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"Unklug, den Russen ständig moralische Lehren zu erteilen"

Russland habe strategisches Interesse an Syrien, so der Historiker und Publizist Michael Stürmer. Unter anderem wolle Moskau dem Westen klar machen, dass im östlichen Mittelmeer ohne seine Mithilfe nichts zu bewirken sei.

Michael Stürmer im Gespräch mit Jürgen Liminski | 01.06.2013
    Jürgen Liminski: In der Sache waren wir Europäer diese Woche unterschiedlicher Meinung, als es darum ging, das Waffenembargo gegen Syrien zu verlängern, mit der Folge, dass jetzt wieder Waffen geliefert werden können. Russland hat damit schon mal angefangen und Lieferungen von Flugabwehrraketen und modernen Kampfjets an das Regime Assad angekündigt, unter dem Protest der Europäer, die das ermöglicht haben, und unter dem Protest auch mancher Amerikaner, die diese Lieferung ähnlich wie der deutsche Außenminister für falsch halten. Vorhersehbare Kritik von allen Seiten? Warum tut Moskau so etwas? Was ist das strategische Interesse der Russen und gibt es eine heimliche Komplizenschaft mit den Amerikanern? Zu diesen und anderen Fragen begrüße ich den Historiker und Publizisten Michael Stürmer – guten Morgen, Herr Stürmer!

    Michael Stürmer: Ja, guten Morgen, Herr Liminiski!

    Liminski: Herr Stürmer, es kann nicht nur um Geld und Geschäfte gehen, wenn die Russen moderne Waffen an das Regime Assad liefern. Was ist das strategische Interesse Moskaus, dieses Regime zu halten?

    Stürmer: Ob und wann die Russen bezahlt werden, da haben Sie völlig recht, ist eine ganz offene Frage. Sie stützen das Assad-Regime, haben es gestützt, werden es auch weiterhin stützen. Was ist das strategische Interesse der Russen? Zum Ersten, den Amerikanern und dem Westen klarzumachen, im Mittelmeer, im östlichen Mittelmeer könnt ihr nichts bewirken, ohne uns an Bord zu haben. Man hat das versucht eine Weile, es gab ja schon sehr lange die Idee einer Syrien-Konferenz. Die Amerikaner und der Westen verlangten, erst muss Assad weg sein, die Russen sagten nein, wir müssen mit ihm verhandeln. Das Zweite ist, die Russen haben natürlich sehr alte, sehr alte Mittelmeerinteressen. Die gehen auf Peter den Großen zurück und sind zwischendurch immer wieder bewaffnet und unbewaffnet vertreten worden. Drittens haben sie einen Kriegshafen, den einzigen Kriegshafen, den sie am Mittelmeer haben, nämlich Tartus, und Tartus ist genau in dem Rückzugsgebiet, wo die Alawiten stark sind, das heißt, die Gruppierung um Assad.

    Liminski: Das Mittelmeer sozusagen als Weltmachtelement. Kann Russland es sich überhaupt leisten, Weltmacht zu sein?

    Stürmer: Russland ist Weltmacht, und zwar im nuklearen Bereich. Wenn man 3000 taktische Nuklearwaffen hat oder mehr als das, und wenn man mehr als 1000 strategische Nuklearwaffen hat, dann ist man Weltmacht und wünscht, als solche behandelt zu werden. Und es ist sehr unklug, das zu missachten. Und es ist sehr unklug, den Russen ständig moralische Lehren zu erteilen. Das bringt nicht nur nichts, sondern erschwert die Kooperation ganz außerordentlich. Das psychologische Element ist zwischen den Völkern wichtig, und es ist speziell in Russland wichtig. Russland ist eine verwundete Weltmacht, und dieses geht nun seit 20 Jahren, sozusagen die Russen fühlen sich unter Wert behandelt vom Westen. Das mag so sein oder mag nicht so sein, aber psychologisch ist das eine Tatsache, und die muss man in Betracht ziehen. Und bisher ist es nicht klar, ob die Russen wirklich schon die S300 – und um die geht’s, nicht um die MiGs – die S300 geliefert haben. Die S300 sind eine technisch sehr fortgeschrittene und sehr politische Waffe wegen ihrer Einsatzmöglichkeiten. Die S300 ist ein Boden-Luft-System, das natürlich gegen die Rebellen überhaupt keinen Sinn macht, weil die Rebellen weder Hubschrauber noch Flugzeuge haben. Das macht nur Sinn gegen Israel. Und hier haben wir die Ausweitung des Konflikts, die wir genau nicht brauchen können und unter allen Umständen hätten verhindern müssen. Das heißt, hier geht es um die Verweigerung des syrischen und libanesischen Luftraums für die Israelis, für die israelische Luftwaffe.

