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Ukraine
"Situation an der Kante"

Die Ukraine sei ein selbstständiges Land und habe eine Perspektive Richtung Europa, glaubt der Grünen-Politiker Jürgen Trittin. "Russland wird eine Zeit lang brauchen, dies zu verarbeiten, zugunsten einer Politik guter Nachbarschaft, sagte Trittin im DLF.

28.02.2014
    Jürgen Trittin redet im Bundestag.
    Jürgen Trittin (dpa/Rainer Jensen)
    Christoph Heinemann: Der Präsident geflohen, Viktor Janukowitsch will am Mittag aus Russland das Wort ergreifen. Die Regierung lässt sich auf dem Schauplatz der Revolution per Akklamation bestätigen; Unruhen im Süden, und jenseits der Landesgrenzen zieht die stärkste Militärmacht der Region Truppen zusammen. Letzteres beobachtet die NATO, beobachtet auch Washington sehr aufmerksam und warnt Moskau davor, die Spannungen zu verschärfen. Ursula von der Leyen wertet das russische Säbelrasseln auch als Zeichen der Hilflosigkeit. Am Telefon ist Jürgen Trittin, Bundestagsabgeordneter von Bündnis90/Die Grünen und Mitglied des Auswärtigen Ausschusses. Guten Morgen!
    Jürgen Trittin: Guten Morgen!
    Heinemann: Herr Trittin, wie gefährlich ist ein Wladimir Putin, der nicht weiß, was er tun soll.
    Trittin: Ich glaube, dass wir in einer sehr auf der Kante stehenden Situation sind. Ich glaube, alle Beteiligten müssen ein Interesse daran haben, das gilt für Russland, das gilt aber auch für die Europäische Union, dass es kein Auseinanderbrechen der Ukraine gibt. Es kann niemand ernsthaft ein Interesse daran haben, mitten in Europa einen Staat zu haben, der in sich zerfällt oder gar in eine kriegerische Auseinandersetzung verfällt.
    "Der Abgang von Janukowitsch ist ein Menetekel für viele"
    Heinemann: Nah an der Kante – sehen Sie die Gefahr eines militärischen Konfliktes?
    Trittin: Ich sehe zurzeit, dass Russland mit viel Säbelrasseln agiert. Das hat, glaube ich, sehr viel mit der inneren Verfasstheit Russlands zu tun. Der Abgang von Janukowitsch ist ein Menetekel für viele, die in ähnlichen Formen, formaldemokratisch legitimiert, als Autokraten regieren. Das löst Nervosität aus. Ich glaube dennoch, dass wir gut daran tun zu betonen, dass die Einheit der Ukraine erhalten werden muss, dass man der Ukraine jetzt Wirtschaftlichkeit helfen muss, und dass gleichzeitig innerhalb der Ukraine keine Politik sozusagen zur Verschärfung der Spannungen und der Spaltung betrieben werden darf.
    Heinemann: Bleiben wir, Herr Trittin, kurz noch mal auf der russischen Seite. Für manche Russen ist die Ukraine immer noch eine frühere Sowjetrepublik. Wie sollte man mit dieser emotionalen Bindung, die einem gefallen mag oder auch nicht, umgehen?
    Trittin: Ich glaube, dass man die emotionale Bindung immer respektieren muss. Das hat aber und kann aber stattfinden unter Respektierung völkerrechtlich eindeutig definierter Grenzen. Das war übrigens für Russland immer ein sehr wesentliches Argument in internationalen Auseinandersetzungen, dass es innerhalb der Ukraine Menschen gibt, die primär russische sprechen. Dass sie ein gemeinsames kulturelles Verständnis haben, dieses alten gemeinsamen Russlands. Das ist ja nicht neu. Das ist auch einer der Gründe, warum es eben nicht klug war, solchen Menschen im Verkehr mit Ämtern als erste Geschichte die Amtssprache Russische wegzunehmen. Das ist natürlich ein Prozess, wo man sich gegenseitig hochschaukelt, und das geht zulasten der territorialen Integrität und der nationalen Einheit der Ukraine, in der Menschen unterschiedlicher Kulturen ihren Platz haben müssen.
    Heinemann: Also auch die neue Führung in Kiew macht jetzt schon Fehler?
    Trittin: Ich glaube, dass das ein verständlicher Überschwang gewesen ist, aber es war sicherlich kontraproduktiv.
    Heinemann: Mit welcher Ukraine-Politik Moskaus rechnen Sie für die kommenden Monate?
