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Umstrittene Lockerungen
Chinas Frauen halten nicht viel von Pekings neuer Drei-Kind-Politik

China hat eine weitere Lockerung der strengen Familienplanungspolitik angekündigt: Verheiratete Paare dürfen jetzt drei statt zwei Kinder bekommen. Hintergrund ist die rasche Überalterung der Gesellschaft. Aber viele Chinesinnen und Chinesen halten nicht viel von den neuen Vorgaben.

Von Ruth Kirchner | 05.06.2021
Eine Krankenschwester kümmert sich um ein Baby auf der Neugeborenenstation in Fuyang, Anhui, China, April 2021
China verzeichnet einen Rückgang der Geburtenrate um 18 Prozent innerhalb eines Jahres (imago / Sheldon Cooper)
Sie nennt sich Andrea, ihren chinesischen Namen will die 30-Jährige nicht nennen – aus Sorge, ihre offenen Worte könnten ihr zur Last gelegt werden. Andrea ist Finanzexpertin in Peking, arbeitet bei einer internationalen Wirtschaftsprüfungsgesellschaft. Der Job fordert viel, Andrea arbeitet oft bis spät abends oder auch am Wochenende. Seit einem Jahr ist sie verheiratet, wünscht sich eigentlich ein Kind:
"Letztes Jahr wollte ich daher den Job wechseln. Zunächst fanden sie meinen Lebenslauf ganz okay. Aber dann kamen die Fragen: wie alt ich in, ob ich verheiratet bin, ob ich schon ein Kind habe. Verheiratet, ohne Kind, das ginge nicht, hieß es dann – und damit war ich raus."

Benachteiligung der Frauen

Andreas Geschichte ist typisch für China. Frauen, die noch keine Kinder haben, werden oft gar nicht erst eingestellt – sie könnten ja schwanger werden. Manche Firmen fordern sogar eine schriftliche Zusicherung, dass junge Frauen in den ersten Jahren keine Kinder bekommen werden – andernfalls droht die Kündigung.
"In den sozialen Medien gibt es eine ganze Reihe solcher Geschichten", sagt Yaqiu Wang von der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch, die gerade einen ausführlichen Bericht zur Diskriminierung von Frauen und zur Familienpolitik in China veröffentlicht hat.
"Frauen erzählen, sie seien sofort gefeuert worden, als sie schwanger wurden. Anderen wurde gesagt, die Geschäfte liefen gerade nicht so gut und deshalb würden sie entlassen – ganz zufällig nur drei Tage nachdem sie ihre Schwangerschaft bekannt gemacht hatten."
Erlaubt ist das alles nicht. Vor dem Gesetz sind Frauen und Männer gleich in China; Diskriminierung wegen des Geschlechts ist verboten. Aber die Realität sieht anders aus.
"Die Gesetze werden nicht richtig umgesetzt, und Verstöße werden von den Behörden einfach nicht aktiv untersucht", sagt Yaqiu Wang
Hintergrund der Diskriminierung: Frauen haben Anspruch auf bezahlten Mutterschutz – mindestens drei Monate lang. Elternzeit für Väter gibt es gar nicht. Das hält viele Firmen davon ab, Frauen einzustellen. Doch offene Diskriminierung, die Angst um die Karriere – das ist nur ein Grund, warum chinesische Frauen immer weniger Kinder bekommen. Viele Paare sind einfach zu erschöpft, sagt Andrea.
"Wenn Arbeitgeber weiterhin dieses 996-Modell verfolgen - jeden Tag von neun Uhr morgens bis neun Uhr abends arbeiten, und das sechs Tage die Woche - wenn das so weitergeht, wer hat dann noch Zeit für Kinder? Man ist dann einfach nur noch fertig."
Siedlung südlich von Kashgar in der chinesischen Provinz Xinjiang am 4.6.2019
Minderheiten in China - Die Lage der Uiguren
Millionenfache Lagerhaft, Zwangsarbeit, Zwangssterilisationen: Die Menschenrechtslage in Chinas Uiguren-Provinz Xinjiang wird immer prekärer. Einige Forscher sprechen sogar von kulturellem Genozid. Fragen und Antworten zu einem Konflikt, in den möglicherweise auch internationale Firmen verstrickt sind.
Und dann sind da die Kosten für die Kinder. Kindergeld gibt es in China nicht. Schon ein einziges Kind belastet die Familienkasse oft schwer. Wohnen in Metropolen wie Shanghai und Peking ist extrem teuer, öffentliche Kindergärten sind Mangelware, private kosten umgerechnet 500 bis 1000 Euro – pro Monat. Und dann kommen noch die vielen privaten Kurse dazu – Musikunterricht, Schwimmkurs, alles was dem Nachwuchs einen guten Start ermöglichen soll im knallharten Konkurrenzkampf um die Plätze in den guten Schulen.
"Wenn man sich Kinder leisten will, braucht man schon ein ziemlich gutes Einkommen", sagt Andrea. "Wenn die Regierung will, dass wir mehr Kinder haben sollen, muss es irgendwie leichter und bezahlbarer werden. Warum soll man sonst übers Kinderkriegen überhaupt reden?"

Kein Babyboom in Sicht

Viele junge Eltern in China sind zudem selbst Einzelkinder – und müssen sich auch noch um die eigenen alten Eltern kümmern. Und Alte gibt es in China immer mehr – Chinas Sozialsysteme sind darauf nicht vorbereitet. Außerdem nimmt die Zahl der Menschen im arbeitsfähigen Alter ab. Daher jetzt die Drei-Kind-Politik. Doch Liu Ye vom King’s College in London geht nicht davon aus, dass China jetzt einen Babyboom erleben wird.
"Die Regierung verlagert die Verantwortung für die demographische Krise in die einzelnen Familien – ohne konkrete Maßnahmen oder finanzielle Zusagen anzukündigen."
Schon die Lockerungen vor fünf Jahren, als nach der jahrelangen strikten Ein-Kind-Politik, zwei Kinder erlaubt wurden, haben die Geburtenrate nicht nach oben getrieben. Im Gegenteil. Im letzten Jahr kamen in China nur noch 12 Millionen Babys zur Welt – 18 Prozent weniger als im Vorjahr. Lu Jiehua, Soziologe an der Peking Universität fordert daher schon lange weitere Schritte.
"Wenn die Lockerungspolitik nicht deutliche Wirkung zeigt, muss man unterstützende Maßnahmen auf den Weg bringen, Hilfen bei der Kinderbetreuung, bei der Bildung und Steuererleichterung, eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Das muss man systematisch angehen."
Aber von einer echten Familienpolitik ist China weit entfernt. Zusammen mit der Drei-Kind-Politik hat die Kommunistische Partei zwar "unterstützende Maßnahmen" versprochen, aber keine Details genannt. Andrea zuckt mit den Schultern. Große Erwartungen in die Regierung hat sie nicht. Die finanziellen Sorgen, die Last der Kinderbetreuung, die Diskriminierung am Arbeitsplatz – damit muss sie so wie Millionen andere Frauen in China weiterhin alleine fertig werden.