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Eine EU-Richtlinie und ihre Auswirkungen
Unmut über ungleiche Behandlung von Kriegsflüchtlingen

Eine EU-Richtlinie, die bereits lange existiert, in diesem Jahr aber erstmals aktiviert wurde, sorgt für Unruhe und Verzweiflung. Auch in Deutschland. Denn die Richtlinie gesteht ukrainischen Flüchtlingen Leistungen zu, die andere Kriegsflüchtlinge nicht in Anspruch nehmen können.

Von Luise Sammann |
Ukrainisch-Polnische Grenze am 22. März 2022: Auch internationale Studierende gehören zu den Kriegsflüchtlingen
Ukrainisch-Polnische Grenze am 22. März 2022: Auch internationale Studierende flüchten vor dem Krieg in der Ukraine - erhalten aber weniger Unterstützung (imago / NurPhoto / Beata Zawrzel)
Ein provisorisch eingerichteter Kursraum in Berlin Neukölln. Knapp 50 Männer und Frauen Anfang zwanzig quetschen sich an die in Hufeisenform aufgestellten Tische. Immer vier oder fünf teilen sich ein Pult. Auf handgeschriebenen Schildchen vor ihnen stehen ihre Namen: Precious kommt aus Nigeria, Joshua aus Ghana, Abdul aus Libyen. „Wir sind jetzt hier, auf Seite 10. Wir lernen das Wort kommen. Ich komme aus… Und dann geht es weiter mit: Wie geht’s…“

Geflüchtete aus Drittstaaten: Zukunft ungewiss

Lehrerin Aretha hält ihr Buch hoch, klopft mit dem Finger auf die aufgeschlagene Seite. Alle machen mit. Handys auf dem Tisch, Zuspätkommen und Privatgespräche sind bei Aretha verboten. Im Unterricht von kürzlich erlebten Bombenangriffen zu sprechen ebenfalls. Seit dreißig Jahren gibt die gebürtige Französin Sprach- und Integrationskurse in Deutschland. Sie weiß, für viele ihrer Schülerinnen und Schüler geht es dabei neben der Sprache vor allem um Struktur.

„Du musst regelmäßig aufstehen. Du musst auch pünktlich zum Unterricht kommen und du musst es auch schaffen, dein Buch mitzubringen und Sinn in dieser Aufgabe zu sehen. Wir haben es hier mit afrikanischen Geflüchteten aus der Ukraine (zu tun), die einfach plötzlich ihr Studium unvorbereitet, brutal und auf unabsehbare Sicht unterbrechen mussten. Sie haben ihre Freunde dort gelassen, sie haben alles gelassen. Manche Geflüchtete fassen täglich ihre Wohnungsschlüssel an und denken an die Ukraine.“
Der tägliche Deutschkurs sei ein Pol der Stabilität für die Teilnehmenden, in deren Leben ansonsten nur noch Chaos herrsche, so Aretha. Kaum einer im Raum wisse, wie es mit seinem Leben weitergehen soll. Viele hätten ihr gesamtes Geld in Mietverträge und Studiengebühren an ukrainischen Universitäten investiert, die nun in Trümmern lägen. Ob sie ihr Studium in Deutschland fortführen dürfen, ob sie überhaupt in Europa bleiben können, ist fraglich.

Mehr als 70.000 internationale Studierende vor Kriegsbeginn

„Wir haben es also hier mit traumatisierten Geflüchteten zu tun, die tatsächlich täglich versuchen, aus diesem Chaos ein neues Leben zu gestalten. Denn ihr Leben ist nicht mehr da, ihr altes. Nur, sie haben noch den zusätzlichen Druck, dass sie hier nicht wie weiße, ukrainische Geflüchtete behandelt werden. Sie haben noch den zusätzlichen Druck, sich zu fragen, wird man mich abweisen? Werde ich ausgewiesen? Muss ich in zwei, drei Monaten Deutschland verlassen?“
Hari aus Indien, der an einem Pult ganz vorne sitzt, nickt zustimmend. Alle in seiner Familie hätten vor drei Jahren zusammengelegt, damit er in Kiew – und damit in Europa – Management studieren könne, erzählt er. Mit dem Abschluss wollte er später Eltern und Großeltern mitversorgen, die Ausbildung der jüngeren Geschwister finanzieren.

