
Wer den Kriegsdienst verweigert, tut das auf unterschiedliche Weise: Manche fliehen, noch bevor sie eingezogen werden. Andere verweigern aus Gewissensgründen den Dienst mit der Waffe oder desertieren mitten im Einsatz, also aus der Armee. Das hat oft schwerwiegende Folgen: Auch in Deutschland drohen bei Fahnenflucht bis zu fünf Jahre Haft. Im russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine häufen sich Fälle von Desertion – auf beiden Seiten. Warum verweigern Menschen den Militärdienst? Wie reagieren Staaten? Und welche Folgen hat die Desertion?
Inhalt
- Warum entziehen sich Menschen dem Kriegsdienst?
- Wie viele verweigern den Kriegsdienst im Ukrainekrieg?
- Wie verweigern Menschen in Russland und der Ukraine den Kriegsdienst?
- Wie reagieren Russland und die Ukraine auf Kriegsdienstverweigerer und Deserteure?
- Ist Kriegsdienstverweigerung völkerrechtlich geschützt?
- Welche Folgen hat Desertion für Russland und die Ukraine?
Warum entziehen sich Menschen dem Kriegsdienst?
Deserteure und Wehrdienstverweigerer entziehen sich staatlicher Kontrolle, verweigern das Töten und riskieren dafür oft harte Strafen. Ihre Motive sind vielfältig: Angst vor dem eigenen Tod, der Widerwille zu töten, politische oder religiöse Überzeugungen – oder einfach der Wunsch, zu überleben. Schon in früheren Kriegen verweigerten Menschen den Kriegsdienst, etwa in den napoleonischen Feldzügen, den beiden Weltkriegen, im Vietnam- oder Irakkrieg.
Auch im russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine zeigt sich: Desertion hat viele Gesichter. Wie in früheren Kriegen geht es oft um persönliche Überzeugungen und um den Schutz des eigenen Lebens. Das wichtigste Motiv, so Rudi Friedrich von der Organisation Connection e.V., die Kriegsdienstverweigerer und Deserteure unterstützt: Viele wollen nicht gegen Verwandte oder Freunde kämpfen. "Es gibt ganz viele Verbindungen zwischen der Ukraine und Russland. Familiäre Verbindungen, freundschaftliche Verbindungen. Die haben zum Teil in den anderen Ländern studiert", so Friedrich. Trotzdem zwingt die Wehrpflicht Menschen in beiden Ländern an die Front.
Wie viele verweigern den Kriegsdienst im Ukrainekrieg?
Wegen des russischen Angriffs verbietet der ukrainische Staat Männern zwischen 18 und 60 Jahren, das Land zu verlassen. Ab 18 müssen sie einen Grundwehrdienst ableisten; in den Kriegseinsatz müssen Soldaten aber erst ab 25. Viele versuchen dennoch, sich dem Kriegsdienst zu entziehen, oft noch vor der Einberufung. In Russland ist die Lage ähnlich: Seit Kriegsbeginn sind mehr als 150.000 Männer im wehrpflichtigen Alter geflohen. Wer flieht, bevor er eingezogen wird, begeht Militärdienstentzug. Wer bereits im Dienst ist und sich absetzt, begeht Desertion.
Deserteure auf russischer und auf ukrainischer Seite
Auf russischer Seite kämpfen vor allem Vertragssoldaten. Seit Herbst 2022 gelten ihre Verträge laut einem Erlass von Präsident Putin bis zum Ende der sogenannten „Spezialoperation“, also des Krieges – ein legales Ausscheiden ist also nicht mehr möglich. Laut Recherchen des Exilmediums iStories haben rund 50.000 russische Soldaten seit Kriegsbeginn ihre Truppe unerlaubt verlassen. Die Dunkelziffer dürfte deutlich höher liegen.
Auf der ukrainischen Seite ist die Lage etwas transparenter, da die Ukraine auf westliche Hilfe angewiesen ist und deshalb auch bei heiklen Themen wie Desertion offener mit Zahlen umgehen muss: Über 100.000 Verfahren sind demnach wegen Desertion anhängig.
Wie verweigern Menschen in Russland und der Ukraine den Kriegsdienst?
Viele ukrainische Männer versuchen, sich dem Kriegsdienst zu entziehen, etwa durch illegale Grenzübertritte, gefälschte Ausnahmegenehmigungen, Bestechung von Grenzbeamten oder in dem sie untertauchen. Wie groß die Dimension inzwischen ist, zeigt ein konkreter Vorfall aus 2024. Zahlreiche Soldaten desertierten während ihrer Ausbildung in der 155. Brigade in Frankreich. Später verließen weitere 1.700 Soldaten derselben Brigade ihre Einheiten, noch bevor sie an der Front zum Einsatz kamen.
Russische Soldaten versuchen oft während eines Lazarettaufenthalts zu desertieren, dort ist es leichter, sich abzusetzen. Denn auch viele Verwundete werden wieder an die Front geschickt. So berichtete etwa das Exilmedium Meduza von einem russischen Vertragssoldaten, der im Gebiet Donezk an der linken Hand verletzt wurde. Obwohl er verwundet war, sollte er wieder an die Front geschickt werden, mit der Begründung, seine rechte Hand funktioniere ja noch. Gemeinsam mit einem Kameraden verletzten sie sich daraufhin gegenseitig an den Beinen, indem sie eine Mischung aus Pulver und rostigen Nägeln in die Wunden einbrachten. Sie behaupteten, von einer ukrainischen Drohne getroffen worden zu sein, doch das medizinische Personal glaubte ihnen nicht.
