Montag, 29. April 2024

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Umgang mit der Corona-Pandemie
"Konzepte machen, befolgen und nicht in Angst erstarren!"

Der Gesundheitsökonom Eckhard Nagel warnt davor, in der Corona-Pandemie zu angstgesteuert zu agieren. Zwar müsse jede Corona-Erkrankung vermieden werden, mit wissenschaftlich fundierten Hygienekonzepten sei ein Leben mit Corona jedoch möglich. Einen "schlichten Lockdown" hält er nicht immer für angemessen.

Eckhard Nagel im Gespräch mit Jürgen Zurheide | 20.10.2020
Ein Schild mit der Aufschrift "Hier warten! Bitte Abstand halten!" klebt am Boden im Foyer des Kunstmuseums Moritzburg.
Gesundheitsökonom Eckhard Nagel setzt auf gute Hygiene-Konzepte: "Ich befürchte im Moment, dass wir ein bisschen angstgesteuert sind" (dpa/ZB/Hendrik Schmidt/)
Der erste Lockdown war für Bereiche in Deutschland wirtschaftlich katastrophal. Mit steigenden Infektionszahlen gibt es nun wieder weitere Einschränkungen. Die sind jedoch in Teilen umstritten - und nicht immer nachvollziehbar. Der Mediziner, Ethiker und Gesundheitsökonom Eckhard Nagel wart im Dlf davor, dass man jetzt "in Angst erstarre". Mithilfe von guten Hygienekonzepten könne man auch weitere Lockdowns in anderen Branchen verhindern. Er plädiert zudem dafür, Kitas und Schulen weiter zu öffnen, da man Infektionsgeschehen dort gut nachvollziehen könne.
Klaus Reinhardt, Präsident der Bundesärztekammer, steht am 18.07.2020 vor einer Glastür mit dem Logo der Bundesärztekammer
Bundesärztekammer: "Man kann den Menschen nicht in einer Tour Angst machen"
Man dürfe zwar keine Entwarnung geben, sagte der Präsident der Bundesärztekammer Klaus Reinhardt im Dlf, Angst zu verbreiten, sei aber nicht angebracht.
Jürgen Zurheide: Herr Nagel, fangen wir vielleicht mal an mit Kindergärten, Grundschulen, da ist ja lange auch in Deutschland geredet, diskutiert worden. Sie haben sich auch an dieser Diskussion beteiligt – das Fazit dieser letzten fünf, sechs Monate Diskussion?
Eckhard Nagel: Das Fazit ist das, was man im April schon wusste, aber das ist natürlich in wissenschaftlichen Situationen nicht selten. Wir haben ja zusammen mit Frau Eckert, das ist die Chefin der Charité-Kinderklinik, und ich im April gefordert, öffnet die Kitas, einfach weil es keine Befunde gab, die darauf hinwiesen, dass Kinder tatsächlich gefährdet sind. Dann hat es eben bis vorgestern gedauert, dass der Bundesgesundheitsminister und die Familienministerin deutlich gemacht haben, ja, so ist es, Kitas sollen offen bleiben und können offen bleiben, weil Kinder keine Gefahr in der Infektionskette darstellen. So ist zumindest mal hier ein Befund, der sich jetzt bestätigt hat und der uns hoffentlich für die weitere Strukturierung im Umgang mit der Pandemie weiterhilft.
Eckhard Nagel, Mitglied des Ethikrats.
Eckhard Nagel (Imago / biky)
"Jede Vermeidung einer Corona-Erkrankung ist wichtig"
Zurheide: Genau die Frage, Herr Nagel, ist, was können wir daraus lernen? Wir müssen ja lernen, mit wissenschaftlich fundierter Sicherheit sagen zu können, geht, geht nicht. Ich weiß nicht, ob ich Sie das heute Morgen fragen kann, aber was rufen Sie einem Kay Lorentz heute Morgen zu?