„Mir fehlten nur noch zwei Monate bis zum Examen. Aber jetzt ist meine Uni geschlossen, niemand antwortet mehr. Und dabei habe ich alle meine Gebühren schon bezahlt. Alles Geld, das ich hatte, habe ich ausgegeben, um in der Ukraine zu studieren.“
Mehr als 70.000 internationale Studierende gab es nach Angaben der UNESCO vor Kriegsbeginn in der Ukraine. Etwa 3.000 von ihnen sind laut Schätzungen inzwischen in Deutschland. Seit ihrer Flucht fühlen sich viele wie Menschen zweiter Klasse. Beim Überqueren der Grenzen, beim Besteigen der Züge in Polen, bei Zusammenstößen mit der Polizei in Ungarn, der Slowakai oder Österreich... Überall habe man sie anders, schlechter behandelt, als die weißen Flüchtlinge an ihrer Seite, erzählt Holabadi aus Nigeria.

Erfahrungen mit Rassismus auf der Flucht

„Gleich nach unserer Ankunft am Berliner Hauptbahnhof sind wir zu einem Zelt gegangen, um zu fragen, wo wir uns ausruhen könnten. Weil wir ja seit zwei Tagen unterwegs waren. Und ein Helfer dort sagte uns ganz direkt: Wir können hier für Schwarze nichts tun. Er meinte, wir könnten uns etwas zu Essen nehmen, aber ansonsten gebe es keine Hilfe für uns.“

Mit etwas Glück landete Holabadi schließlich beim Tubman-Netzwerk in Berlin-Neukölln. Der Verein setzt sich ehrenamtlich für Schwarze und People of Colour ein, die ebenfalls aus der Ukraine flüchten mussten. Unter anderem vermittelt er Schlafplätze für sie. Familien zu finden, die nicht-weiße Geflüchtete wie Holabadi aufnehmen, sei schwer, bestätigen die Mitarbeitenden. Meist sind es Familien, die selbst von Rassismus betroffen sind, die ihre Hilfe anbieten. Das größte Problem der Ankommenden aber kann momentan niemand lösen:
„Der aktuelle Status von den meisten afrikanischen Studierenden ist gerade so ein richtiger Schwebezustand.“ Erklärt Nora Brezger vom Berliner Flüchtlingsrat. „Da die Massenzustromrichtlinie besagt, dass nur diejenigen diesen Anspruch auf Paragraph 24 haben, also temporärer Schutz für Kriegsvertriebene, die nicht sicher und dauerhaft in ihr Herkunftsland zurückkehren können – wo aber nicht ganz klar ist, was wird da als Kriterien angelegt?“

