
"Der Pflegebody: Stellen Sie sich das vor wie ein Overall. Der wird hinten zugeschnürt, und die kann sich natürlich aufrichten, kann die Arme bewegen, den Kopf oder so, aber sie kann sich nicht selber ausziehen."
Kusch schätzt, dass es etwa sechs Wochen dauern wird, bis das Gericht den Pflegebody genehmigt. Das ist lang angesichts der zugespitzten Situation. Und dann muss noch jemand für den Pflegebody bezahlen. Der Gesetzgeber sieht dieses komplexe Verfahren so vor, um die Frau vor einem unverhältnismäßigen Eingriff in ihre Freiheitsrechte zu schützen.
Viele solcher Maßnahmen wirken auf den ersten Blick sehr alltäglich. Zum Beispiel, wenn ein Mensch im Rollstuhl an den Esstisch geschoben und die Feststellbremse betätigt wird, die er selbst nicht lösen kann, damit die Pflegekraft sich erst einmal um andere kümmern kann. Oder ein Bauchgurt, der verhindern soll, dass Menschen aus dem Stuhl oder aus dem Bett rutschen.
Rainer Dopp war früher Justiz-Staatssekretär in Mecklenburg-Vorpommern. Jetzt leitet er die Prüfungen der Nationalen Stelle zur Verhütung von Folter. Das ist eine staatliche Einrichtung, die die Achtung der Menschenwürde an Orten des Freiheitsentzugs überprüfen soll, zum Beispiel in Gefängnissen oder Polizeistellen. Im vergangenen Jahr hat die Stelle vor allem Alten- und Pflegeheime untersucht. Bei der Vorstellung des Jahresberichts erinnert Dopp sich an einen der unangekündigten Besuche.
"Ich bin in einem Heim gewesen, da war eine Abteilung für Demente, die wollte man nicht auf die Straße lassen, was ich gut nachvollziehen kann. Es gab aber auch keinerlei Beschlüsse dafür. Das war in der vierten Etage und da gab es einen Aufzug. Diesen Aufzug kann man nur bedienen, wenn man den Schlüssel dafür hat. Oder aber man geht durchs Treppenhaus. Und wenn man ein Sofa beiseite räumte und den entsprechenden Code eingab, dann konnte man eine Tür öffnen und war im Treppenhaus – allerdings in der vierten Etage. Und ich glaube nicht, dass einer, der im Rollstuhl sitzt und dement ist, vier Etagen heil nach unten kommt."

"Wir sind auf der einen Seite froh, dass auch durch ReduFix - das kann man auch nachweisen - und auch durch ein Bewusstsein in der Fachöffentlichkeit und in den Einrichtungen die Fixierungsrate abgesenkt wurde. In einigen Bundesländern kann man das auch regelrecht - bezogen auf die Heime - so nachvollziehen. Wir gehen gleichwohl davon aus, dass wir heute noch täglich etwa 340.000 Maßnahmen in deutschen Pflegeheimen haben, die als freiheitsentziehende Maßnahmen zu qualifizieren sind."
"Das muss genehmigt werden, und formal ist es legal, wenn ein richterlicher Beschluss vorliegt, der sagt: Ok, es gab kein anderes Mittel, hier werden freiheitsentziehende Maßnahmen eingesetzt, um dem Wohl des Betroffenen zu dienen. Das ist die einzige Kategorie, die hier legitimieren kann. Nur, mit Recht fixiert ist auch nicht besser fixiert."
Zwar sind heute verhältnismäßig weniger Heimbewohnerinnen und –bewohner von freiheitsentziehenden Maßnahmen betroffen als noch vor einigen Jahren. Doch die steigende Zahl an Pflegebedürftigen sorgt laut Forscher Klie dafür, dass die absoluten Zahlen in etwa gleich bleiben.
Für eine einzelne Bewohnerin, die nicht mehr in der Lage ist zu widersprechen, kann eine fehlende richterliche Genehmigung gravierende Konsequenzen haben. Zum Beispiel, weil sie fortan in einer geschlossenen Station lebt.
Drei von vier Heimbewohnerinnen erhalten eine sogenannte Bedarfsmedikation. Dann verschreibt ein Arzt die Tabletten sozusagen auf Vorrat, und die Pflegenden können sie bei Bedarf verabreichen. Steht auf dem Rezept lediglich "bei Unruhe", lässt das viel Interpretationsspielraum.
