Montag, 13. Mai 2024

Archiv

Vaclav Havel
"Politik ist eine Form praktizierter Moral"

Nach dem Ende des Kommunismus in der Tschechoslowakei wurde der Bürgerrechtler und Schriftsteller Vaclav Havel neuer Präsident Tschechiens. Sein früherer Weggefährte und Pressechef Michael Zantovsky hat jetzt eine Biografie über Havel vorgelegt.

Von Norbert Seitz | 17.11.2014
    Am 29. Dezember 1989 wurde Vaclav Havel zum Regierungspräsidenten der damaligen Tschechoslowakei gewählt.
    Am 29. Dezember 1989 wurde Vaclav Havel zum Regierungspräsidenten der damaligen Tschechoslowakei gewählt. (picture alliance / dpa)
    "Die Erfahrung, die wir in diesem System machen, lehrt uns nachdrücklicher als die in einer offenen Gesellschaft, dass der einzig richtige und sinnvolle Ausgangspunkt jeder Politik die Moral ist. Politik ist eine Form praktizierter Moral. Auch der Protest gegen ein System, das schlecht ist, weil es die Menschenwürde verletzt, muss von einer moralischen Revolution ausgehen, dass heißt jeder muss bei sich selbst anfangen, muss sich bemühen, sich von der allgemeinen Schizophrenie zu befreien, muss aufhören zu lügen, nur weil es bequem ist, muss sich wahrhaftig verhalten.
    Ein hoher, schier unerfüllbarer Anspruch, den der Schriftsteller und Dissident Vaclav Havel der Politik aufbürdet, um die kommunistische Ära zu überwinden, die Autor Michael Zantovsky, von Hause aus klinischer Psychologe, analytisch wie folgt zerlegt:
    ...vom stalinistischen Monolithen der 1950er-Jahre über die seismische Anomalie der sechziger Jahre, das potemkinsche Dorf der 1970er-Jahre bis zum lebenden Toten der 1980er-.
    Zantovsky begann als Korrespondent von Reuters in Prag, ehe er zu Havels Pressesprecher und Planungschef während dessen erster Amtszeit als regierender Staatspräsident aufstieg. Wohl nicht ganz zu Unrecht beansprucht er für sich, den sanften Revolutionär am besten gekannt und dessen Leben und Werk am tiefsten reflektiert zu haben. So beschreibt er das Credo des "angeblichen Helden und heimlichen Angsthasen" als eine Art "Moralphilosophie", die auf drei Konzepten basiere:
    Erstens: der Macht der Ohnmächtigen, zu widerstehen; zweitens: der Kraft, sich selbst treu in der Wahrheit zu leben; drittens: dem Mut, handelnd Verantwortung für die eigenen Worte zu übernehmen.
    In seinen frühen Stücken karikiert Havel auf spielerisch-amüsante Weise die Absurditäten des Systems. Gleichzeitig finden sich im informellen Debattierklub "Die Sechsunddreißiger" Künstlerinnen und Künstler zusammen, um das Unmögliche zu denken. Und das geht weit über den legendären "Prager Frühling" hinaus, den Havel ohnehin nur als Reparaturwerkstatt eines irreparablen Systems begreift, was zum Zerwürfnis mit seinem Schriftstellerkollegen Milan Kundera führt. Diesem entgegnet Havel:
    Unser Schicksal hängt von uns selbst ab. Unsere Welt besteht nicht aus dummen Supermächten, die alles tun können und schlauen kleinen Nationen, die nichts tun können.
    Die KSZE-Schlussakte von Helsinki schafft 1975 mit dem Verweis auf die Menschenrechte eine hilfreiche Berufungsinstanz für Dissidenten im Ostblock. Die Sammlungsbewegung Charta '77 in der Tschechoslowakei knüpft daran an. Sein Prosatext "Versuch, in der Wahrheit zu leben" wird im Jahr danach zum großen Plädoyer, sich im totalitären Staat nicht seiner Identität berauben zu lassen. Dies sei die Waffe,
    Lichtgestalt der "samtenen Revolution"
    ...die die Ohnmächtigen mächtig macht. Sobald das System nicht mehr in der Lage ist, seine Untertanen zu seiner rituellen Unterstützung zu bewegen, brechen seine ideologischen Behauptungen zusammen und werden als Lügen kenntlich.
    Als Protagonist von Charta '77 wird Havel wegen "Subversion" verurteilt und von 1979 bis 1983 inhaftiert. Nach 1351 Tagen ist Vaclav Havel ein körperlich zwar angeschlagener, aber moralisch noch nicht gebrochener Mann. Je mehr das System zerfällt, desto mehr stellt sich für ihn die Frage der Verantwortung. Als Lichtgestalt der "samtenen Revolution" gleicht seine Kandidatur für das höchste Amt auf der Prager Burg einem Triumphzug. Auf dem Wenzelsplatz verkündet er im Dezember 1989:
    "Unsere friedliche Revolution entstand aus dem Widerstand der Studenten und zuletzt auch der ganzen Nation gegen Gewalt, Schmutz, Intrigen, Unrecht, Mafiastrukturen, Privilegien und Verfolgungen. Bewahren wir ihre Freiheit, Friedlichkeit, ihren liebevollen und heiter-freundlichen Charakter. Sorgen wir dafür, dass diese Werte auch weiter blühen. Lassen wir nicht zu, dass wer auch immer und auf irgendeine Weise dieses schöne Antlitz unserer friedlichen Revolution beschmutzt. Wahrheit und Liebe müssen siegen über Hass und Lüge."
    Bei Politik versagte Havels Magie
    "Havel auf die Burg!" skandieren die Bürgerinnen und Bürger. Die Revolution ist im Begriff, eine Theatervorstellung zu werden. Doch der "Prophet einer parteilosen Politik" muss Lehrgeld zahlen: So beim Zerfall seines Bürgerforums und beim Spaltungskonflikt zwischen Tschechen und Slowaken, als er sich mit wiedererwachten nationalistischen Leidenschaften konfrontiert sieht.
    Havel musste feststellen, dass seine Magie versagte, wenn er es mit Politikern zu tun bekam, die gegen moralische Argumente immun und für Populismus anfällig waren.
    Michael Zantovsky arbeitet sich detailliert an allen Reisen und Rankünen, Empfängen und Ehrungen, Selbstzweifeln und Schwächen seines Herren und Meisters ab. Doch Vaclav Havels erster Biograf läuft mitunter Gefahr, den steinigen Weg des Freundes zu verklären:
    Mehr als bei den meisten anderen Menschen kann man das Leben von Vaclav Havel als eine zusammenhängende, logisch konsistente und zielgerichtete Geschichte betrachten.
    Wie auch immer: Michael Zantovsky erzählt uns die faszinierende Geschichte eines verspielten Dramatikers, der die totalitären Verhältnisse in seinem Land zum Tanzen bringt. Dahinter verbirgt sich noch immer mehr historische Wahrheit als hinter den realpolitisch beschränkten Hinweisen auf die marodierenden Finanzen in Osteuropa.
    Michael Zantovsky: Václav Havel.
    In der Wahrheit leben. Die Biographie.
    Propyläen. 688 S., 26,- Euro. Übersetzung: Hans Freundl.
    ISBN: 978-3-549-07437-4