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Ukraine
Özdemir: Gefahr der Gewalt nicht vom Tisch

Angespannt sei die Lage in Kiew, sagt Grünen-Chef Cem Özdemir, der sich derzeit in der ukrainischen Hauptstadt aufhält. Im Deutschlandfunk appelliert er an die EU: Sie müsse der Regierung unmissverständlich klarmachen, dass sie beim Einsatz von Gewalt einen hohen Preis zu zahlen hätte.

Cem Özdemir im Gespräch mit Jürgen Zurheide | 14.12.2013
    Jürgen Zurheide: Wir wollen jetzt reden, wie die Lage sich in der Nacht möglicherweise noch entwickelt hat, und dazu begrüße ich Cem Özdemir, den grünen Parteivorsitzenden, der im Moment in Kiew ist. Zunächst einmal schönen guten Morgen!
    Cem Özdemir: Guten Morgen zurück!
    Zurheide: Sagen Sie mal, wie haben Sie die Nacht erlebt? Haben Sie irgendetwas mitbekommen von den Ereignissen dort draußen?
    Özdemir: Ja, wir waren sehr oft auf dem Maidan, haben mit vielen Leuten, darunter auch den Organisatoren der Proteste gesprochen. Die gute Nachricht ist, dass das Gespräch zustande kam. Das hat sicherlich geholfen, dass die Gefahr der Gewalt reduziert wird, aber sie ist natürlich nicht vom Tisch. Wenn man weiß, dass die Gegendemonstranten, sofern man überhaupt von Demonstranten sprechen kann – denn Demonstranten, die dafür bezahlt werden, dass sie anreisen, die von ihren Chefs in der Firma gezwungen werden – das sind ja nicht wirklich Demonstranten im westlichen Sinne – die sind ja nur 200 Meter entfernt von den anderen Demonstranten auf dem Maidan. Und die Gefahr, dass es da zu Auseinandersetzungen kommt, die vielleicht auch bewusst provoziert werden durch das Regime, ist sehr groß. Trotzdem ist es gut, dass das Gespräch stattgefunden hat. Das hilft sicherlich zur Deeskalation.
    Zurheide: Können Sie sich eigentlich völlig frei bewegen? Wie ist Ihre persönliche Situation?
    Özdemir: Das ist nicht Moskau. Das muss man wissen, wenn man von Deutschland aus über die Ukraine spricht. Das ist eine andere Gesellschaft. Die Menschen hier haben nicht dieselbe Angst wie die Menschen in Moskau und in Russland. Das ist ein Land, das sich für Freiheit und Demokratie einsetzt und wo es einen klaren Willen der Mehrheit der Bevölkerung gibt, die Verbindung in die Europäische Union zu vertiefen. Deshalb ist es ja auch kein Zufall, dass die Auseinandersetzungen begannen, als die Regierung Janukowitsch das Assoziationsabkommen platzen ließ. Das ist ein klares Signal von Leuten, jungen Studenten, aber auch eben Mittelschichtsfamilien, wenn man so will, ein Aufstand der Mittelschicht, die sagt, wir wollen nicht die Verbindung Richtung Europa kippen und aus der Ukraine eine Art Sowjet-Ukraine machen. Darum geht es ja. Das, was der Präsident hier vorhatte, war der Versuch, aus der Ukraine eine Sowjet-Ukraine zu machen und damit auch die Grenzen zu verschieben, wo künftig europäische Werte verlaufen, nämlich östlich oder westlich der Ukraine. Im Prinzip haben wir es hier mit einer Stellvertreterauseinandersetzung zu tun zwischen der Europäischen Union und Russland auf dem Boden der Ukraine.
    Zurheide: Sind denn Neuwahlen, die immer wieder angesprochen worden sind, eigentlich realistisch?
    "Das ist nicht Moskau"
    Özdemir: Ob sie realistisch sind, da kann man sich drüber streiten, denn die Regierung hätte ja nichts Gutes zu erwarten, aber sie sind jedenfalls sinnvoll. Das wäre ein möglicher Ausweg. Man muss wissen, dass die ursprüngliche Forderung der Oppositionsparteien nach Rücktritt der Regierung eher schwierig ist. Denn was hat es dann – man muss ja vom Ende her denken – die mögliche Konsequenz ist natürlich dann, wenn die jetzige Regierung die Wahl verliert, in die Opposition, dass es ihnen nicht anders ergeht wie der früheren Oppositionsführerin und Ministerpräsidentin Julia Timoschenko. Denn die Vorwürfe, die im Raum stehen, was massive Korruption angeht und so weiter, Machtmissbrauch angeht, die ist ja doch sehr, sehr schwerwiegend. Insofern kann man sich vorstellen, dass Präsident Janukowitsch und seine Regierung nicht freiwillig von der Macht abtreten werden. Darum ist es, glaube ich, eher sinnvoll jetzt, den Gesprächsfaden aufrechtzuerhalten. Dass man beispielsweise dafür sorgt, dass es einen Kanal gibt, wie man Kommunikation aufrechterhält, eine Art Stabsstelle, um zu verhindern, dass es am Wochenende zur Eskalation kommt. Das wären jetzt, glaube ich, die naheliegenden Schritte. Sich dann darauf zu verständigen, dass die Verfassung von 2004 wieder eingesetzt wird, die das Parlament stärkt, die den Ministerpräsidenten stärkt und die dafür sorgt, dass die Ukraine keine Präsidialdemokratie mehr ist. Oder eben sich beispielsweise auf ein gemeinsames Wahlverfahren einigt, das wären jetzt, glaube ich, naheliegende Schritte, damit die Spielregeln in der Ukraine zumindest so sind, dass sie für Opposition und Regierung gleich sind.
