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Untergänge in der Malerei

In Krisenzeiten haben Untergangsprognosen Konjunktur. Doch Vorstellungen von Apokalypse und Endzeit lassen sich in allen Kulturepochen und Genres finden. Ein Essay über Untergänge in der Malerei.

Von Stefan Koldehoff | 17.05.2012
    Dass er gescheitert war, wollte der junge Maler nicht wahrhaben. Ein Jahr und acht Monate lang hatte er sich nach Kräften bemüht, endlich ein Meisterwerk auf die Leinwand zu bekommen. Er gewann die Familie de Groot-van Rooij im holländischen Nuenen als Modelle und erhielt die Erlaubnis, sich immer wieder in ihrer Bauernhütte aufzuhalten. Dort skizzierte er die Kanne auf dem Tisch, die Uhr an der Wand und sogar die Gabeln, mit denen die Bauersleute nach den Kartoffeln stochern. Er zeichnete Studien von der Kreuzigungsszene mit Johannes und Maria, die links über den Köpfen der Familie neben einer Pendeluhr hing. Und er malte eine eigene kleine Studie nur von der kupfernen Kanne, aus der auf dem fertigen Bild eine Bäuerin einen Kaffeeersatz aus getrockneter und zerstoßener Zicchorie ausschenken würde.

    Nichts wollte Vincent van Gogh, 32 Jahre jung, dem Zufall überlassen. Was sein erstes Meisterwerk werden sollte, wurde bis ins Detail geplant. Er probierte aus, ob er das im Vordergrund dargestellte Mädchen besser stehen oder sitzen ließ. Er beschäftigt die alte Frau am rechten Bildrand mit Kanne und Tassen, als er feststellte, dass sie mit ihrem Arm gar nicht bis an die Kartoffeln herankommen würde. Und er malte Dutzende von Porträts, um der Physiognomie der einfachen holländischen Bauersleute gerecht zu werden. Zwei Vorfassungen entstanden in Öl.

    Was Vincent van Gogh dann zwischen Mitte April und Anfang Mai 1885 in seinem kleinen Atelier Schafrat malte, galt lange vor allem als Dokument des sozialen Engagements. Das Werk mit dem Titel "Die Kartoffelesser" orientierte sich formal an den Regentenstücken des 17. Jahrhunderts mit ihren Tischgesellschaften – zeigte aber statt Fürsten und Adeligen einfache Landsleute. 1921 pathetisierte der Kunstpublizist Julius Meier-Graefe über van Gogh und seine Bauern:

    "Er bekommt selbst so ein Gesicht, gräbt, schaufelt, eggt Linien von Menschen, die immer in der Erde, von der Erde leben, Bauernlinien, Bauernflächen. Sein Stift wird Pflug."

    Generationen von Van Gogh-Interpreten nach ihm übernahmen die sozialkritische Deutung, van Gogh habe sich als mitfühlender Beobachter der ärmlichen Bauernmahlzeit verstanden. Tatsächlich ging es van Gogh darum, die inszenierte Szene so naturgetreu wie möglich wiederzugeben - nicht als sozialen Kommentar, sondern so, wie er sein Motiv sehen wollte: als Dokument des archaischen Bauernlebens, das von der fortschreitenden Industrialisierung noch völlig unberührt geblieben ist.

    Vor allem aber wollte der Maler, der zuvor bereits weder als Prediger noch als Buchhändler oder Lehrer hatte Fuß fassen können, nach Jahren weitgehend autodidaktischer Schulung endlich bewusst ein Bild schaffen, mit dem er auch in den Augen seiner Kollegen und des Kunsthandels würde bestehen können. Die Aufgabe, die er sich ausgerechnet mit jenem Motiv gestellt hatte, war allerdings nicht einfach zu lösen. Das Vorhaben, fünf Menschen so darzustellen, dass sie im Schein nur einer einzigen Öllampe auch noch halbwegs naturalistisch aussehen, musste letztlich scheitern.

    Dass er schließlich sein Ziel, ein von seinen Zeitgenossen anerkanntes Meisterwerk zu schaffen, nicht erreicht hatte, erfuhr van Gogh recht schnell. Er ließ eine Lithografie nach dem Gemälde drucken und schickte Abzüge auch an Theo – zur Verteilung an Pariser Kunsthändler. Theo, der inzwischen den Impressionismus kennen und schätzen gelernt hat, kam der Bitte offenbar nicht nach.