Für Geflüchtete mit ukrainischem Pass gilt EU-Massenzustromrichtlinie

Allein diese Unklarheit empfinden viele als große Belastung, so Nora Brezger. Sicher ist bisher nur: Bis zum 31. August dürfen so genannte „Drittstaatangehörige“ aus der Ukraine noch legal in Deutschland bleiben. Was danach kommt, weiß aktuell niemand. In dieser Zeit müssen sich die Studierenden selbst finanzieren. Staatliche Unterstützung oder eine Arbeitserlaubnis bekommen sie nicht. Leistungen, die ukrainischen Geflüchteten automatisch zustehen. Denn für sie gilt die vor über 20 Jahren beschlossene, aber in diesem Jahr zum ersten Mal aktivierte „EU-Massenzustromrichtlinie“. In Deutschland wird sie durch Paragraph 24 des Aufenthaltsgesetzes umgesetzt.
Die EU-Mitgliedsländer verpflichten sich damit zu Mindeststandards im Umgang mit ukrainischen Geflüchteten und zur Förderung von Integrationsmaßnahmen. Die langwierigen Asylverfahren, die andere Kriegsflüchtlinge etwa aus Syrien oder Afghanistan durchlaufen müssen, sind für diese Gruppe damit ausgesetzt. Auch deswegen erhalten ukrainische Geflüchtete sofortigen Zugang zum Arbeitsmarkt, zu Gesundheitsleistungen und Integrationskursen.
Nicht nur die überwiegend schwarzen Studierenden aus der Ukraine beim Tubman-Netzwerk, sondern auch Geflüchtete, die schon länger in Deutschland leben, fühlten sich durch diese Regelungen zurückgesetzt, so Nora Brezger vom Berliner Flüchtlingsrat.
„Eine große Frustration ist in den afghanischen Communites, weil da ja auch sehr viele immer noch mit Duldung leben und keinen Aufenthaltsstatus haben und auch definitiv nicht so empfangen worden sind, als sie gekommen sind, in den letzten Jahren und jetzt im Sommer. Und da muss ich sagen, da spüren wir so eine Frustration oder auch Hilflosigkeit. Denn Afghanistan ist ja jetzt nicht plötzlich weg, sondern die Situation wird jeden Tag schlimmer, und es konzentriert sich überhaupt nichts mehr auf diese Situation.“

Gefühl einer Zwei-Klassen-Behandlung von Geflüchteten

Nora Brezger verweist auf einen Fall Anfang März in Berlin, der bei den Betroffenen das Gefühl verstärkte, ungleich behandelt zu werden. 250 überwiegend syrische und afghanische Bewohnerinnen und Bewohner mussten (damals) über Nacht eine landeseigene Gemeinschaftsunterkunft räumen, weil dort stattdessen ukrainische Geflüchtete untergebracht wurden.
„Sie haben uns plötzlich gesagt, ihr werdet verlegt, weil wir Platz für Neuankömmlinge schaffen müssen", erzählt Sadam aus Afghanistan. Innerhalb von 24 Stunden wurden er und die anderen Bewohner auf andere Unterkünfte in Berlin verteilt. Sadam wurde dabei von seinen minderjährigen Brüdern getrennt. Einer von ihnen herzkrank. Erst nach tagelangem Ringen und unzähligen Behördengängen kamen die Geschwister wieder zusammen. Andere Bewohner beklagen, dass sie durch den Umzug gerade begonnene Integrationskurse abbrechen und ihre Kinder Schulen, Kitas und Freundeskreise wechseln mussten. Man habe die Unterkunft „aus logistischen Gründen“ kurzfristig räumen müssen, erklärt Monika Hebbinghaus vom Landesamt für Flüchtlinge. Sie liege in unmittelbarer Nähe zum Ankunftszentrum für ukrainische Geflüchtete in Berlin-Reineckendorf.
Franziska Giffey, Regierende Bürgermeisterin Berlins, winkt neben Nancy Faeser, Bundesministerin des Innern und Heimat, nach einem gemeinsamen Besuch der Anlaufstelle für Geflüchtete im Berliner Hauptbahnhof.
Berlins Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey und Bundesinnenministerin Nancy Faeser (beide SPD) beim Besuch des Ankunftszentrums für Ukraine-Flüchtlinge am Berliner Hauptbahnhof (Carsten Koall/picture alliance/dpa)
„Und wenn die in der Nacht kommen und nicht direkt weitergeleitet werden, dann müssen sie kurzzeitig untergebracht werden können. Wir müssen dort, zentral an einem bekannten Ort, diese Nothilfe leisten können. Deswegen mussten wir an dem Standort weitere Plätze schaffen.“
Ähnliche Vorgänge wurden inzwischen auch aus anderen Bundesländern bekannt. Jeder einzelne trage zu dem Gefühl einer Zwei-Klassen-Behandlung von Geflüchteten bei, so Tareq Alaows, Rechtsberater für Geflüchtete in Berlin. Ein Gefühl, das täglich an vielen Stellen bestätigt werde.
„Ich sehe das zum Beispiel daran, wie Politikerinnen sich gerade äußern. Wie zum Beispiel Franziska Giffey, die sagte, ukrainische Personen stellen als erste Frage nicht, wo kriege ich meine Leistungen, sondern wo kann ich arbeiten. Wobei als Franziska Giffey damals Familienministerin war, hat sie dem Gesetz von Horst Seehofer nicht widersprochen, das Geflüchteten nicht erlaubt hat zu arbeiten. Und jetzt greift sie Menschen an, die aufgrund ihrer Politik von damals benachteiligt wurden. Das ist ein sehr klares Beispiel.“
Tareq Alaows kam selbst 2015 nach Deutschland, als einer von knapp 900.000 syrischen Bürgerkriegsflüchtlingen, die hier Asyl beantragten. Bis heute ist er dankbar für die Hilfsbereitschaft, die er damals erfahren hat.
„2015 waren viele Menschen an den Bahnhöfen, 2015 waren viele Menschen auf den Straßen und haben demonstriert für Öffnung der Grenzen. Das kam nicht nur aufgrund einer politischen Entscheidung ohne zivilgesellschaftlichen Druck damals", erinnert sich der Jurist.

