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Ukraine-Krise
Harms warnt vor "Unregierbarkeit"

Die Grüne Europa-Politikerin Rebecca Harms befürchtet, dass die Ukraine, zumindest in weiten Teilen des Ostens, "in die Unregierbarkeit stürzt". Harms forderte im DLF eine "Entsprechung des militärischen Drohpotenzials Russlands in der EU" und rasche wirtschaftliche Sanktionen.

Rebecca Harms im Gespräch mit Christine Heuer | 22.04.2014
    Rebecca Harms, Ko-Vorsitzende der Grünenfraktion im Europäischen Parlament, vor Mikrofonen bei einer Rede
    Rebecca Harms, Ko-Vorsitzende der Grünenfraktion im Europäischen Parlament. (dpa picture alliance / Peter Endig)
    Man müsse sich trauen, die wirtschaftliche gegenseitige Abhängigkeit der EU und Russlands zum Thema zu machen und das Verhältnis zu Russland neu überdenken, sagte die Ko-Vorsitzende der Grünenfraktion im Europäischen Parlament. Dafür brauche es eine gemeinsame europäische Strategie.
    Auf der anderen Seite müsse Russland seine Bereitschaft, in der Ukraine zu intervenieren, und angeblich unterdrückten Russen zur Hilfe zu eilen, beenden. Die eigentliche Lösung des Konflikts könne aber nur in der Ukraine selbst gefunden werden, meint die Ukraine-Expertin Harms.

    Das Interview mit Rebecca Harms in voller Länge:
    Christine Heuer: Nichts Neues heute nacht in der Ukraine, und das ist eine gute Nachricht, denn im Osten des Landes scheint sich das Krim-Szenario zu wiederholen. Milizen, von denen man nicht einmal sicher weiß, ob es nicht einfach russische Soldaten sind, rufen nach russischer Hilfe und verlangen Referenden zum Anschluss an den östlichen Nachbarn Kiew, wirkt hilflos. Und über alldem beharken sich Russland und die USA auf dem noch diplomatischen Parkett.
    Am Telefon ist Rebecca Harms, Fraktionsvorsitzende der Grünen im Europäischen Parlament, Spitzenkandidatin ihrer Partei bei der Europawahl und Ukraine-Expertin. Guten Morgen, Frau Harms.
    Rebecca Harms: Guten Morgen!
    Heuer: Wir haben gehört über die Schießerei in Slawjansk, das war das aufsehenerregendste Ereignis in der Ukraine an Ostern. Wie gefährlich finden Sie die Lage im Osten des Landes?
    Harms: Ich finde das, so wie alle anderen auch, sehr gefährlich, und zwar in erster Linie für die Ukraine selber, weil die Befürchtung ist einfach sehr naheliegend, die Entwicklung ist greifbar, dass dieses Land einfach in die Unregierbarkeit stürzt, zumindest in weiten Teilen des Ostens.
    Heuer: Wer steckt denn dahinter? Wir haben ja gehört, es wurden bei dieser Schießerei hinterher neue Dollarnoten und Visitenkarten vom Rechten Sektor gefunden. Das ist eigentlich zu platt, um echt zu sein. Handelt es sich hier um eine gezielte Provokation aus Russland?
    "Russland muss Truppenaufmarsch entlang der Grenze beenden"
    Harms: Ich kann aus der Ferne all das überhaupt nicht beurteilen. Aber was ich natürlich schon wahrnehme, ist, dass, obwohl Herr Lawrow diese sehr positiv klingende Vereinbarung von Genf unterschrieben hat, gleichzeitig in Moskau Putin in seiner großen Fragerunde für Journalisten erklärt hat, dass Russland weiterhin bereit ist, unterdrückten Russen außerhalb Russlands zu Hilfe zu eilen.