    Zwar lobt er, man könne "die Holzschuhe der Gemalten aneinander schlagen hören". Vor allem die Bemerkung des Bruders, die Körper der Bauern seien schlechter als deren Köpfe gelungen, traf van Gogh aber hart: Er hatte gerade kein abbildendes Porträt, sondern eine allgemeingültige und dadurch in seinen Augen wahrhafte Genreszene malen wollen.

    Völlig vernichtend fiel die Kritik des Malerfreundes Anton van Rappard aus. Er schrieb van Gogh nach Nuenen:

    "Du wirst mir beistimmen, dass eine solche Arbeit nicht ernst gemeint ist. Glücklicherweise kannst Du mehr als das; aber warum hast Du dann alles gleichermaßen oberflächlich betrachtet und behandelt? Warum die Bewegungen nicht gründlich studiert? Jetzt posieren sie. Diese kokette kleine Hand der hintersten Frau, wie wenig wahr! Und welcher Zusammenhang besteht zwischen dem Kaffeekessel, dem Tisch und der Hand, die oben auf dem Henkel liegt? [... ] Wirklich, die Kunst steht zu hoch, scheint mir, als dass man sie so unbekümmert behandeln dürfte."

    Wer sich mit dem Scheitern und dem Untergang in der Kunst auseinandersetzt, muss dabei zwei Aspekte im Auge haben, die zunächst nicht viel miteinander zu tun zu haben scheinen:

    - Wie stellen Maler, Zeichner und Plastiker durch die Jahrhunderte den Untergang und das Scheitern dar?

    - Und wie reagieren sie selbst, wenn sie an ihren eigenen Erwartungen scheitern, wenn sie glauben, formal und inhaltlich den selbst gesetzten Zielen nicht gerecht werden zu können?

    Die Zahl der Werke, die das Scheitern von mythologischen Figuren wie von Menschen zum Inhalt haben, könnten Buchreihen und ganze Museen füllen. Interessanterweise gab es in den vergangenen Jahrzehnten kaum eine größere Ausstellung, die sich ikonologisch und ikonografisch mit diesem Thema auseinandergesetzt hätte. Zu den wenigen Ausnahmen zählte 2007 eine Ausstellung in der Landesgalerie Linz mit dem Titel "Scheitern", die ihr Thema so absteckte:

    "Die Kunst konnte dem Scheitern immer schon seine besten Seiten abgewinnen: von den dramatischen Inszenierungen gescheiterten Heldentums über die großen Liebesgeschichten der Literaturgeschichte, die gerade in ihrer Unerfüllbarkeit faszinieren, bis zu den grandios scheiternden Protagonisten in Slapstick und Komödie. Auch in der bildenden Kunst liegen die Phänomene Gelingen und Scheitern nahe beieinander: ob es sich um den Mythos vom verkannten künstlerischen Genie handelt oder um die Konzepte der Avantgarde Bewegungen der Moderne, deren utopischer Anspruch ihre Unrealisierbarkeit bereits implizierte."

    Insgesamt allerdings scheint das Bedürfnis von Museen und Kunstvereinen, dem Thema "Scheitern in der Kunst" Raum und Zeit einzuräumen, eher gering zu sein. Der US-amerikanische Kultursoziologe Richard Sennett spricht in diesem Zusammenhang vom "großen Tabu der Moderne". Gefragt seien in einer an Leistung, Erfolg und Gewinnmaximierung orientierten Gesellschaft Flexibilität und die Anpassung an ständig sich ändernde Lebenskonzepte. Das Scheitern aber, der Untergang der eigenen Lebensziele, sei darin nicht mehr vorgesehen. Und er könne – anders als in früheren Jahrhunderten – nicht einmal mehr in Literatur und Kunst als kathartisches Beispiel dienen.

    Das war lange anders.

    Die Kunstgeschichte hat seit ihrer Etablierung als wissenschaftliche Disziplin 1799 in Göttingen einen ganzen Kanon von Bildmotiven definiert, die auf einer symbolischen und metaphorischen Ebene jedem Betrachter gleich eine zweite Bedeutungsebene mitlieferten.