"2015 darf sich nicht wiederholen" hört man nicht mehr

Und doch sei die Hilfsbereitschaft gegenüber Ukrainerinnen und Ukrainern heute viel umfassender, selbstverständlicher, auch im Vergleich zu der gegenüber anderen Flüchtlingsgruppen. Noch im vergangenen Jahr, nicht einmal 24 Stunden nach der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan, warnten führende deutsche Politiker wie Armin Laschet, 2015 dürfe sich nicht wiederholen. Gemeint war die Ankunft Hunderttausender Geflüchteter in Deutschland.
„Die Europäische Union muss sich darauf vorbereiten, dass es Flüchtlingsbewegungen Richtung Europa geben könnte", sagte Laschet damals. "Wir müssen diesmal rechtzeitig in der Region, in den Herkunftsländern humanitäre Hilfe leisten. 2015 darf sich nicht wiederholen.“
Andere Politikerinnen und Politiker schlossen sich Armin Laschet an. AfD-Spitzenkandidatin Alice Weidel forderte, das Asylrecht vorübergehend auszusetzen.
Im Zuge des Ukraine-Krieges hört man solche Forderungen bisher nicht. Zum Glück, betont Tareq Alaows. Auch das Spendenaufkommen und die Selbstverständlichkeit, mit der darüber geredet werde, wie ukrainische Kinder und Jugendliche am besten integriert werden könnten, sei von großer Empathie geprägt. Zur besseren Eingewöhnung etwa würde ukrainischsprachiger Unterricht diskutiert – ohne dass irgendjemand von drohenden `Parallelgesellschaften´ spräche. Von ukrainisch sprachigen Bahnhofsansagen und Fernsehsendungen ganz zu schweigen.
Tareq Alaows lehnt den neuen, empathischen Ton gegenüber Schutzsuchenden nicht ab. Im Gegenteil. „Natürlich ist das schön, dass wir so eine Solidarität gerade haben. Das ist genau das Richtige, was wir tun können. Das ist die Möglichkeit, um uns selbst zu reflektieren und uns zu hinterfragen, wo kommt das her? Warum sind wir viel emotionaler mit Menschen aus der Ukraine als mit Menschen, die nicht aus der Ukraine kommen? Oder als mit Drittstaatsangehörigen aus der Ukraine?“

