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"Zugriff der Erwachsenen auf die Lebenswelt der Schüler zu groß"

Die größere persönliche Nähe zwischen Lehrern und Schülern auf einem Internat sei für Menschen mit pädophilen Neigungen anziehend, sagt Thomas Ziehe. Für die große Zahl von Missbrauchsfällen an Reformschulen machte Ziehe die sexuelle Befreiung der 60er-Jahre verantwortlich.

Thomas Ziehe im Gespräch mit Silvia Engels | 17.03.2010
    Silvia Engels: Vor einer halben Stunde haben wir in den "Informationen am Mittag" schon einmal über die Generaldebatte im Bundestag gesprochen. In dieser Debatte hat Bundeskanzlerin Merkel auch das Thema des sexuellen Missbrauchs von Schülern in katholischen und anderen Einrichtungen angesprochen. Sie sprach von verabscheuungswürdigen Verbrechen, die aufgeklärt werden müssten und von notwendiger Aufarbeitung.

    O-Ton Angela Merkel: Deshalb bin ich froh, dass die drei Ministerinnen, Frau Leutheusser-Schnarrenberger, Kristina Schröder und Annette Schavan, gemeinsam ein Gesprächsforum bilden mit den Betroffenen, mit denen, aus denen auch diese Fälle bekannt werden, und dass man sowohl in die Vergangenheit, als auch in die Zukunft blickt.

    Engels: Die Bundeskanzlerin spricht sich also im tagelangen Streit zwischen dem Justizministerium und dem Familienministerium um die Frage, wie ein solcher Runder Tisch aussehen soll, für eine einheitliche Lösung aus. – Parallel dazu werden immer weitere mutmaßliche Missbrauchsfälle bekannt.
    Mitgehört am Telefon hat Professor Thomas Ziehe. Er ist Erziehungswissenschaftler an der Universität Hannover. Guten Tag, Herr Professor Ziehe.

    Thomas Ziehe: Schönen guten Tag.

    Engels: Nun also auch Schloss Salem. In den letzten Tagen fällt ja auf, dass nun auch Missbrauchsfälle an Schulen bekannt werden, die nicht in kirchlicher Trägerschaft stehen, aber die Internate sind. Sind es die Internatsstrukturen, die möglicherweise den Boden für solche Fälle bereiten?

    Ziehe: Ja, ich glaube schon, dass Internatsstrukturen hier eine große Anfälligkeit zeigen für Missbrauchssituationen. Es ist so, dass die Landerziehungsheime klassischerweise durch die Reformpädagogik, durch die geschichtliche Reformpädagogik motiviert waren, und dort ist eine Schwierigkeit, dass man die Beteiligten nicht mehr als Träger von Rollen betrachtet, sondern als ganze Menschen, die mit sehr viel emotionaler Nähe und psychischer Intimität voneinander lernen sollen, und das macht es schwieriger, Grenzen einzuhalten, wenn die Idee ist, je größer die persönliche Nähe, umso pädagogisch besser sei dieses. Dann ist natürlich so ein Schultypus anfällig gewissermaßen für bestimmte Persönlichkeitstypen, die pädophile Neigungen haben.

    Engels: Was sollten die Internate bei ihren pädagogischen Konzepten daraus lernen?

    Ziehe: Sie sollten daraus lernen, dass Grenzen einzuhalten nicht nur persönliche Entscheidungen sind, sondern das sind konzeptionelle Richtlinien, wo man sagt, der Schüler ist nicht als ganzer Mensch, so wie ein Kind seinen Eltern zugeordnet ist, mit dem Lehrer in einer Konstellation, sondern der Lehrer hat eine Rolle mit bestimmten Grenzen und die Schüler haben auch eine Rolle, was ihnen auch bestimmte Rückzugsrechte bieten muss. Internate sind in Gefahr, dass der Zugriff der Erwachsenen auf die Lebenswelt der Schüler zu groß wird.

    Engels: Herr Professor Ziehe, Grenzen ziehen ist das eine, oder sollte man grundsätzlich den Unterricht in Internaten generell überdenken?