    Die zahlreichen Darstellungen des biblischen "Turmbaus zu Babel" – darunter die berühmten von Pieter Breugel dem Älteren und Maerten van Valckenborch – deuteten im 16. Jahrhundert das Thema Scheitern zunächst nur an. Das Bauwerk wird nie vollendet werden können und einstürzen; noch aber ragt es imposant gen Himmel. Nicht die Versuche der Menschen, die scheitern werden, standen hier im Mittelpunkt, sondern der Wille Gottes, der sich letztlich gegen allen menschlichen Widerstand durchsetzt. Erst als die ausgehende Renaissance den Menschen in den Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses rückte, als Aufklärung und Vernunft einsetzten, wandte sich auch die Kunst dieser Perspektive zu.

    Statt Themen aus der christlichen Glaubenswelt fanden nun mehr und mehr Darstellungen aus der antiken Mythologie auf Holz und Leinwand. Die direkte Auseinandersetzung des Menschen mit der Natur und ihren Göttern wurde zum Thema. Nach wie vor aber auch die Unterlegenheit der Sterblichen gegenüber dem Ewigen.

    Als dann 1839 der Münchener Maler Carl Spitzweg mit seinem "Armen Poeten" einen beruflich Gescheiterten malte, stellte er bereits bewusst konkrete Lebenswirklichkeit dar – auf eine solch ironische und liebenswerte – eben biedermeierliche – Weise allerdings, dass niemand aus dem dargestellten Einzelschicksal strukturelle gesellschaftliche oder gar politische Fragestellungen abzulesen in der Lage gewesen wäre.

    Andere Künstler wurden in anderen, politisch fortschrittlicheren Ländern deutlicher. Die großformatigen Bilder, die Joseph Mallord William Turner 1835 vom verheerenden Brand des Parlamentsgebäudes in London malte, entstanden zu einem Zeitpunkt, als die ersten fotografischen Versuche von Joseph Nièpce gerade einmal neun Jahre alt waren. Das Medium hatte noch keinerlei Bedeutung. Turner hatte als Maler deshalb noch die Möglichkeit und die Aufgabe, eine epochale Katastrophe für die Nachwelt festzuhalten.

    Als Memento mori allerdings werden diese Bilder in der für damalige Verhältnisse modernen Weltstadt London nur noch die Wenigsten wahrgenommen haben. Katastrophen wie diese galten in der aufgeklärten englischen Gesellschaft nicht mehr als göttlicher Eingriff ins Weltgeschehen, sondern bestenfalls noch als Warnung vor all zu großer Hybris der Vertreter von Fortschritt und früher Moderne. Und auch Turner selbst dürfte mindestens so sehr wie das Ereignis selbst das Farbenspektakel fasziniert haben, in dem es sich darstellte. Er malte keine Nahperspektive, sondern entschied sich für eine Wiedergabe aus der Distanz. Nur sie ermöglichte es dem Maler, auch den Widerschein der Feuersbrunst auf dem Wasser der Themse zu malen.

    Überhaupt: das Wasser. Weil sich der Mensch das Land längst Untertan gemacht hatte und über die Luftfahrt erst in den 1860er-Jahren Jules Verne hellsichtig fantasierte, waren vor allem die Ozeane als Orte des Unwägbaren, der Gefahren und der drohenden Katastrophen geblieben. Den mythologischen Anknüpfungspunkt bildete die biblische Geschichte vom Propheten Jona, die schon seit dem 16. Jahrhundert die Maler beschäftigte: Der Prophet verweigert den göttlichen Auftrag, den ungläubigen Bewohnern der Stadt Ninive ein Strafgericht anzudrohen und will mit dem Schiff fliehen. Gott aber entfacht auf dem Meer einen gewaltigen Sturm; Jona bekennt seine Schuld, wird von seinen Mitreisenden ins Wasser geworfen, von einem Seewesen verschlungen, ausgespieen und reist schließlich doch nach Ninive.

    Gottes Zorn allein reichte im 19. Jahrhundert aber als künstlerische Erklärung für Untergang und Scheitern nicht mehr aus. Mit Beginn der Industrialisierung und der Emanzipierung von alten Autoritäten hatten neben den zunehmend erforschten Naturgewalten auch das Schicksal des autonom agierenden Menschen und dessen Versagen an Bedeutung gewonnen. Zunächst stand dabei das tragische Einzelschicksal oder zumindest dessen Möglichkeit im Vordergrund. Später erst wurden daraus kollektivere, die gesellschaftlichen Strukturen betreffende Themen.