    Trittin: Ich glaube, dass über kurz oder lang sich innerhalb Russlands die realpolitische Erkenntnis durchsetzt, dass hier ein Prozess sich vollzogen hat, der ihnen eine politische Spekulation durchkreuzt hat. Nämlich durch das ökonomische Abhängigmachen der herrschenden Schicht, der damals herrschenden Schicht dieses Land an sich zu binden, das hat die große Mehrheit der Bevölkerung in der Ukraine nicht akzeptiert. Sie definieren sich als selbstständiges Land, als Land, das eine Perspektive auch in Richtung und im Verhältnis zu Europa hat, und ich glaube, dass Russland eine Zeit lang brauchen wird, dieses zu verarbeiten zugunsten einer Politik guter Nachbarschaft. Umgekehrt gilt das für die Europäische Union auch. Mit dem Umsturz dort gibt es nun wirklich die Herausforderung, dieses Land zu stabilisieren, und auch, es davor zu bewahren, im Staatsbankrott zu landen, weil das würde den Prozess des Staatszerfalls, der Spaltung noch richtig beschleunigen.
    "Bevölkerung hat den Zeitplan nicht akzeptiert"
    Heinemann: Wiktor Janukowitsch, mittlerweile in Russland, pocht auf die Vereinbarung, die in Kiew unter anderem Frank-Walter Steinmeier getroffen hat, er mit ihm zusammen. Pacta sunt servanda – gilt das nicht mehr?
    Trittin: Ich glaube, dass die Bevölkerung in der Ukraine darauf eine Antwort gegeben hat. Sie hat das, was dort vereinbart worden ist, übrigens ein richtiger und wichtiger Schritt der drei Außenminister aus Polen, der Frankreichs und der Bundesrepublik Deutschland, dass dieses nicht warten kann bis zum Herbst, und das ist das entscheidende Argument. Es ist ja nicht so, dass der Gegenstand dieser Vereinbarung infrage gestellt worden ist. Die Bevölkerung hat den Zeitplan nicht akzeptiert. Das, worauf man jetzt dringen muss, sind ja nicht nur Präsidentschaftswahlen, die für Mai vorgesehen sind, sondern es wäre sicherlich richtig und wichtig, dass das Parlament, was faktisch heute die Regierung kontrolliert und die Macht ausübt, dass dieses Parlament sehr schnell neu legitimiert wird. Und deswegen muss auch jetzt sehr, sehr schnell ein Termin gesetzt werden für die Parlamentswahlen.
    Heinemann: Und am 25. Mai soll auch abgestimmt werden über die Unabhängigkeit eines Teiles des Landes, der Krim zum Beispiel. Wäre eine Teilung nicht besser als jetzt ein ewiges Tauziehen zwischen West- und Ostbindung?
    Trittin: Ich glaube nicht, dass die Spaltung in der Ukraine entlang der Grenzen der Autonomen Republik der Krim läuft, sondern der läuft sehr vielfältig, und deswegen muss die Ukraine ein Platz sein, in der Menschen unterschiedlicher Kulturen und Sprachen ihren Platz haben, und das ist der Grund, warum sowohl die USA wie übrigens Russland und die Europäische Union immer wieder betont haben, wir wollen die gemeinsame territoriale Integrität der Ukraine erhalten.
    Heinemann: Die Ukraine ist pleite – wer soll zahlen?
    Trittin: Ich glaube, dass wir als Europa, aber, dass eben Russland ebenfalls – die haben ja nicht Zusagen an ein Regime gemacht, sondern an eine Nation – hier in der Pflicht steht, hier einen solchen ökonomischen Zusammenbruch zu verhindern. Das setzt erhebliche Leistungen der Europäischen Union voraus. Das hat auf der anderen Seite allerdings auch zur Folge, dass innerhalb der Ukraine Maßnahmen ergriffen werden müssen, die dieses Haushaltsdefizit, die Abwertung der eigenen Währung und die Nicht-mehr-Akzeptanz auf den internationalen Kreditmärkten schrittweise überwindet.
    Partnerschaftliches Verhältnis zur Ukraine aufbauen
    Heinemann: Glauben Sie, dass Moskau eine Ukraine mit Westbindung subventionieren wird?
    Trittin: Ich glaube, dass weder der Westen eine Ukraine mit Westbindung finanzieren wird noch Moskau. Ich glaube, dass Russland wie die Europäische Union nach wie vor vor der Herausforderung stehen, hier ein partnerschaftliches Verhältnis aufzubauen mit der Ukraine, und zwar einer Ukraine, die eben nicht Einflusssphäre des einen oder des anderen ist, sondern die gute Beziehungen sowohl zu Russland wie zur Europäischen Union hat.
    Heinemann: Jürgen Trittin, Bundestagsabgeordneter von Bündnis90/Die Grünen und Mitglied des Auswärtigen Ausschusses. Danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören.
    Trittin: Ich danke Ihnen, Herr Heinemann!
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