Frauen, "echte Kriegsflüchtlinge", Christen

„Weil das echte Kriegsflüchtlinge sind“, antwortet ein Twitter-Nutzer unter dem Pseudonym "Gedanken eines Bürgers" auf genau diese Fragen. Andere verweisen auf die Tatsache, dass es vor allem Frauen und Kinder seien, die dieser Tage nach Deutschland fliehen, während ihre Männer tapfer ihr Land verteidigten.
Tatsächlich sind laut Bundesinnenministerium 81 Prozent der Geflüchteten aus der Ukraine aktuell Frauen. Auch deswegen sei die Chance, dass sie bald wieder in ihre Heimat zurückkehrten, deutlich höher als bei Syrern und Afghanen, hört man häufig. Und falls sie doch blieben, könnten sie mit ihrem im Schnitt hohen Bildungsstand dem deutschen Arbeitsmarkt zugutekommen. Dass es auch unter syrischen, iranischen oder afghanischen Geflüchteten viele gut ausgebildete Menschen gibt, die teilweise seit Jahren vergeblich auf die Anerkennung ihrer Abschlüsse warten, werde dabei aus rassistischen Gründen ignoriert, entgegnen andere.
„Es ist unser Kulturkreis, es sind Christen", verkündete der Publizist Gabor Steingart in der ARD-Sendung "Hart aber Fair" vom 28. Februar. Seine Schlussfolgerung: „Ich könnte mir vorstellen, dass es diesmal funktioniert!“

Erstmalige Aktivierung der Massenzustromrichtlinie

Darf also eine wie auch immer geartete gefühlte Nähe die Politik in einem Rechtsstaat lenken? Tatsächlich ermöglicht die erstmalige Aktivierung der Massenzustromrichtlinie ukrainischen Geflüchteten vieles, das Kriegsflüchtlingen aus anderen Ländern bisher verwehrt bleibt. In Deutschland erhalten sie ab dem 1.Juni eine Grundsicherung und damit die gleichen Leistungen wie etwa Hartz IV-Empfänger. Diese Leistungen liegen gut 80 Euro über denen, die Menschen mit anerkanntem Asylstatus beziehen. Berlins Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey wies Anfang April auf weitere Konsequenzen hin:
„Die damit verbundenen Möglichkeiten der Integration, der Gesundheitsversorgung, der Frage von Arbeitsmarktberatung, Deutschkursen, Fähigkeit in den Arbeitsmarkt integriert zu werden. Diese Entscheidung ist ein Quantensprung für die Frage, ob Integration gelingt oder nicht.“

Die EU als Erstfluchtland

Ein Quantensprung, von dem die überwiegend afrikanischen Studierenden beim Berliner Tubman-Netzwerk oder auch viele syrische Geflüchtete nur träumen können. Weil sie keinen ukrainischen Pass haben, ist ihre Zukunft weiter ungewiss.
„Natürlich werden Flüchtlinge derzeit unterschiedlich behandelt. Menschen aus der Ukraine bekommen temporären Schutz und andere Flüchtlinge etwa aus Syrien bekommen das nicht, es ist eine unterschiedliche Behandlung eindeutig.“ Bestätigt Professor Daniel Thym, Ko-Direktor des Forschungszentrums Ausländer- und Asylrecht an der Universität Konstanz. Rassistisch, wie einige meinen, sei diese Ungleichbehandlung allerdings nicht. Wegen der erstmalig aktivierten EU-Massenzustromrichtlinie fuße sie schlicht auf unterschiedlichen juristischen Grundlagen. Auch dafür, dass sich die EU-Innenminister nicht schon im sogenannten Flüchtlingssommer 2015 auf die Aktivierung der Richtlinie einigen konnten, gebe es plausible Gründe, so Daniel Thym.
„Damals war die EU ein nachgelagerter Schutzraum, die Menschen hatten oft jahrelang in der Türkei oder im Libanon gelebt. Heute ist es anders. Die EU ist das Erstfluchtland, das heißt die EU ist heute in der Situation, in der die Türkei und Libanon im Jahr 2012, 2013 war. Ukrainerinnen und Ukrainer haben praktisch nur die Gelegenheit in die EU zu gehen, und das ist ein wichtiger Unterschied.“
Ein Gepard-Luftabwehr-Panzer
Deutschland will der Ukraine 50 Gepard-Luftabwehr-Panzer liefern (picture alliance / dpa / Carsten Rehder)
Sabrina Zajak, die am Deutschen Zentrum für Integration und Migration unter anderem zu Geflüchtetenhilfe forscht, stimmt dem in einem Interview gegenüber dem NDR zu. Natürlich müsse die europäische Hilfsbereitschaft prinzipiell unabhängig von der Herkunft gelten:
„Gleichzeitig ist es aber so, dass wir in Deutschland und Europa eine ganz andere Rolle haben und die setzt sich natürlich in alle Bereiche durch, z.B. auch in der Bereitschaft bzw. in der Präsenz des Themas. Dadurch, dass Europa Konfliktpartei ist und nicht nur eine Region, die einen Konflikt mehr oder minder als Außenstehende betrachtet.“
Dass zusätzlich zu diesen sachlichen Gründen auch Rassismus eine Rolle beim unterschiedlichen Umgang mit Geflüchteten spielen kann, verneint Rechtsprofessor Daniel Thym nicht. Die Art etwa, wie schwarze Menschen, die ebenfalls vor der russischen Aggression flüchten mussten, an der ukrainisch-polnischen Grenze abgewiesen wurden, sei weder moralisch noch juristisch zu rechtfertigen.

