Freitag, 29. März 2024

Integration ukrainischer Kinder
Wie geflüchtete Kinder aus der Ukraine in Deutschland beschult werden

Gut ein Jahr nach dem Beginn des russischen Angriffskriegs haben deutsche Schulen mehr als 200.000 geflüchtete ukrainische Kinder und Jugendliche aufgenommen. Ihre Beschulung läuft von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich.

07.06.2023
    An einer Tafel die mit kyrillischen Buchstaben und mit Zahlen beschriftet sind, stehen zwei Kinder, die von hinten zu sehen sind. Im Vordergrund sind zwei weitere Kinder von hinten an einem Tisch zu sehen.
    Viele ukrainische Kinder besuchen reguläre deutsche Schulen. (Getty Images / Maja Hitij)
    Kinder und Jugendliche aus der Ukraine, die aufgrund des Krieges ihre Heimat verlassen mussten, gehen nun in Deutschland zur Schule. Dabei gibt es unterschiedliche Ansätze, wie diese Schülerinnen und Schüler in das deutsche Schulsystem integriert werden. Wie geht es ihnen nach einem Jahr in Deutschland?

    Wie viele ukrainische Kinder und Jugendliche werden aktuell in deutschen Schulen betreut?

    Insgesamt sind in Deutschland laut Angaben der Kultusministerkonferenz (KMK) bisher rund 207.000 geflüchtete Kinder und Jugendliche aus der Ukraine an deutschen Schulen aufgenommen worden. Dabei hat sich ihre Zahl innerhalb eines Jahres fast verzehnfacht: Im März 2022 waren es laut KMK noch gut 20.200. Die meisten Schülerinnen und Schüler hat Nordrhein-Westfalen aufgenommen (über 35.600), gefolgt von Baden-Württemberg (über 31.900) und Bayern (über 30.600).
    Alle Kultus- beziehungsweise Bildungsministerien der Länder haben ihre eigenen Seiten eingerichtet, auf denen sowohl Informationen zum Unterricht von geflüchteten Kindern und Jugendlichen als auch für ukrainische Lehrkräfte bereitgestellt werden.
    Seit dem russischen Überfall am 24. Februar 2022 sind laut den Angaben der Bundesregierung gut eine Million Geflüchtete aus der Ukraine registriert. Ein Drittel der Geflüchteten sind Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren.

    Haben ukrainische Kinder Schulpflicht?

    Ja. Für ukrainische Kinder und Jugendliche gilt genauso wie für alle anderen die Schulpflicht, betont die Kultusministerkonferenz: "Die jeweils auf Landesebene bestehenden Regelungen zur Schulpflicht gelten auch für ukrainische Geflüchtete." Wann genau die Schulpflicht einsetzt, ist allerdings Ländersache. In einigen Bundesländern müssen Kinder sofort in die Schule, sobald sie angekommen, beziehungsweise gemeldet sind. In Bayern oder Rheinland-Pfalz setzt die Schulpflicht aber zum Beispiel erst drei Monate nach Ankunft in Deutschland ein.
    Bei einigen Kindern wird die Schulpflicht allerdings nicht durchgesetzt - auch, weil Eltern hoffen, bald wieder in ihre Heimat zurückkehren zu können oder weil Schüler und Schülerinnen noch keinen Schulplatz haben. So werden laut den Zahlen der KMK aktuell nur 202.599 von den über 207.000 Kindern und Jugendlichen an allgemeinbildenden und berufsbildenden Schulen unterrichtet (Stand: 28.5.2023).
    Somit gehen etwa 4.000 geflüchtete Kinder und Jugendliche aktuell nicht zur Schule. Das ist allerdings kein bundesweites Problem: 1.800 stehen in Nordrhein-Westfalen auf der Warteliste, 1.600 in Berlin. Laut der Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft GEW liegt das am Lehrkräftemangel und auch daran, dass es in diesen Bundesländern wegen der hohen Anzahl ukrainischer Schüler besonders viel Bedarf gibt.
    Um die Wartezeit zu überbrücken, gibt es Programme wie "Fit für die Schule", die den Kindern Deutschkenntnisse vermitteln und ihnen helfen, sich in ihrer neuen Umgebung zurechtzufinden. Obwohl der Berliner Senat in solche Programme investiert, könnten die finanziellen Mittel auch direkt in die Schulen fließen. Es wurden zwar neue Willkommensklassen gebildet und leer stehende Schulen reaktiviert, doch insgesamt bleibt die Situation herausfordernd und komplex.

    Willkommensklassen, Regelklassen - welche Modelle gibt es in den verschiedenen Bundesländern?