Selbstverletzung, Atteste, Bestechung
Schließlich gestanden sie die Selbstverletzung. Um sich dennoch der Front zu entziehen, zahlten sie jeweils 3.500 Euro Bestechungsgeld, erst auf dem Weg ins Krankenhaus, später nochmals. Insgesamt kostete Nikolai die Flucht aus dem Militärdienst laut Meduza rund 12.500 Euro.
Meduza beschreibt ein weit verbreitetes Korruptionssystem: Ärzte manipulieren Verletzungen oder stellen falsche Atteste aus, gegen Tausende Euro. Laut Ilja Schumanow von Transparency International Russland existiert ein regelrechter Markt: Für bis zu 30.000 Euro lassen sich Soldaten sogar aus der Kaserne herausholen. Mit zunehmender Strafverfolgung steigen die Preise weiter.
Wie reagieren Russland und die Ukraine auf Kriegsdienstverweigerer und Deserteure?
Sowohl Russland als auch die Ukraine verfolgen Desertion und Kriegsdienstverweigerung strafrechtlich, mit zum Teil drastischen Mitteln. In Russland werden Deserteure entweder gleich an die Front zurückgeschickt oder sie werden angeklagt und bestraft. Laut Medienberichten gab es allein im ersten Quartal 2025 mehr als 150 Urteile gegen Deserteure, mehr als doppelt so viele wie im Vorjahreszeitraum. Es gibt lange Haftstrafen und bislang keine Freisprüche.
Auch die Ukraine geht hart gegen Deserteure und Kriegsdienstverweigerer vor. Wer sich illegal ins Ausland absetzt, macht sich laut Gesetz strafbar. Der Leiter der Personalabteilung des Landstreitkräftekommandos der ukrainischen Streitkräfte, Roman Gurbach, erklärt: „Wenn sich herausstellt, dass sie sich illegal ins Ausland begeben haben, dann haben sie sich ihrer Militärdienstpflicht entzogen. Nach der geltenden Gesetzgebung werden sie strafrechtlich verfolgt.“ Sie werden zu hohen Haftstrafen verurteilt.
Ist Kriegsdienstverweigerung völkerrechtlich geschützt?
Völkerrechtlich gilt das Recht auf Kriegsdienstverweigerung als Menschenrecht. Doch in der Praxis wird es häufig ignoriert oder eingeschränkt. In Russland existiert zwar formal ein Recht auf Kriegsdienstverweigerung, allerdings nur für Männer, die noch nicht eingezogen wurden. Laut Rudi Friedrich von Connection e.V. ist es auch „formal so eingeschränkt, dass nicht wirklich viele das wahrnehmen können“.
In der Ukraine wurde das Recht auf Kriegsdienstverweigerung mit Kriegsbeginn am 24. Februar 2022 vollständig ausgesetzt. Friedrich kritisiert: „Die Ukraine hält sich nicht an das Menschenrecht auf Kriegsdienstverweigerung.“
Rund 200.000 ukrainische Männer im wehrfähigen Alter leben derzeit in Deutschland, über 600.000 in der EU. Ob ihre Kriegsdienstverweigerung ein Asylgrund ist, bleibt umstritten. Manche betrachten sie als legitimen Schutzgrund, andere fordern Ausweisung, zum Beispiel bei Flucht mit gefälschten Papieren oder Bestechung. Russische Verweigerer haben derzeit kaum Chancen auf Asyl, weil sie meist vor einer Einberufung fliehen und dies nicht nachweisen können.
Mehrere Organisationen europaweit, darunter auch Connection e.V. fordern Asyl für Deserteure und alle Menschen, die sich dem Kriegsdienst verweigern. „Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat klargestellt, dass Kriegsdienstverweigerer*innen unter bestimmten Bedingungen Schutz verdienen, insbesondere wenn ihnen Verfolgung oder unverhältnismäßige Strafen drohen“, schreibt etwa Pro Asyl.
Welche Folgen hat Desertion für Russland und die Ukraine?
Desertion hat direkte militärische Folgen, vor allem, wenn viele Soldaten fehlen. Die ukrainische Nationalgarde spricht inzwischen von über einer Million russischer Verluste: Tote, Verwundete oder Gefangene. Diese hohen Zahlen setzen die russische Armee unter Druck und verstärken offenbar die Bereitschaft zur Desertion.
Doch auch für die Ukraine ist Desertion ein schwerwiegendes Problem. Aufgrund der kleineren Bevölkerung wirkt sich jede Flucht deutlich stärker auf die Verteidigungsfähigkeit des Landes aus. Laut einem Bericht zur Desertion in Russland und der Ukraine der Organisation Front Intelligence Insight stellt Desertion langfristig ein noch größeres Problem für die Ukraine als für Russland dar. Die Zahlen zeigen aber auch, dass Russland unter einem deutlichen Schwund an Personal leidet, die Vorstellung unerschöpflicher Reserven ist laut Experten falsch. Auf beiden Seiten würden die steigenden Desertionszahlen als Zeichen militärischer Erschöpfung und mangelnder Aussicht auf entscheidende Durchbrüche deuten.
Über das Militärische hinaus wirft Desertion auch grundsätzliche politische und ethische Fragen auf: Wenn sich viele Menschen auf ihr Recht zur Verweigerung berufen, steht auch die Verteidigungsfähigkeit eines Landes infrage: Ein Dilemma zwischen individueller Freiheit und kollektiver Sicherheit.
ema