    Und ich glaube, dass eine ganz wichtige Veränderung notwendig ist, damit im Osten der Ukraine sich wieder was verändern kann: Russland muss die Bereitschaft zu intervenieren, diese Bereitschaft, angeblich unterdrückten Russen zu Hilfe zu eilen und auch den Aufmarsch seiner Truppen entlang der Westgrenzen Russlands beenden, damit nicht diese Separatisten, wer auch immer das vor Ort ist, immer damit operieren können, dass der starke Mann in Moskau bereit ist, im Osten der Ukraine allen zu helfen.
    Heuer: Wie kann man den Kreml denn dazu bewegen, sich diese Veränderung vorzunehmen? Die wäre ja sehr grundsätzlich.
    Harms: Das, was auf der russischen Seite das militärische Drohpotenzial ist, das braucht eine Entsprechung in erster Linie meiner Meinung nach in der Europäischen Union. Alle diejenigen, die sich bekennen zu dem Ziel, dass die Ukrainer ein Selbstentscheidungsrecht haben innerhalb der Grenzen ihres Landes – Genf hat ja die Krim sogar als Zugeständnis an Moskau schon ausgelassen dabei, muss man ja sagen. Aber alle diejenigen, die das erreichen wollen, dieses Selbstbestimmungsrecht für die Ukraine, die müssen zumindest bereit sein, ihr Verhältnis zu Russland neu zu denken, auch die wirtschaftlichen wechselseitigen Abhängigkeiten neu zu ordnen.
    Heuer: Nun setzt aber der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier weiter auf Diplomatie, wendet sich immer wieder gegen schärfere Sanktionen. Das halten Sie dann für den ganz falschen Weg?
    "Wechselseitige wirtschaftliche Abhängigkeit neu ordnen"
    Harms: Ich bin auch nicht der Meinung, dass alle Sanktionen jetzt sofort in Kraft gesetzt werden müssten. Das geht gar nicht. Das muss vorbereitet sein. Aber der Wille, das vorzubereiten, der muss auch da sein, meiner Meinung nach. Ich teile Frank-Walter Steinmeiers Anstrengungen, mit Diplomatie etwas zu erreichen, aber bisher haben wir das nicht geschafft.
    Und aus meiner Kenntnis der Ukraine, und ich würde sagen, das gilt um so mehr im Osten, ist es eben doch so, dass diejenigen, die sich nach Russland orientieren, dass die ermutigt werden durch diese starke Rolle Russlands, während diejenigen, die lieber sich am demokratischen Westen orientieren würden, sich oft nicht sicher sind, was die Europäische Union ihnen eigentlich wirklich bieten will.
    Heuer: Wir haben erlebt, was die Diplomatie gebracht hat, zuletzt mit dem Genfer Abkommen, das de facto gescheitert scheint jedenfalls. Bislang haben ja alle Maßnahmen des Westens den Kreml völlig kalt gelassen. Sie fordern, wenn ich Sie richtig verstehe, rasch schärfere wirtschaftliche Sanktionen – auch militärische Aufrüstung, Frau Harms?
    Harms: Also, ich finde, dass es ein Widerspruch ist, dass wir die ganze Zeit sagen, keine militärische Option, und gleichzeitig wird die NATO aufgebaut entlang der Ostgrenzen der Europäischen Union, also nicht in der Ukraine, sondern außerhalb. Ich glaube, dass das falsch ist. Ich glaube, wenn man sagt, und ich bin eben dafür, dass man nun nicht militärisch diesen Konflikt lösen muss, eine andere Chance gibt es gar nicht, dann kann man auch nicht die ganze Zeit mit der NATO innerhalb der EU-Staaten operieren.
    Und auf der anderen Seite muss man aber eben sich trauen, diese wirtschaftliche gegenseitige Abhängigkeit zwischen Russland und der Europäischen Union zum Thema zu machen, und es ist doch verrückt, dass wir im Moment feststellen, wie stark mit Erdgas und mit Rohstoffen Politik gemacht wird, und dann gleichzeitig bereit sind in Deutschland, wichtige Teile unserer Gasinfrastruktur an Gazprom zu verkaufen.