    Dem Dlf liegen nach einer Anfrage an alle 16 Kultusministerien dazu Daten von zwölf Bundesländern aus dem März 2023 vor. Während sechs dieser zwölf Bundesländer - etwa Berlin und Hessen - von Anfang an "Willkommensklassen" für die ukrainischen Geflüchteten eingerichtet haben, nimmt die andere Hälfte der Bundesländer - wie zum Beispiel Nordrhein-Westfalen und Thüringen - die Schülerinnen und Schüler direkt in Regelklassen auf.
    Trotzdem werden die ukrainischen Kinder und Jugendlichen auch in den Regelklassen bei dem Erlernen der deutschen Sprache unterstützt und erhalten in bestimmten Fächern Aufgaben, die ihrem Sprachniveau und Wissensstand angepasst sind.
    Ein weiteres Modell, das in einigen Bundesländern praktiziert wird, ist die teilweise äußere Differenzierung. Hierbei werden die ukrainischen Schülerinnen und Schüler in spezifischen Lerngruppen unterrichtet, während sie in anderen Fächern in Regelklassen sitzen. Besonders für Fächer wie Sport und Englisch, bei denen die Sprachbarriere oft weniger präsent ist, bietet sich dieses Modell an.
    Gegenüber Dlf Kultur äußerte sich die Soziologin Juliane Karakayali von der Evangelischen Hochschule Berlin kritisch gegenüber dem Konzept von separaten Klassen. Ihrer Ansicht nach birgt dieses Modell viele Probleme. Es gebe negative Erfahrungen aus den 60er- und 70er-Jahren, als Kinder von Arbeitsmigranten und -migrantinnen separat unterrichtet wurden, oft mit muttersprachlichen Lehrern in Sprachen wie Türkisch, Spanisch oder Griechisch. Karakayali ist zudem der Meinung, dass es in Deutschland weder organisatorisch noch politisch oder rechtlich möglich ist, nach dem ukrainischen Lehrplan zu unterrichten.

    Gibt es Parallel-Unterricht auf Deutsch und Ukrainisch?

    Grundsätzlich gilt, dass die Teilnahme am ukrainischen Unterricht in allen Bundesländern ergänzend und freiwillig ist. Doch inwiefern diese Möglichkeit tatsächlich gefördert und dafür Raum, Zeit und Materialien zur Verfügung gestellt werden, hängt stark vom jeweiligen Bundesland ab.
    In den meisten der vom Dlf befragten Bundesländern wird die Teilnahme am ukrainischen Unterricht nicht aktiv unterstützt, aber auch nicht verhindert. Es gibt jedoch einige wenige Bundesländer, die sich engagierter zeigen. So verteilt das Land Rheinland-Pfalz bei Bedarf technische Endgeräte, damit Schülerinnen und Schüler Unterrichtsmaterialien in ukrainischer Sprache nutzen können.
    In Hessen gibt es sogar ein freiwilliges Unterrichtsangebot, das "Sprach- und Kulturvermittlung in ukrainischer Sprache" heißt und an dem etwa 3.000 Grundschülerinnen und Grundschüler teilnehmen. Hier wird versucht, einen Bezug zur ukrainischen Sprache und Kultur für die Kinder herzustellen.
    Eine interne Umfrage in Bremen zeigte zudem Ende 2022 auf, dass Kinder und Jugendliche noch digital am Unterricht der ukrainische Herkunftsschule teilnehmen und auch Aufgaben hierfür erledigen. Sie sind somit einer Mehrbelastung ausgesetzt.
    Das Pendeln zwischen zwei Schulkulturen und Lehrplänen sei für die Kinder eine große Herausforderung, sagte die Hamburger Grundschulleiterin Gudrun Wolters-Vogeler in Dlf Kultur. Es gebe Eltern, die ihre Kinder auf Ukrainisch unterrichten lassen, da sie möglichst bald in ihre Heimat zurückkehren möchten. Andere Eltern hätten den Wunsch in Deutschland zu bleiben und wollen deshalb, dass ihre Kinder Deutsch lernen. "Die Erwartungen, die ans Schulsystem gestellt werden, sind divergent."

    Wie viele zusätzliche Lehrkräfte konnten trotz des Lehrermangels für den Unterricht gewonnen werden?

    Laut einer Studie des Instituts der Deutschen Wirtschaft müssten zwischen 13.500 und 19.400 zusätzliche Lehrkräfte eingestellt werden, um alle geflüchteten Schülerinnen und Schüler aus der Ukraine zu unterrichten. Ersten Schätzungen der KMK zufolge bräuchten Schulen insgesamt 24.000 Lehrkräfte, allerdings basierend auf einer anfänglichen Schätzung von 400.000 geflüchteten Schülerinnen und Schülern.
    Bis Mitte September 2022 waren jedoch laut einer bundesweiten Abfrage der Deutschen Presse-Agentur erst etwa 2.700 Lehr- und Hilfskräfte aus der Ukraine an den Schulen tätig. In vielen Bundesländern müssen geflohene Lehrkräfte sehr gute Deutschkenntnisse vorweisen. Das ist für viele eine Hürde. Und es fehlt ebenso wie im regulären Schulbetrieb an Personal, um diesen Lehrkräften wiederum Deutsch beizubringen.

    Josephine Walther, Ann-Kathrin Jeske, GEW, Deutsches Schulportal, og