Nagel: Ja, das ist natürlich eine ganz schwierige Situation, denn er hat ja deutlich gemacht, dass sein Theater ein Konzept entwickelt hat, ein Konzept im Umgang und im Leben mit Corona. Ich glaube, das ist etwas, was im Moment tatsächlich zu kurz kommt, weil wir eine Situation haben, die natürlich besorgniserregend ist. Auch das möchte ich noch mal betonen: Jede Vermeidung einer Corona-Erkrankung ist wichtig, einfach deshalb, weil diese Corona-Erkrankung schwerwiegend sein kann, ganz unabhängig vom Alter eines Menschen, mit schweren, wahrscheinlich sogar chronischen Folgen. Insofern, auf diese Vermeidung lege ich größten Wert, aber wir müssen, denke ich, schauen, dass wir mit Konzepten, die entwickelt werden, zum Beispiel in einem Theater, dann auch umgehen, und das ist ja Wissenschaft. Wissenschaft stellt eine Theorie auf, stellt ein Konzept auf, ein Vorgehen, und überprüft das dann, und der schlichte Lockdown, in Anführungsstrichen, jetzt wieder, weil um das Theater herum neue Infektionen erkennbar werden, das ist keine Lösung.
Ensemble des Kom(m)ödchens.
Traditionsbühne Kom(m)ödchen kritisiert Auflagen
Der Intendant des Kabarett-Theaters Kom(m)ödchen in Düsseldorf hat beklagt, dass Theater mit den aktuellen Corona-Auflagen nicht kostendeckend spielen können. Darum habe er die Aufführungen in seinem Haus bis Ende Oktober abgesagt, erklärte Kay Lorentz im Dlf.
"Ich befürchte im Moment, dass wir ein bisschen angstgesteuert sind"
Zurheide: Beim Fußball könnte man das jetzt durchdeklinieren. Es gibt Fußball mit Hygienekonzept – ich hab’s gerade angesprochen –, in dem Fall, da gibt’s ja nicht ein Beispiel, sondern mehrere, wo auch die Frage im Raum steht, gibt es da Infektionsgeschehen. Was machen wir mit dieser Erkenntnis, oder andersrum, wo die Erkenntnis fehlt, was brauchen wir noch, um validere Daten zu bekommen?
Nagel: Ich befürchte im Moment, dass wir ein bisschen angstgesteuert sind. Wenn ich höre, dass man in Leipzig von 8.500 Zuschauern für das nächste Spiel auf 300 runtergeht, dann fragt man sich natürlich, was ist die Rationale, also wenn wir schon von Wissenschaft sprechen, was sind die Gründe dafür. Die kann man, glaube ich, nicht wirklich gut benennen, wenn man sie nur an der Zahl von infizierten Personen in und um Leipzig korreliert, sondern man müsste ja überlegen, wie kommen die Personen dort hin, wie verhalten sie sich vor Ort, gibt es eine Situation, in der Ansteckung tatsächlich wahrscheinlich ist. Und da, glaube ich, ist der entscheidende Punkt, es kommt auf jeden Einzelnen an. Es wird ja jetzt immer wieder gesagt, aber es ist natürlich für eine demokratische Gesellschaft schwierig, sich wirklich bewusst zu machen, ich kann zum Fußball gehen, ja, ich kann ins Theater gehen, ja, mein Kind kann in die Schule gehen, aber man muss sich nach spezifischen Regeln auch verhalten und ich kann nicht einfach ausbrechen. Es ist kein Ausdruck von Freiheit, keine Maske zu tragen. Da ist, glaube ich, im Moment die Schwierigkeit, und dann reagiert unser System offensichtlich ängstlich und sagt, na gut, dann machen wir zu, dann wollen wir nicht weitergehen. Das bringt natürlich noch wieder mehr Leute auf, weil verstehen kann man es in Wirklichkeit nicht.
Ein Schild in München, auf dem auf die Maskenpflicht im öffentlichen Raum hingewiesen wird.
Kommentar: Es zählt das Verhalten jedes und jeder Einzelnen
Dass die Bundesländer das Beherbergungsverbot unterschiedlich handhaben, sei nur schwer vermittelbar, kommentiert Joachim Frank. Zudem könnten Kommunen diese und andere Corona-Maßnahmen kaum kontrollieren.