    Zurheide: Wie ist eigentlich die Legitimation der Opposition? Sie haben gerade sehr klar in einem Nebensatz darauf hingewiesen, ja, die Opposition hätte die Mehrheit. Kann man da so sicher sein? Sind unsere Einschätzungen immer richtig?
    Özdemir: Na ja – man muss wissen, die Proteste gingen nicht von den Oppositionsführern aus, sondern sie gingen aus aus der Zivilgesellschaft. Die Oppositionsführer haben sich dann quasi draufgesetzt und versucht, das jetzt zu übernehmen. Allerdings gibt es natürlich ein großes Problem: Die Oppositionsführer haben nur dann eine Mehrheit, wenn sie sich einigen. Wenn sie allerdings alle drei für die Präsidentschaft kandidieren gegen Janukowitsch, dann sieht es schon wieder anders aus. Es scheint hier sich abzuzeichnen, dass Klitschko sich durchgesetzt hat mit der Annahme der Gespräche. Die anderen Oppositionsführer waren dagegen, dass man das Gesprächsangebot der Regierung annimmt. Er wirkt als der Gewinner bislang der Situation auf dem Maidan. Aber Voraussetzung wäre natürlich, dass die Opposition sich auf einen gemeinsamen Präsidentschaftskandidaten einigt, ansonsten gewinnen die anderen.
    Zurheide: Ich will nicht von Einmischung des Westens sprechen, aber ich will natürlich schon fragen, es sind viele westliche Politiker, auch Sie sind dort, die die Botschaft, auch die deutsche Botschaft, höre ich, beteiligt sich aktiv daran. Ja, jetzt kann man sagen, auf der einen Seite Zivilgesellschaft dort zu unterstützen, auf der anderen Seite aber sich einmischen. Gibt es da Grenzen, die man besser nicht überschreiten sollte? Ich will die Frage mal bewusst stellen.
    "Klarmachen, dass die Ukraine nicht zu Putins Reich gehört"
    Özdemir: Na ja, die Demonstranten werden nicht von uns organisiert, sondern sie organisieren sich selber. Aber sie kämpfen ja für europäische Werte, Werte, wie sie auch bei uns gelten und wie wir sie wollen. Und natürlich ist es sinnvoll und richtig, dass wir hier präsent sind, weil unsere Präsenz hilft die Gewalt zu verhindern. Die große Gefahr ist, dass das Regime versucht, im Schutz der Anonymität diesen Aufstand zu beenden. Und das die das machen können, haben sie ja schon mal gezeigt, übrigens sogar quasi zur Anwesenheit der stellvertretenden amerikanischen Außenministerin. Frau Nuland war im Lande, als Janukowitsch ihr zeigte, dass es sich um sein Land handelt, und den Preis haben die Demonstranten gezahlt. Trotzdem war es richtig, dass Frau Nuland da war und Hardball gespielt hat und gegenüber dem Präsidenten deutlich gemacht hat, dass es einen Preis gibt für Gewalt. Der Preis heißt, dass die Gelder eingefroren werden im Ausland. Hier geht es um die Gelder beispielsweise seines Sohnes, der in kurzer Zeit Milliardär wurde, wie immer das auch möglich ist. Es geht aber natürlich auch um die Oligarchen, die sehr, sehr viel Geld zu verlieren haben. Die haben ihr Geld ja auch beispielsweise in Südzypern oder in anderen Ländern der Europäischen Union angelegt. Und auch da wäre der Europäischen Union zu raten, dass sie der Ukraine unmissverständlich klar macht, wenn die Regierung zu Gewalt greift, gibt es einen Preis, den man zu bezahlen hat. Ob die EU das kann wie die Vereinigten Staaten von Amerika, statt Softball auch Hardball zu spielen, da kann man sicherlich ein Fragezeichen machen. Das wird auch sehr stark davon abhängen, wie die neue Bundesregierung ihre Russlandpolitik formuliert. Wenn die neue Bundesregierung die Außenpolitik primär vom Ostrat der deutschen Wirtschaft machen lässt, dann muss man eher besorgt sein. Wenn die neue Bundesregierung allerdings klar macht, dass die Ukraine nicht zu Putins Reich gehört, sondern das Recht hat, unabhängig zu sein, dann wäre das schon mal sehr wichtig.
    Zurheide: Das waren Einschätzungen und Hinweise von Cem Özdemir, dem Chef der Grünen, im Moment in Kiew. Ich bedanke mich für das Gespräch. Auf Wiederhören!
    Özdemir: Wiederhören!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.