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"Unglaublich segensreich auf die Schule" gewirkt

Der Kern der Reformpädagogik sei, vom Kind her zu denken und das Ziel zu verfolgen, dessen Selbstwertgefühl zu stärken, fasst Bernhard Bueb zusammen. Von diesem Weg aufgrund der Missbrauchsfälle abzuweichen, wäre ein großer Verlust, sagte der ehemalige Direktor des Schulinternats Salem.

Bernhard Bueb im Gespräch mit Dirk Müller |
    Dirk Müller: Ausgerechnet in dieser kritischen, in dieser unangenehmen, von harten Vorwürfen geprägten Situation begeht die Odenwaldschule ihr 100jähriges Bestehen. Gegründet im Zusammenhang mit der reformpädagogischen Bewegung, die seit Beginn des letzten Jahrhunderts auf der Suche nach Anhängern war, die bereit waren, die neuen Überlegungen auch in die Praxis umzusetzen. Alle Schüler sollten demnach mitgestalten, sie sollten mitbestimmen und auch mitverantworten, nicht nur Goethes "Faust" lernen, sondern auch handwerkliche und musische Tätigkeiten praktizieren. Durch die vielen Missbrauchsfälle, die in diesen Wochen die Schlagzeilen bestimmen, ist die Odenwaldschule sowie auch die Reformpädagogik mehr als nur in Misskredit geraten.

    100 Jahre Odenwaldschule und die Reformpädagogik, darüber wollen wir nun sprechen mit Bernhard Bueb, Anfang der 70er selbst Lehrer an der Odenwaldschule und nachher Direktor des Schulinternats Salem. Er hat dann 2006 das Buch "Lob der Disziplin – eine Streitschrift" geschrieben. Guten Morgen!

    Bernhard Bueb: Guten Morgen, Herr Müller.

    Müller: Herr Bueb, wann haben Sie für sich beschlossen, die Reformpädagogik reformieren zu müssen?

    Bueb: Ich habe die Reformpädagogik nicht reformiert und es ist ein Missverständnis, dass Reformpädagogik eine Pädagogik des Laissez-faire, des Gewährenlassens sei. Die Montessori-Pädagogik zum Beispiel legt großen Wert auf Disziplin und Ordnung. Der Lehrer heißt sogar "Hüter der Ordnung". Das heißt, Disziplin ist das Mittel, das man Kindern an die Hand gibt, damit sie ihre Ziele erreichen können.

    Der Kern der Reformpädagogik, dass nämlich vom Kinde her gedacht wird und dass das Ziel von Bildung und Erziehung heißen soll, das Selbstwertgefühl von Kindern zu stärken und sie nicht mit Wissen abzufüllen, oder sie nur an einem allgemeinen Maßstab messen zu wollen, dieser Kern bleibt erhalten und hat unglaublich segensreich auf die Schule, auch auf die Staatsschule gewirkt. Die besten reformpädagogischen Schulmodelle heute sind Staatsschulen und es wäre ein großer Verlust, wenn wir diesen Weg nicht weitergehen würden.

    Müller: Sie sagen, das ist alles ein Missverständnis, die Reformpädagogik hat immer auch auf Disziplin gesetzt. Warum haben Sie sich dann berufen gefühlt, die Disziplin noch mal einzufordern?

    Bueb: Weil nach den 68er-Jahren das Missverständnis aufkam, dass man Kinder dadurch zur Freiheit erziehen kann, dass man ihnen früh altersunangemessene Freiheit gewährt, und mir schien es notwendig zu sein, daran zu erinnern, dass auch die Anfänger der Reformpädagogik durchaus Ordnung und Disziplin gefordert haben. Nehmen Sie einmal an den Gründer von Salem, Kurt Hahn, der war weder ein Faschist – umgekehrt: Er war ein Opfer des Faschismus -, noch hat er den pädagogischen Eros gefordert, noch hat er eine distanzlose Nähe propagiert. Das heißt, die Reformpädagogik ist unglaublich facettenreich und vielfältig und lässt sich nicht reduzieren auf ein Schema. Deswegen muss man immer wieder sagen, reformpädagogische Schulen sind auch Schulen, die viel von Kindern fordern und viel von Kindern erwarten, und das widerspricht sich nicht.

    Müller: Ist das auch ein Missverständnis gewesen, Herr Bueb – davon haben wir jedenfalls in der mittleren Generation immer wieder gehört -, dass die 68er die wahren Helden und die wahren Protagonisten der Reformpädagogik sind?

    Bueb: Das ist ein Missverständnis. Die große Stunde der Reformpädagogik war ja im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts und hat ja eine vielfältige Schullandschaft produziert, von der wir heute zehren. Und sie hat vor allem das Verhältnis der Erwachsenen zu den Kindern verändert. Das heißt, der Lehrer ist nicht mehr der Distanzierte, die distanzierte Autorität, sondern der Lehrer ist einer, der Zeit für Kinder hat, der sich ihnen zuwendet, der sie als Personen erkennt, der also nicht Schüler unterrichtet, sondern der Kinder unterrichtet, der den Fritz und die Elisabeth sieht und nicht nur sozusagen die Leistungsfähigkeit von Schülerinnen und Schülern. Diese veränderte Rolle des Lehrers ist einer der großen Fortschritte in der Pädagogik.