    Liminski: Nur fällt auf, Herr Professor, dass der Protest der Israelis relativ verhalten klingt. Ist denn denkbar, dass die Flugabwehrraketen und die MiG-Kampfjets weniger gegen Israel gerichtet und eher als Abschreckung gedacht sind, etwa damit die Franzosen und Briten nicht auf die Idee kommen, von sich aus eine Flugverbotszone einzurichten?

    Stürmer: Genau wissen wir das nicht, aber das ist natürlich völlig richtig. Der Protest der Israelis ist verhältnismäßig leise, jedenfalls was die Öffentlichkeit betrifft, aber der Verteidigungsminister von Israel, Ya’alon, hat sehr klar gesagt, wir wissen, was wir zu tun haben. Und sie haben bereits vor wenigen Wochen das getan, was sie zu tun haben, nämlich sie haben Raketenlager und Raketentransporte von Damaskus in Richtung Hisbollah im Südlibanon verhindert, indem sie sie zerschmissen haben, zerstört haben. Wenn jetzt russische Systeme, erneut russische Systeme zum Ziel werden, da wird man es nicht groß ankündigen, sondern man wird tun, was man zu tun hat. Und das kann hochgefährlich werden.

    Liminski: Auch Washington hält sich relativ zurück. Außenminister Kerry meinte beim Treffen mit Amtskollege Westerwelle, die Russen seien seriös und wollten einen politischen Prozess in Syrien. Kann man im Fall Syrien von einer heimlichen Komplizenschaft zwischen Russland und Amerika sprechen, wenigstens für den Kampf gegen den islamistischen Terror?

    Stürmer: Ich bin überzeugt davon, dass das so ist. Beide Seiten haben dieses Problem. Die Russen haben praktisch die Kontrolle über den muslimischen Nordkaukasus verloren, und das kann natürlich noch sehr viel mehr sich ausweiten. Russland hat 140 Millionen Einwohner, über 20 Millionen sind Muslime, und viele davon sind denkbar unglücklich in der Lage, in der sie sich befinden. Die Amerikaner führen oder haben geführt in war and terror, und das war natürlich nur ein Codewort für den Kampf gegen radikalen, militanten Islamismus. Da ist eine gemeinsame Masse, und bisher ist auch überhaupt nicht klar, ob die Russen nun schon geliefert haben. Wenn sie geliefert haben, sind die Syrer daran ausgebildet, können die diese sehr komplizierten Systeme überhaupt vernünftig bedienen und so weiter. Es ist noch nicht die Zeit, es an die ganz große Glocke zu hängen.

    Liminski: Was verspricht denn für diese Auspizien die Syrien-Konferenz Genf 2, sie soll ja in zehn Tagen eröffnet werden?

    Stürmer: Ja, das ist, ohne dass die Rebellen in einer halbwegs repräsentativen Gruppierung vertreten sind. Das ist natürlich eine Sache – ein Messer ohne Griff. Viel kann man im Moment in dieser Konferenz nicht erreichen. Das Wichtigste, was man erreichen kann und bisher erreicht hat, dass Amerikaner und Russen in dieser Sache sozusagen vom selben Gesangbuch singen. Ob das wirklich geschieht, ob die S300-Lieferung ein taktisches Manöver ist oder ob sie tatsächlich das, was die Amerikaner nennen einen Game Changer, ist, also eine Veränderung sämtlicher strategischer und taktischer Gleichungen ist, das kann man im Moment nicht wirklich sagen. Möglicherweise haben die Russen zwei Außenpolitiken, die nebeneinander und gegeneinander laufen. Das wäre kein ganz neues Phänomen, das gibt’s im Völkerleben, gibt’s auch im wirklichen Leben, und das gibt es natürlich auch in der russischen Außenpolitik.

    Liminski: Das strategische Interesse Russlands an Syrien und dem Regime Assad. Das war der Historiker und Publizist Michael Stürmer. Besten Dank fürs Gespräch, Herr Stürmer!

    Stürmer: Danke Ihnen!


    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.