"Nur alle Studien über den Einsatz von Psychopharmaka in deutschen Pflegeheimen weisen sehr, sehr deutlich darauf hin, dass die überwiegende Zahl der Einsätze von Psychopharmaka nicht indiziert ist. Und insofern haben wir es in diesen Fällen mit absolut rechtswidrigen Medikationen zu tun, die auch die Voraussetzung einer freiheitsentziehenden Maßnahme erfüllen können, nämlich dann, wenn das Ziel verfolgt wird, jemanden in seiner Bewegungsfreiheit einzuschränken."
Es gibt große Unterschiede zwischen den Heimen. Jeder einzelne Gesprächspartner für diese Recherche betont, dass es viele kompetente und engagierte Pflegekräfte und Einrichtungen gibt. Thomas Klie:
"Das variiert in den Heimen sehr, sehr stark. Wir haben Einrichtungen, wo viele fixiert werden, und wir haben Einrichtungen, wo ganz wenige Menschen fixiert werden."

"Die schützen Sie insofern nicht, dass freiheitsentziehende Maßnahmen in der Regel auch immobil machen. Jemand, den ich ans Bett fixiere, dem nehme ich seine Kraft später zum Aufstehen, Stehen und Gehen können. Wichtig ist es eigentlich eher umgekehrt, eine Alternative zu finden, denjenigen zu mobilisieren, Bewegungsübungen machen, Physiotherapie, kleine Laufübungen, oder in einen geschützten Raum gehen, wo er sich eventuell auch auf dem Gesäß fortbewegt."
"Manchmal macht’s auch einfach ein Gespräch oder ein warmes Getränk in der Nacht, aber wenn ich 48 Bewohner in der Nacht alleine versorge, und ich habe dann einen unruhigen Patienten oder einen unruhigen Bewohner, dann wird es schon schwierig mit dem beruhigenden Gespräch, oder ein Getränk zu reichen oder einfach sich Zeit zu nehmen und am Bett zu bleiben. Dann wird die Bedarfsmedikation auch mal vielleicht schneller gereicht."
Zwei von drei Altenpflegekräften arbeiten im Schichtdienst. Insgesamt leisteten sie im Jahr 2016 laut Statistischem Bundesamt 9,5 Millionen Überstunden, die gemessene Unzufriedenheit ist hoch. Begünstigt all dies so drastische Fälle von Vernachlässigung, wie sie die Nationale Stelle schildert?
"Das ist mangelnde Empathie und fehlende Fachlichkeit, fehlende Kreativität. Und viele Mitarbeiter sind einfach auch an ihren Grenzen angekommen. Die sind, wie man so schön sagt, ausgebrannt."
In der Altenpflege waren im vergangenen Jahr laut Bundesagentur für Arbeit rund 24.000 Stellen unbesetzt, vor allem qualifiziertes Personal fehlt. Im Durchschnitt suchen Einrichtungen ein halbes Jahr nach einer examinierten Altenpflegefachkraft. Gleichzeitig steigt die Zahl der Pflegebedürftigen seit Jahren an. Das haben im vergangenen Jahr gleich drei Mitglieder der Bundesregierung erkannt. Familienministerin Franziska Giffey, Gesundheitsminister Jens Spahn und Arbeitsminister Hubertus Heil präsentierten vor wenigen Tagen die Maßnahmen der "Konzertierten Aktion Pflege".

Andreas Westerfellhaus, Pflegebevollmächtigter der Bundesregierung, sieht einen direkten Zusammenhang zwischen der Personalausstattung der Einrichtungen und freiheitsentziehenden Maßnahmen. Am Rande des Empfangs der Nationalen Stelle zur Verhütung von Folter sagt er:
"Die Maßnahmen des Freiheitsentzugs, gerade da, wo es möglicherweise auch um medikamentöse Ruhigstellung geht, mit manchmal natürlich abstrusen Begründungen, weil das Personal und die Menschen fehlen."
Politiker quer durch die Parteien fordern mehr Transparenz, keine bloße Überprüfung anhand der Aktenlage.
Die Münchner Heimaufsicht ist eine der wenigen in ganz Deutschland, die einen aussagekräftigen Prüfbericht veröffentlicht. Öffentlicher Druck, gar Wettbewerb unter den Einrichtungen: Fehlanzeige. Die Befugnisse der Nationalen Stelle zur Verhütung von Folter, die anders als der Medizinische Dienst der Krankenkassen oder die Heimaufsicht Missstände sehr deutlich beschreibt, enden mit der Veröffentlichung ihres Jahresberichts.
