Samstag, 27. April 2024

Mobilisierungspläne
Wie die Ukraine 500.000 neue Soldaten rekrutieren will

Auch nach zwei Jahren ist kein Ende des russischen Angriffskrieges in der Ukraine in Sicht. Kiew gehen die Soldaten aus. Ein neues Mobilisierungsgesetz soll es möglich machen, 500.000 weitere Männer einzuziehen.

17.04.2024
    Ein ukrainischer Soldat an der Front. Aufgenommen am 29.11.2023.
    Ukrainische Soldaten sind zum Teil seit zwei Jahren an der Front. Sie sind erschöpft und brauchen Verstärkung. (IMAGO / Le Pictorium / Adrien Vautier)
    Am 24. Februar 2022 überfiel Russland die Ukraine mit dem Ziel, die Regierung in Kiew abzusetzen. Seitdem kämpft die ukrainische Armee an verschiedenen Fronten. Im Einsatz sind vor allem Freiwillige, zum Teil seit zwei Jahren ohne Pause. Viele sind kriegsmüde, andere verletzt, rund 31.000 sind laut Präsident Wolodymyr Selenskyj gefallen.
    Derzeit verfügt die Ukraine über etwa 900.000 Soldaten und 1,2 Millionen Reservisten. Zum Vergleich: Russland hat 1,3 Millionen aktive Soldaten und rund zwei Millionen Reservisten.
    Das ukrainische Militär benötigt dringend neue Streitkräfte, 500.000 Kämpfer sollen neu rekrutiert werden. Möglich machen soll das ein Gesetz, das am 11. April in der Werchowna Rada, dem Parlament der Ukraine, verabschiedet wurde.

    Übersicht

    Welche Änderungen bringt das neue Mobilisierungsgesetz?

    Das Mobilisierungsgesetz sieht vor, dass sich Wehrpflichtige zwischen 18 und 60 Jahren innerhalb bestimmter Fristen bei den Militärkommissariaten registrieren lassen müssen. Sie müssen während des geltenden Kriegsrecht jederzeit ihren Wehrpass bei sich führen.
    Das Alter für die Einberufung wurde bereits zuvor um zwei Jahre herabgesetzt: Alle Männer ab 18 Jahren sollen einen Grundwehrdienst absolvieren. Auch das Alter, ab dem man in einen Kriegseinsatz geschickt werden kann, wurde gesenkt: von 27 auf 25 Jahre. Vor dem Befehl zum Kriegseinsatz soll es jedoch verpflichtend eine mehrmonatige Ausbildung geben.

    Neue Sanktionsmöglichkeiten

    Der Wehrdienst soll drei Jahre dauern, mit dem Anspruch auf eine Rotation der Einsatzbereiche und Urlaub. Wer Musterungs- oder Einberufungsbescheide ignoriert, muss mit Geldstrafen oder Führerscheinentzug rechnen.
    Zudem dürfen Musterungs- und Einberufungsbescheide digital zugestellt werden – unabhängig vom Wohnort. Darüber hinaus soll die bisherige Freistellungspraxis von Studenten und Männern mit Behinderung sowie von Mitarbeitern in systemrelevanten Berufen überprüft werden. Die Zuständigkeit für die Einberufung und Musterung soll von regionalen auf lokale Behörden übertragen werden.
    Die neuen Regeln sollen auch für wehrpflichtige Ukrainer gelten, die sich im Ausland aufhalten. Wer ein ukrainisches Konsulat aufsucht, um beispielsweise neue Ausweisdokumente zu beantragen, muss künftig nachweisen, dass er sich in das Wehrregister eingetragen hat.

    Welche weiteren Regelungen gelten seit der Ausrufung des Kriegsrechts?

    Seit der russischen Invasion gilt das Kriegsrecht und damit einhergehend die Generalmobilmachung. Somit dürfen Männer im wehrfähigen Alter zwischen 18 und 60 Jahren prinzipiell das Land nicht verlassen. Es sei denn, sie sind zurückgestellt wegen einer Behinderung, eines Studiums oder weil sie Väter kinderreicher Familien oder in systemrelevanten Berufen tätig sind.
    Für Frauen gilt die Ausreisesperre nicht, sie können jederzeit das Land verlassen, sich aber auch freiwillig zum Kriegsdienst melden.