    Zu den gefragtesten Motiven auf dem noch jungen Markt für Kunstreproduktionen gehörte ab Mitte des 19. Jahrhunderts das nur scheinbar profane Motiv der Fischersfrau, die mit einer Öllampe am Ufer sitzt und – nicht selten vergeblich – auf die Rückkehr ihres Mannes wartet.

    Nicht ohne Grund: Die Stiche und frühen Farbdrucke mit dem Titel "Heimleuchten" faszinierten zum einen in der sich industrialisierenden und technisierenden Gesellschaft durch ihr altertümliches Motiv. Zugleich halfen sie dieser Gesellschaft dabei, die Folgen der grundlegenden Veränderungen zu bewältigen, indem sie stets vor Augen führten, dass der Wagemut immer die Möglichkeit des Scheiterns und – in diesem Fall sogar ganz konkreten – Untergangs beinhaltete. Die Kunst – wie auch die Literatur jener Zeit – lieferte die Bild gewordene Essenz eines Lebensgefühls.

    Wer zur gleichen Zeit ein Schiff, das zu einer Expeditions- oder Handelsreise zu fernen Ufern oder in eine Schlacht aufbrach, als Motiv wählte, stellte damit im Auge des zeitgenössischen Betrachters immer auch zugleich den möglichen Untergang dar. Wagemut und Scheitern, Abfahrt und Untergang waren eine Einheit. Technisches Desaster und menschliche Tragödie zugleich, befriedigte die Darstellung eines Schiffbruchs mit zerstörten Bordwänden und Ertrinkenden zudem auch das romantische Bedürfnis nach Schauergeschichten. Später erst kam dazu auch der Wille, das Thema des Schiffbruchs als universelles Symbol für das Scheitern auch allgemeiner, nämlich politisch zu besetzen.

    Vorbild für die meisten dieser hintergründigeren Darstellungen wurde Théodore Géricaults 1819 entstandenes monumentales Historiengemälde "Das Floß der Medusa". Es enthält nicht mehr allegorische oder symbolische Darstellungen, sondern gibt sehr konkret ein Ereignis wieder, das sich nur drei Jahre zuvor ereignet hatte und bei dem ein royalistischer französischer Kapitän 149 Schiffbrüchige dem sicheren Tod überließ.

    Als das Bild im Pariser Salon ausgestellt wurde, nahmen es die Zeitgenossen des Malers sofort auch als Kritik an der vermeintlich gescheiterten Französischen Revolution und an der wieder eingesetzten Bourbonenmonarchie wahr. William Turner sah das Géricault-Bild, als es 1822 in London ausgestellt wurde. Ein Jahrzehnt später griff er selbst in einem Gemälde eine aktuelle Schiffskatastrophe auf, als er den Untergang des Gefangenentransporters "Amphitrite" malte, der vor Boulogne zerbrach. Wieder war ein Kapitän gescheitert, wieder hatte sich die Natur als stärker erwiesen denn menschliche Konstruktionskunst.

    Das wahrscheinlich populärste Bild jenes Genres hängt heute in der Hamburger Kunsthalle und ist zugleich eines der bekanntesten Gemälde Deutschlands. Um 1823/24 malte der fast 50 Jahre alte Caspar David Friedrich "Das Eismeer". Dass es sich um mehr als ein Landschaftsbild handelt, ist auf den ersten Blick zunächst gar nicht zu erkennen. Mächtig schieben sich in der Bildmitte ineinander verkeilte Eisschollen und –platten übereinander. Ihre schroffen Kanten und Oberflächen bilden ein steiles Eisgebirge, das über den fernen Horizont hinaus diagonal in den eisblauen Himmel ragt. Im Vordergrund ist noch die Landmasse zu erkennen, deren sich das Eis bemächtigt hat. Verdorrte Baumstämme ragen hervor.

    Erst auf den zweiten Blick ist das gekenterte Schiff zu sehen, das von anderen Eisplatten zermalmt wird. Der abgebrochene Besanmast liegt fast waagerecht auf dem Boden, vom Segel ist nur noch eine Ecke zu erkennen, von den Mitgliedern der Besatzung gibt es keine Spur. Die steil aufragenden Eisplatten, die Walter Gropius ein Jahrhundert später in seinem "Denkmal der Märzgefallenen" in Weimar paraphrasieren sollte, könnten Grabsteine sein.