    Ziehe: Nein, so weit würde ich nicht gehen. Es gibt gerade von der jetzt ins Gerede gekommenen Odenwaldschule ja sehr, sehr viele beeindruckende Berichte, was das für eine positive Schulzeit für die Schüler gewesen ist. Ich würde nicht sagen, dass das die Idee des Internats diskreditiert. Aber was diskreditiert wird und werden muss ist die Idee, die dann in der 68er-Zeit natürlich noch mal enorm verstärkt wurde, dass es sich gewissermaßen um eine sexuelle Befreiung handle, wenn Erwachsene mit Minderjährigen Kontakte hätten, und dass die Erwachsenen das dann mit dem Argument, man soll nicht so spießig sein, gewissermaßen tarnen. Menschen mit pädophiler Neigung sind so problematisch, weil sie im Grunde den Perspektivwechsel auf den anderen gar nicht machen können. Sie haben empfindliche Wahrnehmungsstörungen und von daher ein notorisch gutes Gewissen in der Regel.

    Engels: Sie haben es angesprochen: Die Missbrauchsfälle an der Odenwaldschule haben besonders ein schräges Licht, ein schiefes Licht, ein ungünstiges Licht auf die sogenannte Reformpädagogik geworfen. Gerät dadurch auch der gesamte Ansatz in Misskredit, oder war es ohnehin ein besonderer Ansatz, den die Odenwaldschule verfolgt hat, der jetzt möglicherweise überarbeitet werden muss?

    Ziehe: Im Falle der Odenwaldschule ist es so, dass es einerseits ein reformpädagogisches Modell ist, wie es dies seit Anfang des 20. Jahrhunderts gegeben hat. Aber dann war es auch eine Schule, die sich sehr stark dem Zeitgeist der 68er-Zeit geöffnet hat, und von daher war sie freier, liberaler, freizügiger als die anderen Internate, jedenfalls nach meiner Kenntnis. Diese Freizügigkeit, die vor 40 Jahren in diesen Milieus relativ verbreitet war, die sehen wir heute, aus heutiger Sicht natürlich mit sehr viel kritischeren Augen. Die ganze sexuelle Befreiungsrhetorik erweist sich dann doch als interessegeleitet durch Menschen, die auf diesem Wege ihren pädophilen Neigungen nachkommen wollen, ohne das selber zu merken, was sie den anderen jeweils antun.

    Engels: Die heutige Leiterin der Schule, Frau Kaufmann, wirft ihrem Vorgänger, dem auch tatverdächtigen Gerold Becker, in der "Frankfurter Rundschau" heute aktiven Täterschutz vor - Becker galt als führender Pädagoge -, dazu vor allem dessen Lebensgefährte Hartmut von Hentig. Beide lassen sich hierzu nicht auf eine Debatte der intensiveren Art ein. Welchen Schaden richtet das für die Erziehungswissenschaft generell an?

    Ziehe: Es ist die Gefahr einer Rufschädigung der Internate gegeben. Für alle anderen Schultypen würde ich das eigentlich nicht sagen. Wenn sich Herr Becker oder Herr von Hentig zurzeit nicht äußern, mag das ja auch juristische Gründe haben. Das kann ich jetzt nicht beurteilen. Aber ich würde sagen, es ist kein Anlass, die Internate generell als Institution abschaffen zu wollen, noch zu sagen, die Reformpädagogik hat in sich eingebaut eine Neigung zu Pädophilie. Das hielte ich für eine groteske Übertreibung. Aber es gibt einen Zusammenhang zwischen der Nähesituation des Internats und Persönlichkeitsstrukturen, die pädophiler Art sind, und dass solche Menschen natürlich – das würde dann auch mit der Kirche Parallelen zeigen – in solche Institutionen gerne hineingehen.

    Engels: Professor Thomas Ziehe, Erziehungswissenschaftler an der Universität Hannover. Vielen Dank für das Gespräch.

    Ziehe: Ich danke Ihnen.