    "Es braucht gemeinsame europäische Strategie"
    Heuer: Und wieso ändern wir das nicht?
    Harms: Das ist das, was meiner Meinung nach geändert werden muss. Dazu braucht es eine gemeinsame europäische Strategie. Die möglichen Wirtschaftssanktionen, die müssen diskutiert werden, das ist dieses Instrumentarium, das die EU hat, alternativ zu einer militärischen Option, die ich ausschließen würde, von Anfang an ausgeschlossen habe. Aber das ist eben auch das, was Kiew bräuchte, was die Regierung in Kiew bräuchte, die ja nach wie vor völlig unsicher operiert, um sich der Unterstützung aus Brüssel sicher zu sein.
    Heuer: Kiew wirkt machtlos, in der Tat. Kann das der Westen mit den Wirtschaftssanktionen verändern, und sonst, wenn diese Wirtschaftssanktionen nicht ergriffen werden, dann bleibt alles beim Alten?
    Harms: Die eigentliche Lösung muss natürlich in Kiew, muss in der Ukraine gefunden werden. Dabei müssen wir die Regierung, die Politik insgesamt aber unterstützen. Ich vermisse, und ich weiß, wie schwierig das ist, trotzdem fordere ich das immer wieder ein, ich vermisse einfach auch eine politische Initiative von Kiew aus in der ganzen Ukraine, insbesondere im Osten. Die russische Propaganda, dass das alles Faschisten sind, dass die Bürgerbewegung faschistisch gesteuert sei, die muss ja gekontert werden.
    Heuer: Womit?
    Harms: So was wir runde Tische, Initiativen, in denen sowohl die Euro-Maidan-Bewegung als auch die jetzige Regierung, Abgeordnete von der Partei der Regionen haben diese Regierung ja auch unterstützt, also Janukowitschs Leute haben diese Regierung unterstützt. Alle diese Leute müssten dem neuen Weg der Ukraine Gesichter geben, müssten nicht einfach die Armee losschicken nach Osten, sondern müssten eine politische Initiative starten. Das, glaube ich, könnte dazu beitragen, diese Verunsicherung auch der Bürger im Osten der Ukraine aufzulösen, was denn nun eigentlich Kiew will.
    "Entwaffnung für rechten Sektor und Separatisten"
    Heuer: Frau Harms, kurz zum Schluss: Eine konkrete Maßnahme in einer solchen politischen Initiative, wie Sie sie fordern, könnte dann ja auch sein, dass Kiew die rechte Szene tatsächlich entwaffnet, vielleicht sogar, wie Russland das fordert, den Maidan räumt. Wären Sie dafür?
    Harms: Die Maidan-Räumung oder -Aufräumarbeiten, das ist weitergegangen am Ostersamstag, wenn ich das richtig verfolgen konnte. Die Regierung will das schon länger. Ich kann das auch gut verstehen. Ich finde, man sollte da so einen, man sollte natürlich Raum lassen für die Erinnerung an das, was da passiert ist, aber es wäre jetzt besser, wenn die Euro-Maidan-Bewegung den demokratischen Aufbruch bei den Parlamentswahlen unterstützen würde.
    Ich bin auf jeden Fall für die Entwaffnung des Rechten Sektors, ich hab das auch immer wieder gesagt. Aber das nimmt nichts davon weg, ja, dass die meisten Waffen im Osten der Ukraine im Moment bei den Separatisten sind, und dass die wirklich sehr schwer bewaffnet sind.
    Heuer: Die grüne Europapolitikerin und Ukraine-Expertin Rebecca Harms war das im Interview mit dem Deutschlandfunk. Haben Sie vielen Dank, Frau Harms!
    Harms: Gerne, Frau Heuer, Wiederhören!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.