Zurheide: Auf der anderen Seite ist natürlich die Angst – Sie haben es auch gesagt – real, wir machen ja hier gerade eine Gratwanderung: Auf der einen Seite gehören wir beide nicht zu den Corona-Leugnern, aber wir sagen, wir brauchen mehr wissenschaftliche Evidenz. Kann man das eigentlich so untersuchen, die Frage, wie ich sie gestellt habe, Fußball hat stattgefunden, Theater hat stattgefunden, und danach gibt es irgendetwas. Sind wir schon ausreichend gut aufgestellt, um das wirklich sagen zu können?
"Nicht in Angst erstarren"
Nagel: Ausreichend gut aufgestellt kann man in diesem Moment noch nicht sein, sondern wir verändern unser Wissen ja ständig. Ich glaube, wir müssen damit leben, dass auch Irrtumswahrscheinlichkeit ein Spezifikum der Wissenschaft Teil vom politischen Handeln wird. Politiker mögen ja nicht so gerne sich irren, oder auch die Öffentlichkeit möchte nicht, dass Politikerinnen und Politiker sich irren, aber ich glaube, da müssen wir in der Pandemie anders denken.
Wir haben jetzt eine Erkenntnis, zum Beispiel zu den Kitas, was wir am Anfang gesagt haben, das hat sechs Monate gedauert, dass in Irrtumswahrscheinlichkeit man auf die sichere Seite gehen wollte, mit erheblichen negativen Folgen für Kinder und Eltern. So scheint es mir jetzt auch im Kulturbereich zu sein. Wir haben eine Reihe von Studien, die laufen unter der Überschrift "sichere Kita, sichere Rehabilitation", jetzt machen wir sichere Universität in Bayreuth mit einem Testzentrum hier. Das sind alles Konzepte, die überprüfen und Daten sammeln und die natürlich in einigen Wochen und Monaten noch mehr Erkenntnis geben können, aber beginnen müssen wir mal mit dem Zutrauen, dass das, was wir heute wissen, zu adäquaten Verhaltensweisen führen kann. Wenn wir diese Verhaltensweisen einhalten, dann ist die Wahrscheinlichkeit, sich anzustecken, bei 70.000 Infizierten, bei 80 Millionen Menschen nicht so wahnsinnig groß. Insofern mein Plädoyer: Bitte Konzepte machen, befolgen und nicht in Angst erstarren!
Zurheide: Wenn wir dann den Lockdown gerade gehört haben in Berchtesgaden, im Berchtesgadener Land, da werden dann die Kitas auch geschlossen. Wären Sie da skeptisch, oder sagen Sie, das kann ich heute Morgen noch nicht beantworten?
Nagel: Ich bin ganz dabei, dass man im Berchtesgadener Land handeln muss, einfach deshalb, weil ein wichtiger Punkt passiert ist, nämlich man hat die Kontrolle verloren. Man kann nicht mehr nachvollziehen, wo ist tatsächlich der Infektionsherd, wie kommt es dazu, dass sich hier so viele Menschen im Moment infizieren. Auf der anderen Seite hätte ich unserem Ministerpräsidenten zugeraten, lass Schulen und Kitas offen, und zwar als einzige Einrichtungen, weil die kann man gut kontrollieren, die kann man nachvollziehen, das ist auch für die Gesundheitsämter vor Ort möglich. Wir hätten ein Zeichen gesetzt, aber leider ist das im Moment anders entschieden worden.
"Wir müssen aber beweisen, dass wir es genauso gut können, auch ohne Kontrolle"
Zurheide: Sie haben gerade hingewiesen auf sichere Universität, ich erreiche Sie heute Morgen in Bayreuth, was machen Sie da, um zu zeigen oder zu versuchen zu zeigen, dass es geht?
Nagel: Wir haben ein umfassendes Konzept, ähnlich wie Herr Lorentz gerade für sein Theater dargestellt hat, entwickelt, wo jeder Studierende hier vor Ort sein Studium nachvollziehen kann. Wir haben eine Corona-Teststation auf dem Universitätsgelände, wir haben eine Telefon-Hotline, an die man sich wenden kann, um dort einen Termin zu vereinbaren, und man weiß innerhalb von 24 Stunden, bin ich womöglich infiziert oder nicht. Alle anderen, mit denen ich in der Vorlesung war, wissen das auch. Natürlich halten wir die Corona-Regeln, die Abstandsregeln ein, wir tragen Mundschutz auf dem Gelände, aber wenn wir am Platz sind, wenn wir im Labor sind, dann dürfen die Maske runternehmen. So versuchen wir und werden wir versuchen, einen adäquaten Unterricht durchzuführen. Ein positiv Getesteter wird nicht dazu führen, dass wir unsere Vorlesungen zumachen, sondern dass wir strukturiert weitertesten, Reihenteste machen und auch weiter die Vorlesungen und den Betrieb laufen lassen.