Spendenkisten mit Aufschrift: „Nur für Ukrainer“

Insgesamt aber seien Doppelstandards im Umgang mit Menschen Teil der Realität, so Daniel Thym. Auch in einem Rechtsstaat. „Wenn etwa im Ahrtal eine Flutkatastrophe stattfindet, dann gibt es in Deutschland unheimlich viele Spenden. Wenn in Bangladesch eine stattfindet, die häufig sehr viel mehr Leben kostet und auch Menschen betrifft, die unter sehr viel schwierigeren Bedingungen leben, dann gibt es in Deutschland sehr, sehr wenige Spendenaktionen. Das heißt, unsere Solidarität ist immer abgestuft. Und wir geben denjenigen etwas mehr, mit denen wir uns mehr verbunden fühlen.“
Tareq Alaows will das nicht unwidersprochen stehen lassen. Genauso wie die Tatsache, dass schwarze Geflüchtete in Berlin dieser Tage kaum Schlafplätze finden, weil die meisten Deutschen nur weiße Geflüchtete bei sich aufnehmen wollen. Oder dass Helfende am Berliner Hauptbahnhof von Spendenkisten mit der Aufschrift „Nur für Ukrainer!“ berichten. All das mag rechtlich in Ordnung sein, so Tareq Alaows. Moralisch ist es das für ihn nicht.
„Es mag sein, dass Menschen sagen, ich muss mich nicht rechtfertigen, mit wem ich mich solidarisieren möchte. Jeder hat das Recht, das so zu machen oder sich mit bestimmten Menschen zu solidarisieren. Die Frage ist, hinterfragen diese Menschen, wo das herkommt? Und wenn sie das hinterfragen, kommen sie zu einem Ergebnis?“

Rechtlicher Status für 3.000 Studierende aus Drittstaaten

Tareq Alaows gibt sich optimistisch. Die vergangenen Wochen und der insgesamt von Empathie und Solidarität geprägte Umgang mit ukrainischen Geflüchteten hätten für alle sichtbar gemacht, was vorher viele nicht glauben wollten: Deutschland habe sehr wohl Kapazitäten, um innerhalb kürzester Zeit Hunderttausende Menschen aufzunehmen und gut zu versorgen. Auch für die etwa 3.000 Studierenden aus so genannten Drittstaaten, die ebenfalls vor dem Krieg in der Ukraine flüchten mussten und nun hoffen, ihr Studium in Deutschland oder anderswo in Europa beenden zu können, sollte deswegen ein passender rechtlicher Status geschaffen werden. Gesellschaft und Politik müssten es nur wollen.