Donnerstag, 02. Mai 2024

Archiv

Uslucan über Merkel-Besuch
"Geld allein wird nicht so eine große Rolle spielen"

Am Sonntag wird Bundeskanzlerin Angela Merkel für Gespräche mit Präsident Recep Tayyip Erdogan in die Türkei reisen. Man dürfe die Auswirkung des Besuchs auf Erdogans Wahlkampf nicht überschätzen, sagte Haci-Halil Uslucan vom Zentrum für Türkeistudien im DLF. Bei den Gesprächen werde es weniger um finanzielle Mittel, aber vor allem um politische Zugeständnisse gehen.

Haci-Halil Uslucan im Gespräch mit Jürgen Zurheide | 17.10.2015
    Der türkische Ministerpräsident Erdogan und Bundeskanzlerin Merkel
    Merkel trifft sich mit dem türkischen Ministerpräsidenten Erdogan am Sonntag in der Türkei. (picture alliance / dpa - Tim Brakemeier)
    Jürgen Zurheide: Die Bundeskanzlerin reist in die Türkei und das ist eine umstrittene Reise. Da wird heftig gerungen werden, es geht um das Thema Flüchtlinge und es geht natürlich auch um die Frage, kann man kurz vor der Wahl in die Türkei reisen, ist das möglicherweise eine Art von Wahlkampfhilfe? Zumindest hier innenpolitisch in der Bundesrepublik wird das so gesehen und auch diskutiert.
    Und wir wollen uns jetzt mit der Frage beschäftigen, wie sieht denn im Moment die Lage in der Türkei selbst aus? Wo steht das Land wirtschaftlich und politisch? Und darüber wollen wir reden mit dem Leiter des Zentrums für Türkeistudien in Essen, mit Professor Halil Uslucan, den ich jetzt am Telefon begrüße. Erst mal einen schönen guten Morgen!
    Haci-Halil Uslucan: Guten Morgen auch Ihnen!
    Zurheide: Ich habe es gerade gesagt, die Türkei auf der einen Seite, die wirtschaftliche Lage ist durchaus schwierig, nach fast einer Periode von zehn Jahren Aufschwung ist man jetzt in einer Depression, die wirtschaftliche Lage ist schwieriger geworden, und die innenpolitische Lage ist geradezu, na ja, höchst konfrontativ und katastrophal. Ist das eine richtige Beschreibung?
    Uslucan: Ich glaube, ja, dass die Beschreibung richtig ist insofern als man beispielsweise schaut, dass im April - ich war zuletzt im April und jetzt im September in Istanbul - man für eine türkische ... sozusagen zwei Lira bezahlte für einen Dollar und jetzt rund drei. Dasselbe mit dem Euro, von 2,80 auf 3,40. Das heißt, innerhalb kürzester Zeit, fünf Monate, eine 20-prozentige Teuerung. Das hat starke Auswirkungen auf den Handel mit Europa, mit dem Westen, das heißt, die Waren werden dann in der Türkei um 20 Prozent teurer. Das ist stark spürbar, ein wirtschaftlicher Rückgang.
    Das andere, die politische Unruhe, die Polarisierung ist stark und ist noch stärker geworden sogar, jetzt zuletzt durch den größten Anschlag in der türkischen Geschichte, durch den Anschlag in Ankara, sodass sehr stark sozusagen - für und gegen AKP - die Gesellschaft in zwei große Lager aufgeteilt ist. Und dadurch, dass die Regierung bislang auch keine Verantwortlichkeiten hat identifizieren können, sozusagen auch in der Aufklärung - zumindest wird es so wahrgenommen - nicht sehr forsch dabei ist, ist auch ein Vertrauensverlust spürbar.
    "Wir haben in der Tat eine paradoxe Situation"
    Zurheide: Und alles dreht sich um Präsident Erdogan, der ein Präsident eigentlich ohne exekutive Macht ist, der aber genau eine andere Rolle spielt, die er sich im Prinzip durch die Wahlen erst legitimieren lassen möchte, weil er dann zu einem Präsidialsystem kommen möchte. Wo stehen wir da?
    Uslucan: Wir haben in der Tat eine paradoxe Situation in der Art und Weise, wie Erdogan behandelt wird, wie er sich selbst versteht, wie er sozusagen in der Selbst- und auch Fremdwahrnehmung, beispielsweise die Einladung nach Brüssel, aber jetzt auch der Besuch der Kanzlerin. Man schafft eigentlich schon Fakten für das, was er eigentlich vorhat. Aber zugleich ...