Zurheide: Jetzt haben wir über verschiedene Dinge und Veranstaltungen und Formate geredet, wo Sie eher sagen, Sie können sich vorstellen, dass das weiter funktioniert. Können wir das jetzt mal umdrehen und sagen, wo kommen denn die steigenden Infektionszahlen im Moment her – also Bars, Tanzen oder auch persönliche, private Feiern –, wo sehen Sie Treiber für das, was wir da gerade beobachten, denn es ist ja real, was wir beobachten.
Nagel: Wenn ich sage, es kommt auf jeden Einzelnen an, dann sehen wir natürlich in der wieder neu aufflammenden sogenannten zweiten Welle offensichtlich eine Situation, dass manche der Corona-Regeln müde das Gefühl haben, für uns gilt das nicht. Und dann hat sich ja leider auch festgesetzt, dass jüngere Menschen offensichtlich nicht so gefährdet sind, was wie gesagt nicht stimmt, sie können auch ganz schwere Erkrankungen davontragen. So hat es eine Reihe von Veranstaltungen gegeben offensichtlich, die dazu beigetragen haben, dass sich dann gleich viele, bis zu 100 Personen, infiziert haben. Ich hab sogar jetzt in Österreich erlebt, wo auf einer Almhütte junge Leute zusammengekommen sind und danach von den 30 Personen 15 infiziert waren. Das sind natürlich dann diejenigen, die es weitertragen. Wenn ich so eine Grundstimmung habe, na ja, auf mich kommt es nicht an oder ich muss mich nicht so genau an die Regeln halten – und das erleben wir ja durchaus auch im Alltag auch in der Stadt oder in der Deutschen Bundesbahn –, dann wird es problematisch. Insofern ist es halt diese schwierige Abwägung zwischen wie viel Kontrolle braucht es und wie viel Appell und wie viel Fähigkeit haben wir als Bevölkerung, uns an die Regeln zu halten. Das ist im Moment, glaube ich, die schwierige Diskussion. Aus meinen Blicken nach China weiß ich ja, dass mit absoluter Kontrolle man natürlich erreichen kann, dass die Zahlen deutlich sinken, aber ich glaube, das ist das, was wir nicht wollen. Wir müssen aber beweisen, dass wir es genauso gut können, auch ohne Kontrolle.
Zurheide: Der ein oder andere sagt, wenn wir demnächst diese Schnelltests haben, dann haben wir das Problem gelöst, sozusagen bevor ich ins Theater gehe, bevor ich ins Fußballstadion gehe oder sonst wohin, von mir aus auch in die Bar, mach ich einen Schnelltest und eine Viertelstunde später weiß ich, kann ich rein oder nicht. Ist das eine realistische Hoffnung oder sagen Sie, Vorsicht an der Bahnsteigkante?
Nagel: Das klingt mir ein bisschen naiv. Ein Test ist eben nicht mal ein Ticket ziehen, sondern auch der Test braucht eine gewisse Zeit, in aller Regel sind es auch Bluttests, das heißt, sie sind auch von Infektionssituationen anderer Art nicht ganz abzulegen, also an der Stelle wäre ich vorsichtig. Wir nutzen dieses Tests jetzt auch erst mal, sehen, dass sie nicht ganz so gut, aber doch relativ gut wirken, aber es bleibt ein Risiko von circa 8 bis 9 Prozent falsche Aussagen. Damit dann ein Fußballstadion, also die gelbe Wand in Dortmund zu füllen und unter Umständen dort 10 oder 15 Leute zu haben von den vielen Tausend, die dann doch positiv sind, ich glaube, das wäre ein fatales Risiko. Insofern Entlastung sicher, aber keine einfache Lösung mit dem Zurück-wie-es-war.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.