Freitag, 19. April 2024

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Uraufführung vor 50 Jahren
Rosa von Praunheims epochales Film-Manifest

Gerade erst war die Strafbarkeit von Homosexualität aufgehoben worden, als Rosa von Praunheim am 4. Juli 1971 auf dem Berliner Filmfest seinen Film "Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt" uraufführte. Ein Startschuss für die Schwulen- und Lesbenbewegung.

Von Hartmut Goege | 04.07.2021
    Schwarz-Weiß-Porträt des Autors und Filmemacher Rosa von Praunheim
    Rosa von Praunheim 1973 in Berlin (picture alliance / Volkmar Hoffmann )
    "Wir schwulen Säue wollen endlich Menschen werden und wie Menschen behandelt werden. Und wir müssen selbst darum kämpfen. Wir müssen uns organisieren. Werdet stolz auf eure Homosexualität. Raus aus den Toiletten, rein in die Straßen. Freiheit für die Schwulen."
    Es war der zentrale Appell in Rosa von Praunheims halbdokumentarischem Lehrstück "Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt". Nachdem der vom WDR produzierte Film am 4. Juli 1971 auf dem Berliner Filmfest im Rahmen des "Internationalen Forums des Jungen Films" uraufgeführt wurde, bildeten sich spontan erste bundesweite schwule Aktionsgruppen. Bewusst hatte Rosa von Praunheim mit seinem Film vor allem die Homosexuellen selbst wachrütteln wollen:
    "Wir haben mit dem Film über 50 Schwulengruppen gegründet. Und wenn ein Film eben nicht nur ein ästhetisches Produkt ist, sondern eben auch eine Wirkung hat auf den Zuschauer, und da auch eine inhaltliche Wirkung, das ist das, was am wichtigsten ist von allen Sachen."

    Ins Spießertum gedrängt

    Der Film erzählt die Geschichte des jungen Daniel, der aus der tiefen Provinz nach West-Berlin zieht und sich dort in Clemens verliebt. Warum der Versuch, ganz bürgerlich als Paar zusammenzuziehen, scheitert, verhandelt diese Szene:
    "Da die Schwulen vom Spießer als krank und minderwertig verachtet werden, versuchen sie, noch spießiger zu werden, um ihr Schuldgefühl abzutragen mit einem Übermaß an bürgerlichen Tugenden. Nicht die Homosexuellen sind pervers, sondern die Situation, in der sie zu leben haben."

    "Meine Liebe ist in ihrer Welt verboten!"

    Daniel bleibt als Ausweg nur die homosexuelle Subkultur von Bars, Kneipen oder Schwimmbädern. Er trifft auf Paul, der ihn in seine schwule Studenten-WG aufnimmt. Dort wächst durch zahlreiche Diskussionen über Emanzipation sein politisches Bewusstsein. Wie es zu jener Zeit auch die schwule Musik Theater-Gruppe "Brühwarm" um Rio Reiser besang:
    "Sie haben mir ein Gefühl geklaut / Und das heißt Liebe / Denn meine Liebe ist in ihrer Welt verboten!"

    Paragraf 175 - reformiert, nicht abgeschafft

    Nachdem 1969 der berüchtigte Paragraf 175 reformiert wurde, war Homosexualität erstmals unter erwachsenen Männern ab 21 straffrei. Eigentlich hätten sich die Betroffenen offen zeigen können, doch aus Angst vor gesellschaftlicher Stigmatisierung versuchten die meisten nach wie vor, unerkannt zu bleiben. Martin Dannecker, Co-Autor und Mitgründer einer der ersten politischen Schwulengruppen, wollte diese Selbstverleugnung endlich aufheben, so Dannecker:
    "Die Homosexuellen haben ihre Probleme fast durchgängig damit gelöst, indem sie sich angepasst haben, indem sie außerhalb dieser engen Räume, was Subkultur und ein enges Leben meint, so getan haben, als ob sie nicht different wären. Und genau damit hat die frühe Schwulenbewegung gebrochen."

