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Umstrittene Ausnahmeregelungen
Doping mit Genehmigung

Der verschleierte Umgang mit medizinischen Ausnahmegenehmigungen zeigt erneut, was im internationalen Spitzensport nicht funktioniert. Vertrauen in die Akteure allein reicht nicht. Es mangelt an echter Kontrolle.

Von Jürgen Kalwa | 11.12.2016
    Die US-Turnerin Simone Biles während der Olympischen Spiele in Rio de Janeiro.
    Erst nach Enthüllungen der Hacker-Gruppe "Fancy Bears" gab die Turnerin Simone Biles zu, das Medikament Ritalin einzunehmen. (dpa/ picture alliance / Soeren Stache)
    Die Grußworte der Hacker im September machten überhaupt keinen Hehl daraus, um was und wen es ihnen ging: Um den angeblich so sauberen Ruf der Olympiateilnehmer aus den USA:
    "Nach genauen Studien der gehackten WADA-Datenbank haben wir herausgefunden, dass Dutzende von amerikanischen Athleten positiv getestet wurden. Die Medailliengewinner von Rio haben regelmäßig nicht erlaubte, starke Arzneimittel genommen, was mit Ausnahmegenehmigungen für einen therapeutischen Zweck gerechtfertigt wurde."
    Die pauschale Verurteilung der Beteiligten folgte auf dem Fuße:
    "Mit anderen Worten, sie haben eine Genehmigung fürs Dopen bekommen.”
    WADA in der Kritik
    Schlussfolgerung: Die Welt-Anti-Dopingagentur WADA und die medizinische und wissenschaftliche Abteilung des Internationalen Olympischen Komitees sei "korrupt und hinterlistig". Wer wissen wollte, wie die Hacker mit dem Namen "Fancy Bears" diesen Vorwurf zu belegen versuchten, der konnte sich nach ein paar Klicks eine Reihe von offiziell aussehenden Dokumenten anschauen.
    Wie etwa den Dopingtestbericht der derzeit besten Turnerin der Welt, Simone Biles. Die hatte der Frauen-Zeitschrift "Vogue" just zu jenem Zeitpunkt in einem Video-Interview auf die Frage geantwortet: "Wie bleibst du unter Druck so ruhig und konzentriert?”
    - "How do you stay so calm and focused under pressure?” –
    - "I remember all the routines I have done.”
    Sie erinnere sich einfach an alle Übungsteile. Keine Rede von Ritalin, einem Arzneimittel, das anregend und aufregend wirkt, das Müdigkeit und Hemmungen unterdrücken kann und ganz nebenbei auch noch den Appetit hemmt. Dass sie den nimmt, gab sie erst zu, als die "Fancy Bears”-Enthüllung die Runde machte.
    Sie leide nämlich an der Hyperaktivitätsstörung ADHS. Und das seit Kindertagen. Die Behandlung mit der auf der Liste der verbotenen Dopingmittel stehenden Arznei sei von der amerikanischen Anti-Dopingagentur abgesegnet worden.
    Alles in Ordnung also?
    Travis Tygart, der Chef der USADA, neulich im Deutschlandfunk:
    "Unsere Athleten befolgen die Regeln und machen alles richtig: Sie haben gesagt, welche medizinischen Bedürfnisse sie haben, haben gewartet bis der Prüfprozess abgeschlossen war und dann eine Genehmigung oder eben nicht bekommen, bevor sie die Medizin genommen haben, die sie benötigen."
    Angesichts der auffallend hohen Zahlen hakte Interviewerin Marina Schweizer allerdings nach:
    "Gibt es in den USA soviele kranke Spitzensportler?
    "In unserem Olympia-Team in Rio hatten wir 538 Athleten. Und weniger als zwei Prozent hatten Ausnahmegenehmigungen. Sie müssen einberechnen, dass wir in den USA einen großen Zuständigkeitsbereich haben. 15 Millionen Menschen. Es geht nicht nur um Elite-Athleten, die nach Ausnahmegenehmigungen fragen. Es schließt auch Freizeitsportler mit ein. Ungefähr 67 Prozent unserer Ausnahmegenehmigungen, also etwa 400 Menschen, sind für Athleten, die nicht auf der nationalen oder internationalen Ebene Wettkampf betreiben.”
    Die Ausführungen wirkten beruhigend. Allerdings legt ein Bericht im "Spiegel” erst vor wenigen Tagen etwas anderes nahe. Der basiert auf Informationen, die sich "Fancy Bears” ebenfalls auf illegale Weise aus dem Email-Archiv von Tygarts Agentur besorgt hatte. Die Dokumente deuten an, dass USADA-Mitarbeiter einen schweren Stand haben.
    Unterschiedliche Regelauslegungen in einzelnen Ländern
    "In der Realität ist es so, dass wir viele Anträge von Athleten erhalten, die bereits damit begonnen haben, ein Medikament zu nehmen, das im Wettkampf verboten ist", wurde Matthew Fedoruk, der Wissenschaftsdirektor zitiert.
    "Ich würde sagen, dass bei den wenigsten Anträgen die Richtlinie 'Erst anfragen, dann einnehmen' eingehalten wird. In den allermeisten Fällen kümmern sich die Sportler niemals 30 Tage im Voraus darum."
    Der Widerspruch zur Tygart-Aussage ist offensichtlich. Und deshalb der Bedarf an Aufklärung auch groß. Braucht es nicht mehr Transparenz? Ein Fachmann wie Professor Dr. Perikles Simon von der Universität Mainz würde sich das wünschen. Und zwar sowohl, was die Präferenz für bestimmte verbotene Mittel angeht als auch, weil es offensichtlich unterschiedliche Regelauslegungen in einzelnen Ländern gibt.
    "Man kann diese Analysen rein theoretisch machen, wenn man an die Daten herankäme. Da ist die Frage: Warum legen die NADAs oder auch WADA insgesamt dazu nichts vor? Und das ist das Problem. Denn wenn man Athleten befragt, das hat man schon in wissenschaftlichen Studien getan, was sie von diesen Ausnahmegenehmigungen halten, dann sagen die Athleten selber, dass sie das als Einstieg in Richtung Doping betrachten. Das heißt, wenn die Athleten das schon sagen, haben wir im Kontrollbereich auch eine gewisse Verpflichtung zu kontrollieren, ob es denn auf dieser Ebene mit rechten Dingen zugeht.”
    Jeder halbwegs begründete Verdacht schwächt demnach die Glaubwürdigkeit des Systems. Erst recht, wenn eine Organisation wie die USADA Cyberangriffe auf Datensysteme im Sport auf folgende Weise abschmettert. Die sollten doch "nur dazu genutzt werden, um falsche Nachrichten zu verbreiten”. Allerdings: Bislang hat noch kein betroffener Athlet auch nur zu demonstrieren versucht, dass die in die Öffentlichkeit getragenen Informationen über sie oder ihn nicht korrekt sind.