    Zurheide: Wenn ich da mal eben zwischengehe: Das ist ungefähr so, als wenn nicht die Bundeskanzlerin demnächst nach Brüssel reist, als wenn wir Herrn Gauck schicken würden!
    Uslucan: Beispielsweise. Man schafft dadurch Fakten. Aber das Paradoxe ist, er ist auch der starke Mann. Das heißt sozusagen, man weiß, dass letztlich vieles von seinem Veto abhängen würde. Und insofern ist es wiederum, so zynisch und paradox es auch klingt, wieder klug, ihn einzubeziehen, weil es letztlich von seiner Stimme abhängen wird. Und das ist eine sehr schizophrene Situation, dass man Situationen letztlich sozusagen, durch die Handlung selbst Situationen schafft, die eigentlich demokratisch nicht legitimiert sind.
    "Ich glaube, Geld allein wird nicht so eine große Rolle spielen"
    Zurheide: Wagen Sie eine Prognose? Der Besuch der Kanzlerin jetzt bei Erdogan, wird ihm das helfen? Das ist ja der Vorwurf, der auch hier gerade innenpolitisch in Deutschland artikuliert wird.
    Uslucan: Also, man darf das vielleicht nicht überschätzen. Die Frage ist nur, was er sozusagen aus türkischer Sicht dabei herausholt. Wenn er so etwas wie Visa-Freiheit und so weiter, eine Forderung, die schon seit Langem gehegt wird, in der Tat also solche Eingeständnisse, sagen wir mal, für sich politisch verbuchen kann, dann sind es schon wichtige Punkte. Ich glaube, Geld allein wird nicht so eine große Rolle spielen, zu sagen, schaut mal, wir haben aus Europa die geforderten drei Milliarden bekommen. Vielmehr die politischen Zugeständnisse, dass man sagt, wir, die AKP, hat neben so vielen anderen Veränderungen auch das durchgesetzt, was für die gesamte türkische Öffentlichkeit, für die gesamte türkische Politik, vor allem für türkische Unternehmer immer ein Dorn im Auge war, dass sie nicht so leicht nach Europa kommen konnte, ihre Waren anbieten, an Messen teilnehmen und so weiter, und so weiter.
    Zurheide: Helfen Sie uns vorauszublicken, was wird nach der Wahl passieren? Keiner weiß genau, wie sie ausgehen wird, wobei die meisten sagen, es wird eigentlich nicht viel anderes passieren als bei der zurückliegenden Wahl, das heißt, er wird möglicherweise keine absolute Mehrheit bekommen. Dann müsste er ja doch in eine Koalition gehen. Wie sehen Sie die Türkei nach der Wahl?
    Uslucan: Also, zwei Aspekte. Einmal, die Türkei hat wenig Erfahrung mit guten Koalitionen. Es gibt sozusagen in der türkischen politischen Geschichte ... Durchschnitts-, Halbwertszeit von Koalitionen sind 18 Monate. Das heißt sozusagen, so etwas wie eine stabile Koalition, das kennt die jüngere türkische Geschichte nicht. Die AKP kennt es noch weniger und will das noch weniger. Die Voraussagen - da stimme ich mit Ihnen überein –, die jetzigen Zahlen, jetzigen Prognosen sagen sehr, sehr leichte Veränderungen, möglicherweise leichter Rückgang der AKP, möglicherweise Stabilität oder leichter Aufstieg der HDP. Die anderen Parteien spielen eigentlich keine Rolle. Sozusagen ob die CHP nun 25, die soziale ... oder 27, die MHP 14, 15, 16, das wird wenig ändern. Schlüssel wird in der Tat sein: Schafft die AKP einen substanziellen Aufschwung - wofür die Zeichen ja nicht gut stehen -, und schafft die HDP wieder mindestens die zehn Prozent? Man hat gemunkelt, dass die HDP am Anfang durch Leihstimmen die Zehn-Prozent-Hürde überstiegen hat, jetzt könnte sie möglicherweise auch in der Sache gewonnen haben.
    Zurheide: Wir werden es abwarten, was dabei herauskommen wird. Herr Uslucan, ich bedanke mich ganz herzlich heute Morgen für die Einschätzungen vor dem Besuch der Kanzlerin in der Türkei. Herzlichen Dank für das Gespräch, Wiederhören!
    Uslucan: Danke auch Ihnen, bis dann!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.