    Über Jahrzehnte haben Kunsthistoriker das Gemälde von Friedrich als Ausdruck eines dreifachen, inneren wie äußeren Scheiterns und Untergangs interpretiert. Dazu beigetragen hat, dass das Werk Jahrhunderte lang den falschen Titel "Die gescheiterte Hoffnung" trug. Erst 1965 gelang dem in die USA emigrierten Kunsthistoriker Walter Stechow der Nachweis, dass diese programmatische Bezeichnung zu einem anderen Gemälde Friedrichs gehört, auf dem ein zerschmettertes Schiff tatsächlich den Namen "Hoffnung" trug und das heute als verschollen gilt.

    Auch das "Eismeer" gab Friedrichs Interpreten allerdings jenseits des dargestellten Motivs Anlass zu einer entsprechenden Deutung: Die Freiheitskriege von 1813 bis 1815 in Europa hatten nicht die ersehnte Einheit, Demokratisierung und soziale Reformen gebracht. In seiner 2001 erschienenen Werkmonografie über das Bild fasst der Bremer Kunsthistoriker Peter Rautmann deshalb zusammen:

    "In diesem Sinn stehen sich Friedrichs 'Eismeer' als Landschaftsbild und Géricaults 'Floß der Medusa' als Mehrfigurenbild als zwei unterschiedliche, aber gleichwertige Lösungen ein und derselben Problematik gegenüber."

    Caspar David Friedrich selbst hatte außerdem den Zenit seines Ruhmes inzwischen überschritten. Als er das "Eismeer" 1824 in Prag ausstellen ließ, schrieb ein Rezensent:

    "So wenig der Tod uns geeignet scheint, als Gegenstand bildender Kunst, so wenig möchten wir eine so ganz leblose, einförmige öde Naturansicht einem Maler empfehlen. [ ...] Wir halten das Gemälde für Studium, das später in irgend einer Composition verarbeitet werden soll."

    Vor diesem Hintergrund deuteten spätere Interpreten das Gemälde nicht allein als politische Aussage, sondern zugleich als Allegorie seines Malers auf den eigenen Abstieg.

    Die affirmative Kunst des Deutschen Kaiserreichs ließ ein halbes Jahrhundert später für sozialbewusste Kunst keinen Raum mehr. Nach dem Vorbild der französischen Salonausstellungen orientierten sich auch die Akademien in Berlin, München und anderen deutschen Großstädten am Bedürfnis nach repräsentativer Kunst, die den Staat und sein soziales Gefüge nicht infrage stellten. Bestenfalls das Landleben wurde von einigen Malern für bildwürdig erachtet – allerdings in meist stark idealisierender und romantisierender Form.

    Die Auswirkungen der Industrialisierung und der Landflucht auch auf die Landwirtschaft wurde weitgehend außer Acht gelassen. Es blieb einigen wenigen Künstlern wie Käthe Kollwitz oder Heinrich Zille vorbehalten, auch die negativen Folgen dieser gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Entwicklungen ins Bild zu rücken. Die viel reproduzierten Darstellungen des Berliner Mietshausproletariates aber, die Heinrich Zille in Druckgrafiken und Büchern festhielt, lehnte der Kaiser und mit ihm das offizielle Kunstdeutschland ab. Käthe Kollwitz' Lithografien und Zeichnungen von verzweifelten schwangeren Arbeiterfrauen, die mit ihren Kindern ins Wasser gehen, von kranken Männern in ungeheuerlichen hygienischen Verhältnissen diffamierte Wilhelm II. als "Rinnsteinkunst".

    Aufhalten ließ sich die Entwicklung trotzdem nicht mehr, die weg von einem Naturalismus führte, der nur empirisch platt die äußere Erscheinung der Dinge abschilderte, und hin zu einem Realismus, der die vermeintliche Wirklichkeit im Sinne von Bertolt Brechts berühmter Definition interpretierte:

    "Realismus ist nicht, wie die wirklichen Dinge sind, sondern wie die Dinge wirklich sind."

    Vor allem die Maler des Expressionismus entdeckten die Urbanisierung Deutschlands schnell als ihr Thema. Für sie war nicht mehr der unendliche Ozean, sondern die konkrete, ausufernde Stadt der neue Ort für Untergang und Scheitern. Noch vor dem Ersten Weltkrieg stellte Ludwig Meidner die Stadt als gigantischen Moloch dar, über deren gefährlich spitz in den Himmel ragenden Häusern Lichtblitze zucken und von Apokalypse künden.