    Kriegsdienstverweigerung nahezu unmöglich

    Zwar besteht in der Ukraine ein Recht auf Kriegsdienstverweigerung, allerdings ist dieses Recht nur auf Angehörige weniger kleiner Glaubensgemeinschaften beschränkt, wie zum Beispiel die Siebenten-Tags-Adventisten oder Zeugen Jehovas. Die vielen Angehörigen der großen ukrainischen Kirchen sowie anderer Religionen können dieses Recht nicht beanspruchen.
    Um sich dennoch dem Dienst an der Waffe zu entziehen, versuchen Wehrpflichtige zum Teil das Land zu verlassen. Andere probieren in den Genuss der Ausnahmeregelungen zu kommen, indem sie sich etwa für ein Universitätsstudium einschreiben oder Frauen mit mehreren Kindern heiraten. Verbreitet ist auch das Zahlen von Bestechungsgeldern, um einer Einberufung zu entgehen. Berichte über Korruption in den lokalen Wehrersatzämtern schlugen so hohe Wellen, dass Präsident Selenskyj bereits im August 2023 die Chefs aller Rekrutierungsbüros auf einen Schlag entließ.

    Wie ist die Situation an der Front?

    Zu Beginn des Krieges meldeten sich in der Ukraine sehr viel Freiwillige zum Wehrdienst. Teilweise sind diese Männer und Frauen noch immer an der Front – seit mehr als zwei Jahren im Dauereinsatz. Viele sind erschöpft und brauchen dringend eine Pause. Bisher gab es keine rechtlichen Bestimmungen, die das Ende ihres Einsatzes regelten.
    Erst am 26. Februar unterzeichnete Präsident Selenskyj ein Gesetz zur Demobilisierung Wehrpflichtiger mit Ablauf ihrer Dienstzeit. Nun können diese Soldaten in die Reserve versetzt werden - und ihre Angehörigen endlich aufatmen, hatten sie doch schon länger deren Rückkehr gefordert.

    31.000 gefallene ukrainische Soldaten

    Laut US-Schätzungen sind mindestens 100.000 ukrainische Soldaten inzwischen verwundet. Am 26. Februar nannte Präsident Selenskyj erstmals die Zahl der gefallenen Soldaten, 31.000 sollen es demnach sein. Um die Verluste ausgleichen und den Soldaten an der Front eine Pause ermöglichen zu können, will die Regierung in Kiew 500.000 Männer rekrutieren. Möglich machen soll dies das neue Mobilisierungsgesetz.

    Welche Folgen haben die Mobilisierungspläne für wehrfähige Ukrainer in Deutschland?

    Obwohl Männer im wehrfähigen Alter seit Beginn der russischen Invasion das Land nicht verlassen dürfen, halten sich in der EU rund 750.000 von ihnen auf, circa 200.000 davon in Deutschland. Allein aufgrund ihres Aufenthalts außerhalb der Ukraine sind diese Männer nicht zwingend fahnenflüchtig. Sie können etwa wegen einer der Ausnahmeregelungen vom Wehrdienst zurückgestellt worden sein.
    Die Ukraine erhöht nun den Druck auf diese Personengruppe. So forderte Präsidentenberater Serhij Leschtschenko bereits von den EU-Ländern, die Unterstützung von Flüchtlingen zu beenden, damit diese in ihre Heimat zurückkehren. Sie würden nicht nur in der Wirtschaft gebraucht, sondern auch an der Front.

    Niemand wird zur Ausreise gezwungen

    Von den ukrainischen Männern im wehrfähigen Alter, die sich in Deutschland aufhalten, muss jedoch keiner befürchten, zurückgeschickt zu werden. Alle ukrainischen Flüchtlinge in Deutschland, auch die Männer, genießen – zunächst bis 2025 – einen vorübergehenden Schutz nach Paragraf 24 des Ausländergesetzes. Dies beinhaltet auch einen Anspruch auf eine Aufenthaltserlaubnis. Wenn dieser endet, sind die Betroffenen nicht automatisch ausreisepflichtig. Sie können dann in Deutschland Asyl beantragen oder in ein Drittland ausreisen.

    Wie reagieren deutsche Politiker auf die ukrainischen Mobilisierungspläne?

    Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) machte bereits deutlich, dass Deutschland niemanden gegen seinen Willen zur Wehrpflicht oder zum Kriegsdienst zwingen werde. Sprich: Wehrpflichtige Ukrainer werden auch künftig nicht in ihr Heimatland abgeschoben.
    Der CDU-Politiker Roderich Kiesewetter, der Mitglied des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen Bundestages ist, fordert hingegen, über die Kürzung von Sozialleistungen für wehrfähige ukrainische Männer nachzudenken. Er regte dazu ein Regierungsabkommen mit der Ukraine an, das den betroffenen Männern ermöglichen soll, beispielsweise im Zivilschutz, bei der Feuerwehr oder im Heimatschutz zu arbeiten, wenn sie nicht an die Front wollten.

    ckr, leg