    Wenn heute die Nähe verdächtigt wird, die Nähe von Erwachsenen zu Kindern, die hat ja überhaupt nichts mit Missbrauch zu tun. Missbrauch ist ja die Handlung von pervertierten Triebtätern und resultiert nicht aus der Nähe zu Kindern. Zum Beispiel viele der katholischen Schulen sind ja nicht reformpädagogisch orientiert und dort ist der Missbrauch genauso erfolgt wie in reformpädagogischen Einrichtungen.

    Müller: Warum ist es denn so weit gekommen, gerade in der Odenwaldschule?

    Bueb: Aus einem Mangel. Meiner Ansicht nach gibt es nur drei Wege, dem Missbrauch zu begegnen. Das sind klare Gesetze, das ist soziale Kontrolle innerhalb der Schule und eine aufmerksame, vertrauensvolle Aufsicht durch die Leitung, und diese Aufsicht in der Leitung hat gefehlt. Umgekehrt: Der Täter saß in der Leitung und dadurch wurden einige, sozusagen zur falschen Pädophilie neigende Lehrer ermutigt, sich an Kindern zu vergreifen, weil der Täter an der Spitze stand.
    Sie müssen bedenken: Die Schule wird heute 100 Jahre alt. 85 Jahre von diesen 100 Jahren gab es keine Übergriffe an Kindern. Nur in den 15 Jahren, wo ein pädophiler Leiter an der Spitze der Schule stand.

    Müller: Wir haben jüngst nachgelesen, Herr Bueb, dass Sie auch von diesen Missbrauchsfällen erfahren haben Ende der 90er. Stimmt das?

    Bueb: Ich habe aus der Zeitung erfahren, als 1998 in der "Frankfurter Rundschau" zum ersten Mal ehemalige Schüler der Odenwaldschule Vorwürfe erhoben haben. Da habe ich zum ersten Mal davon erfahren.

    Müller: Wie sind Sie damit umgegangen?

    Bueb: Wir haben uns darauf verlassen, dass der damalige Schulleiter Wolfgang Harder sehr sorgfältig und ausgezeichnet den Fall aufgeklärt hat, und nachdem das Maximum oder das Optimum erreicht war, haben wir alle uns zurückgelehnt, und ich sage alle. Das sind ehemalige Schüler, das sind ehemalige Lehrer, gegenwärtige Lehrer, das sind Journalisten, das ist die Staatsaufsicht. Allen haben wir uns damit begnügt. Wir hätten nicht zulassen dürfen, dass der Täter sich in Schweigen hüllt.

    Müller: Das war ein großer Fehler auch von Ihnen?

    Bueb: Das war ein großer Fehler - das habe ich auch in der "Zeit" in einem Artikel dargestellt – und diesen Fehler verzeihe ich mir schwer, denn das hing damit zusammen, dass wir uns auf Hartmut von Hentig, der Freund sozusagen von diesem Gerold Becker, verlassen haben und gesagt haben, es kann nicht sein, dass der so etwas getan hat, zumal das Ausmaß der Taten ja jetzt erst deutlich geworden ist. Das heißt, was im Jahre 98 die Schüler berichtet haben, unterscheidet sich noch mal massiv von dem, was jetzt herauskommt.

    Müller: Sie haben ja Anfang der 70er zwei Jahre in oder an der Odenwaldschule unterrichtet. Da gab es nicht dieses Klima, von dem wir heute wissen?

    Bueb: Nein, vollkommen ahnungslos und sowohl ehemalige Schüler wie auch ehemalige Lehrer und jetzige Lehrer, wir fragen uns, warum wir das nicht gemerkt haben, aber wir haben es nicht gemerkt.

    Müller: Ist die Gefahr, in einem geschlossenen Schulsystem, wenn ich das so bezeichnen darf, zu operieren, für diese Dinge besonders groß?

    Bueb: Das glaube ich nicht. Ich glaube, dass sozusagen Gemeinschaften eher verhindern, dass es zu Missbrauch kommt, weil die soziale Kontrolle größer ist. Der Hauptort solcher Taten ist ja die Familie, weil dort keinerlei Kontrolle stattfindet, keine Aufsicht und niemand sehen kann, was die in der Regel Väter mit ihren Kindern machen, wo hingegen Internate zum Beispiel, wenn sie gut geführt sind, gut geführt werden, eher einen Schutz bieten vor solchen Übergriffen.

    Müller: Aber es gibt doch kaum Lehrer, die mehr Einfluss auf ihre Schüler haben als diejenigen, die in Internaten unterrichten?

    Bueb: Ja, aber der Einfluss ist zu 99,9 Prozent positiv. Statistisch gesehen – nehmen Sie nur den Fall Odenwaldschule – sind die Fälle des Missbrauchs ja gering, außer der Leiter sitzt an der Spitze, um das noch mal zu betonen. Dann ist natürlich dem Missbrauch Tür und Tor geöffnet.

    Müller: Bei uns heute Morgen im Deutschlandfunk der Reformpädagoge Bernhard Bueb. Vielen Dank für das Gespräch und auf Wiederhören.

    Bueb: Ja, gerne. Auf Wiederhören.