Menschen sogar extra an die Grenze gebracht. Das war in gewisser Form eine Form der sehr zynischen Kriegsführung. Könnte so etwas wieder drohen?
Faeser: Man darf so was nie ausschließen. Im Moment stehen andere Dinge im Vordergrund. Jetzt geht es vor allen Dingen um schnelle unbürokratische humanitäre Hilfe für wirklich viele Geflüchtete vom Krieg, und das mitten in Europa.
Küpper: Dieser Krieg spielt die Rolle. Gestern kam die Meldung und auch die Bestätigung unter anderem aus Ihrem Haus, dass die Bundesregierung eigene Staatsbürger nicht grundsätzlich daran hindern werde, zu den Kämpfen in die Ukraine zu reisen, seien sie entweder russische Seite oder ukrainische Seite. Man wolle nur Reiseabsichten deutscher Staatsangehöriger mit extremistischer Gesinnung verhindern. Warum diese Entscheidung?
Faeser: Na ja. Sie können Angehörige der Bundesrepublik Deutschland, die einen ukrainischen Hintergrund haben, nicht daran hindern, in ihr Heimatland zu gehen, um sich dort an den Kämpfen zu beteiligen. Dafür haben wir keine Rechtsgrundlage zu sagen, sie dürfen nicht ausreisen. Was wir aber machen können ist, hier zu schauen …

Extremisten - "Da wollen wir die Ausreise verhindern"

Küpper: Sie sprechen ja von deutschen Staatsbürgern.
Faeser: Ja, aber mit ukrainischem Hintergrund. – Und wir reden dann noch von der zweiten Gruppe und da versuchen wir, die Ausreise zu verhindern. Das sind nämlich Extremisten. Da wollen wir verhindern, dass sie sich an kriegerischen Aktionen beteiligen.
Küpper: Als es damals um den Syrien-Krieg ging, da war die Bundesregierung restriktiver, hat unter anderem Reisepässe eingezogen. Warum machen Sie das jetzt nicht?
Faeser: Na ja. Ich glaube, dass jetzt der Hilferuf von der Ukraine an ihre ehemaligen Staatsangehörigen recht groß ist, und dem können wir uns kaum in den Weg stellen in diesen Tagen. Aber was für uns wichtig ist und da muss man ja sehr genau hingucken: Wer reist dort aus? Und wenn wir feststellen, dass es mit extremistischem Hintergrund ist, dann verhindern wir das jetzt auch. Das haben wir ja damals in Syrien auch gemacht.
Küpper: Frau Faeser, noch ein Punkt zum Abschluss, der daran aber andockt. In der Vergangenheit war es häufiger so, dass Konflikte auch im Ausland, beispielsweise in der Türkei, sich auch hierzulande wiedergespiegelt haben, dass es auch hierzulande Auseinandersetzungen gab zwischen verschiedenen Gruppierungen. Wir haben gerade über zwei Gruppen gesprochen. Fürchten Sie auch, dass dieser Konflikt zwischen Russland und der Ukraine auch in Deutschland zu Spannungen führen könnte?
Faeser: Befürchten ist das falsche Wort, aber wir sind natürlich sehr wachsam und aufmerksam, ob wir solche Bewegungen auch in Deutschland feststellen. Das ist natürlich ein Szenario, mit dem wir uns gerade beschäftigen, ob sich dieser Konflikt auch hier auf den Straßen auswirken könnte. Im Moment haben wir dafür noch keine Anhaltspunkte.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.