Bei Herbert Mauel, Geschäftsführer des Bundesverbands der privater Anbieter sozialer Dienste, der mehr als ein Drittel aller Pflegeheime in Deutschland vertritt, kam die Prüfung der Nationalen Stelle nicht gut an. Er ist, gelinde gesagt, erbost.
"Was ist das eigentlich für eine Form von Wertschätzung? Wenn jemand kommt und sagt, wir müssen mal gucken, ob es hier Anzeichen von Folter gibt. Wir sind kein Polizeigewahrsam, wir sind kein Gefängnis, und ob das überhaupt gedeckt ist, ist aus unserer Sicht nach wie vor strittig und wirklich unangemessen."
"So eine Prozentzahl, die ist zu hoch, das ist immer so. Daran arbeiten wir. Aber wir haben in den letzten Jahren – und zwar nicht nur wir, sondern alle Verbände – haben ganz erhebliche Fortbildungsanstrengungen gemacht, um dieses Thema voranzubringen. Und dieser Fortschritt ist, wenn man mehrere Berichte liest, sehr deutlich zu erkennen."
Darüber hinaus zweifelt Geschäftsführer Mauel die Aussagekraft der Zahlen aus dem Bericht des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen an. Nur weil der MDK festgestellt habe, dass ein Teil der Bewohnerinnen und Bewohner Medikamente nicht gemäß ärztlicher Anordnung verabreicht bekommt, müsse es sich nicht automatisch um eine Menschenrechtsverletzung handeln, sagt er.
"Wichtig ist, dann in jedem Einzelfall zu gucken, was steckt denn genau dahinter. Wenn ein Arzt sagt, das habe ich doch mit dem besprochen, das schreib ich doch nicht nochmal extra auf - und ich sehe ja, dass die das ordentlich machen -, das kann eine mögliche Erklärung sein. Die kann genauso möglich sein wie - möglicherweise war das unklar. Beides ist doch denkbar."
Nicht zu tolerieren seien die Missstände, die die Nationale Stelle benannt hat, schreibt Brigitte Döcker in einer E-Mail. Sie ist Vorstandsmitglied des AWO-Bundesverbands, der als freigemeinnütziger Träger zahlreiche Altenpflegeheime in Deutschland betreibt.
"Je nach Fehlerursachen sind Fortbildungen anzubieten, Haltungen zu reflektieren und Verfahrensabläufe weiterzuentwickeln und damit zu verbessern. Aber auch arbeitsrechtliche Konsequenzen sind zu ziehen."
"Wir wollen, dass im Pflegeprozess solche Überlegungen eine Selbstverständlichkeit sind. Insofern ist dieses Delegieren auf Stabsstellen nicht immer nur ein gutes Zeichen, sondern das muss in den Alltag integriert werden. Das ist das, wo wir eigentlich hinwollen."
In einem sind sich fast alle Zuständigen und Akteure in der Pflegebranche einig: Zusätzliche Kontrollen durch den Medizinischen Dienst der Krankenkassen oder die Heimaufsicht seien kontraproduktiv. Der Pflegebevollmächtigte der Bundesregierung, Andreas Westerfellhaus:
"Das schürt Misstrauen, das schürt Ängste, und das dient, glaube ich, nicht einer Qualitätsentwicklung, sondern wir müssen beides im Auge haben. Wir brauchen das Vertrauen. Denn ich sage einfach mal, der weitgrößte Anteil derjenigen, die diese Arbeit leisten, macht das unter einer ungeheuren Kraftanstrengung und macht das hochqualifiziert. Und da, wo es Fehlverhalten gibt - wie in anderen Bereichen dieser Gesellschaft -, da müssen wir auch bereit sein, sofort zu reagieren."
Dass in Alten- und Pflegeheimen die Menschrechte eingehalten werden, das will der Jurist Thomas Klie nicht nur den Kontrollinstanzen überlassen. Er sieht darin eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.
"Insofern ist es ganz, ganz wichtig, dass wir den Kontakt zu Institutionen als Bürgerinnen, als Mitbürger, als Freunde, als Nachbarn, als ehemalige Kollegen halten, damit die Menschen, die dort leben, weiterhin nicht nur das Gefühl haben, sondern dass sie auch erleben, dass sie für uns bedeutsam bleiben. Und die soziale Kontrolle in Heimen ist immer noch die wirksamste Kontrolle gegen Menschenrechtsverletzungen."