    Die ARD versteckte den Film im dritten Programm

    Und so kamen wütende Proteste gegen eine TV-Ausstrahlung im "Ersten" ausgerechnet von konservativen Schwulen-Magazinen und -Organisationen. Sie erzeugten einen derartigen Druck, dass Rosa von Praunheims Film 1972 lediglich im dritten Programm WDR ausgestrahlt wurde. Die entsprechende Begründung der "Ständigen Programm-Konferenz der ARD":
    "Der Film könnte geeignet sein, Vorurteile, die ohne jeden Zweifel gegen Homosexuelle trotz aller gesetzlichen Liberalisierung noch bestehen, zu bestätigen oder zu verstärken."

    Homophobe Zuschauerreaktionen

    Ein Jahr später, 1973, sendete die ARD den Film schließlich auch bundesweit, wobei sich der Bayerische Rundfunk allerdings kurzfristig ausschaltete. Zwar gab es die typischen empört-homophoben Reaktionen in Zuschauer- und Leserbriefen.

    Provokation statt Ästhetik

    Zwei Männer sitzen auf einem Bett
    Dokudrama "Darkroom"
    Ein schwuler Serienmörder machte 2015 Schlagzeilen. Mit K.O. Tropfen tötete er mehrere Männer in Berlin, die er unter anderem in Schwulenclubs traf. "Man kann auch mal einen bösen Schwulen zeigen", sagte Regisseur Rosa von Praunheim im Dlf.
    Viele Kritiker aber störten sich an der scheinbar dilettantischen Machart. Denn der Film war aus Kostengründen ohne Ton gedreht und nachträglich mit schlecht synchronisierten Dialogen unterlegt worden. Aber Rosa von Praunheim ging es nicht um Ästhetik. Er wollte vor allem bewusst provozieren:
    "Ich war einer der ersten, der sozusagen in der Öffentlichkeit sich gezeigt hat und eben politisch gearbeitet hat, und hab damit auch viele genervt. Die eben eher anonym bleiben wollten, habe ich sicher viele auch wütend gemacht. Aber ich glaube, es war notwendig. Und jetzt haben wir ja viele Gesichter."
    Pride Demo Berlin - CHRISTOPHER STREET DAY 2020 - CSD - am 27. Juni 2020 in Berlin unter dem Motto: Berlin Pride: Save our Community, Save our Pride. Dragqueen trägt Plakat: Transsexuellengesetz jetzt abschaffen Die bunte CSD-Parade startete am Nollendorfplatz und führte über den Potsdamer Platz, vorbei am Denkmal für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen bis zum Alexanderplatz. Aufgrund der Corona-Pandemie fand die Demonstration ausschließlich unter Einhaltung der vom Berliner Senat erlassenen Vorgaben statt. Die in den Vorjahren übliche Abschlusskundgebung musste daher ausfallen. *** Pride Demo Berlin CHRISTOPHER STREET DAY 2020 CSD on June 27th, 2020 in Berlin under the motto Berlin Pride Save our Community, Save o
    Stonewall-Proteste 1969 - Geburtsstunde der LGBT-Bewegung
    In der Nacht vom 27. auf den 28. Juni 1969 kam es bei einer Polizeirazzia im "Stonewall Inn" in New York zu einem gewaltsamen Aufstand von Schwulen und Lesben. Das war der Auslöser für weitere Proteste.
    Mit seinem Appell, die eigenen Rechte einzufordern, hat Praunheim zwar in den Siebzigerjahren mit dazu beigetragen, dass sich eine selbstbewusste Schwulen- und Lesbenbewegung entwickelte. Doch dauerte es in West-Deutschland rund acht Jahre, bis sich etwa in Berlin und Köln mit dem "Christopher Street Day" große jährliche Demonstrationszüge gegen Diskriminierung und Ausgrenzung etablierten.