    Verkehr, Nachtlokale, Elend, Wahnsinn und Selbstmord hießen die neuen Themen der Malerei. Die Gefahr, im Kosmos Stadt unterzugehen, die neue urbane Lebenswelt nicht zu verstehen, nicht zu beherrschen, an ihr zu scheitern, war ganz nah gekommen und real geworden.

    Zwar gab es bei nicht wenigen – etwa bei Franz Marc und August Macke – noch die trügerische und selbstmörderische Hoffnung, das viel beschworene "reinigende Stahlgewitter" eines Krieges werde kathartische Wirkung haben. Zwar schob der Dichter Stefan George 1910 in seinem Gedicht "Der Gott der Stadt" noch einmal den Grund für alles Unheil der neuen Welt auf eine dämonische übernatürliche Macht, in dem er schrieb:

    "Auf einem Häuserblocke sitzt er breit.
    Die Winde lagern schwarz um seine Stirn.
    Er schaut voll Wut, wo fern in Einsamkeit
    Die letzten Häuser in das Land verirrn.

    Vom Abend glänzt der rote Bauch dem Baal,
    Die großen Städte knien um ihn her.
    Der Kirchenglocken ungeheure Zahl
    Wogt auf zu ihm aus schwarzer Türme Meer.

    Wie Korybanten-Tanz dröhnt die Musik
    Der Millionen durch die Straßen laut.
    Der Schlote Rauch, die Wolken der Fabrik
    Ziehn auf zu ihm, wie Duft von Weihrauch blaut.

    Das Wetter schwelt in seinen Augenbrauen.
    Der dunkle Abend wird in Nacht betäubt.
    Die Stürme flattern, die wie Geier schauen
    Von seinem Haupthaar, das im Zorne sträubt.

    Er streckt ins Dunkel seine Fleischerfaust.
    Er schüttelt sie. Ein Meer von Feuer jagt
    Durch eine Straße. Und der Glutqualm braust
    Und frisst sie auf, bis spät der Morgen tagt."


    Diese letzten, verzweifelten, erratischen Versuche, einen neuen Sinn in der neuen Welt zu finden, machte das sinnlose Abschlachten des Ersten Weltkrieges aber schon bald brutal und endgültig zunichte. Macke und Marc meldeten sich freiwillig als Soldaten und starben in Frankreich. Deutschland war nach dem Krieg eine restlos zersplitterte und verunsicherte Gesellschaft.

    Nach der Revolution von 1918, in den kurzen halbwegs freien 15 Jahren der Weimarer Republik, wurde es dann zum ersten Mal möglich, Deutschland so darzustellen, wie es tatsächlich auch war: als einen Ort des Scheiterns alter Ordnungen. Und, daraus resultierend, als Ort grundlegender sozialer Veränderungen – die viele Menschen allerdings nicht nachvollziehen konnten oder wollten.

    George Grosz malte die Kriegskrüppel, die in den Innenstädten um Almosen betteln mussten, während die Kriegsgewinnler, Fabrikanten, Kirchenfürsten und Offiziere an gut gedeckten Tafeln speisten. Weil er immer wieder sarkastisch den anhaltenden Militarismus der gescheiterten Kriegsnation anprangerte, wurde er mehrfach vor Gericht gestellt und verurteilt. 1933 zählte Grosz zu den ersten Künstlern, die die Nationalsozialisten verfolgten. Glücklicherweise hatte er hellsichtig sein Heimatland früh genug verlassen.

    Otto Dix gab auf großen Bildern das Grauen des Krieges wieder, wendete sich kurzzeitig der antibürgerlichen Dada-Bewegung zu und malte dann als Verist so sachlich wie möglich die Kleinganoven, Prostituierten, Zuhälter der Weimarer Republik– nach den restaurativen Maßstäben der bürgerlichen Gesellschaft samt und sonders gescheiterte Existenzen, die diese Gesellschaft bald zum Untergang führen würden. Tatsächlich trugen zum Untergang der Republik und ihrer jungen Demokratie schließlich die braven Bürger selbst maßgeblich bei.

    Im Bild "Die sieben Todsünden" warnte Dix noch 1933 vor Hitler und dem Nationalsozialismus. Als die NSDAP die Wahlen gewann, Dix als Kunstprofessor entlassen, seine Werke als "entartet" diffamiert und aus den deutschen Museen entfernt wurden, zog er sich in die an den Bodensee zurück, malte Porträts und Landschaftsbilder. Über die Frage, ob auch die "innere Emigration" eines Künstlers eine Form des Scheiterns sein kann, ist das letzte Wort noch nicht gesprochen.

    Und dann ist es plötzlich wieder das Meer, das für viele Künstler wieder eine entscheidende Rolle spielt – als Bildmotiv wie im wahren Leben. Diesmal allerdings ist das große Wasser nicht mehr der Ort des drohenden Untergangs, sondern der Fluchtweg in die Freiheit. Nachdem auch seine Werke als "entartet" beschlagnahmt worden waren und nachdem er Hitlers kunstpolitische Grundsatzrede zur Eröffnung der "Großen Deutschen Kunstausstellung" im Rundfunk gehört hatte, sah auch Max Beckmann für sich keine Zukunft mehr in Deutschland.

    Das "Projekt Moderne", für das sich neben den Künstlern auch progressive Galeristen wie Herwarth Walden, Paul Cassirer, Justin Thannhauser oder Alfred Flechtheim einsetzten, war endgültig gescheitert, und Beckmann entschied sich 1937, nach Amsterdam ins Exil zu gehen. Den nahen Weg übers Meer in die sichere Neue Welt hatte er dort ständig vor Augen. Sein Bemühen um ein Visum für die USA blieb aber jahrelang ohne Erfolg.

    "Das Meer, meine alte Freundin, zu lange schon war ich nicht bei dir. Du wirbelnde Unendlichkeit mit deinem spitzenbesetzten Kleide. Ach, wie schwoll mein Herz. Und diese Einsamkeit [...] Eine fahle Zwielichtstimmung. Alles Lebende war draußen. Jenseits. Wenn ich der Kaiser der Erde wäre, würde ich als mein höchstes Recht mir ausbitten, einen Monat im Jahr allein zu sein am Strand".

    So hatte Max Beckmann schon im März 1915, mitten im Ersten Weltkrieg, aus Ostende an seine Frau Minna geschrieben. Immer wieder kehrte der Maler an die Nordsee zurück, um dort zu zeichnen und zu skizzieren – 1928 gleich für eine längere Zeit. Danach entstanden im Atelier sechs Gemälde: Das Meer ist friedlich, Sommerfrische, Entspannungsort mit spielenden Kindern und weißen Gischtkronen auf den Wellen. Ein gelungenes Stück Schöpfung mit harmonischen Ergänzungen von menschlicher Hand: Wellenbrecher, Badekabinen und Strandkörbe. Der Untergang scheint weit weit fort – und ist doch so nah.

    Zwischen 1932 und 1935 setzte Beckmann im ersten seiner zehn berühmten Triptychen mit dem Titel "Abfahrt" das Meer dann aber als Symbol und als Kulisse für den Aufbruch zu neuen Ufern ein. Vor düsterem Hintergrund: Gefesselte und geknebelte Menschen auf den beiden dunklen Seitentafeln, ein Henker, ein Hotelpage mit verbundenen Augen und ein Trommler stehen offensichtlich für das nationalsozialistische Deutschland. In der Mitte aber dominiert das Hoffnungsblau des Meeres und des Himmels. In einem Boot sitzen der König und die Königin mit ihrem Kind - auf offener See.

    Die Zeiten sind danach, trotzdem wieder an Tod, Untergang und Scheitern zu denken. "Sie haben sich freigemacht von den Quälereien des Lebens - sie haben sie überwunden", soll Max Beckmann seiner Freundin Lilly von Schnitzler erklärt haben. Ob Beckmann selbst damals schon ahnte, dass er und seine Frau sieben Jahre später vergeblich auf Visum und Fahrkarte nach New York warten werden, weiß niemand.

    "War in Zandvoort und zu Fuss nach Overveen", trägt er dann am
    4. Februar 1946 in sein Tagebuch ein. "Aber das Meer war wieder Meer und sagte: Guten Tag Herr Beckmann." Der Krieg ist vorbei, im Sommer des folgenden Jahres erhält das Ehepaar Beckmann nach neun Jahren die Einreiseerlaubnis für die USA. "Beckmann zog dann zuletzt in ein großes fernes Land", schreibt er dort im Februar 1949 in sein Tagebuch. "Und langsam sahen wir seine Gestalt undeutlich werden. Schließlich verschwand sie ganz in unbestimmbaren Weiten."