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Valeska Gerts Autobiografie
Ein Funke im Pulverfass

Valeska Gert hat als Ausdruckstänzerin in den 1920er-Jahren Furore gemacht und den modernen deutschen Tanz revolutioniert. Der Berliner Alexander Verlag hat nun die Autobiografie der 1978 verstorbenen Tänzerin, Schauspielerin und Kabarettistin neu aufgelegt.

Von Kirsten Reimers | 08.11.2019
Das zeitgenössische Porträt zeigt die deutsche Tänzerin, Kabarettistin und Schauspielerin Valeska Gert (1900–1978)
Die deutsche Tänzerin, Kabarettistin und Schauspielerin Valeska Gert (dpa / picture alliance)
In einem Interview aus dem Jahr 1977, ein Jahr vor ihrem Tod, erklärte die 85-jährige Valeska Gert: "Jede Art von Routine geht mir auf die Nerven. Ich muss immer etwas Neues machen." Eine Aussage, die ihr Lebenslauf in jeder Hinsicht widerspiegelt. Im Januar 1892 wurde Gertrud Valesca Samosch in Berlin geboren. Schon früh erhielt sie Tanzstunden, später kam Schauspielunterricht hinzu. Ihr erster öffentlicher Auftritt, gemeinsam mit weiteren Tanzschülerinnen, glich einer Initialzündung. Während die übrigen Mädchen zarte Blumenbilder tanzten, ging es Valeska Gert um anderes, wie sie in ihrer Autobiografie schildert:
"Ich brannte vor Lust, in diese Süßigkeit hineinzuplatzen. Voll Übermut knallte ich wie eine Bombe aus der Kulisse. (…) Mit Riesenschritten stürmte ich quer über das Podium, die Arme schlenkerten wie ein großes Pendel, die Hände spreizten sich, das Gesicht verzerrte sich zu frechen Grimassen.
Dann tanzte ich süß. Jawohl, ich kann auch süß sein (…). Im nächsten Augenblick hatte das Publikum wieder eine Ohrfeige weg. Der Tanz war ein Funke im Pulverfass. Das Publikum explodierte, schrie, pfiff, jubelte. Ich zog, frech grinsend, ab. Die moderne Tanzsatire war geboren, ohne dass ich es wollte oder wusste. Und dadurch, dass ich unvermittelt süß nach frech, sanft nach hart setzte, gestaltete ich zum ersten Mal etwas für diese Zeit sehr Charakteristisches, die Unausgeglichenheit."
Kombination von Tanz und Pantomime
Schon bald wurde Valeska Gert als Solotänzerin engagiert, hinzu kamen Theaterrollen in München und Berlin. Sie arbeitete mit Max Reinhardt und mit Bert Brecht, dieser sah in ihr seine Idee des epischen Theaters verkörpert. Sie erhielt Filmrollen: Unter anderem spielte sie die Mrs. Peachum in der Verfilmung der "Dreigroschenoper" durch G. W. Pabst und den Puck in jener von Shakespeares "Sommernachtstraum" durch Hans Neumann. Zwischen 1918 und 1933 war Valeska Gert international berühmt und trat in Paris und Moskau auf. Regisseur Sergej Eisenstein war vor Liebe zu ihr wie paralysiert, Klaus Mann träumte von ihr.
Doch Valeska Gert hielt nichts lange durch; sie brach jedes Engagement schnell wieder ab, war ruhelos. Wie sie in ihrer Autobiografie schreibt, vermisste sie den Tanz, wenn sie Theater spielte – und sehnte sich nach dem Schauspiel, wenn sie tanzte. Darum verband sie schließlich beides: Sie kombinierte Tanz mit Pantomime, später nahm sie auch die Stimme dazu. Während zeitgleich Mary Wigman in Dresden barfuß den Ausdruckstanz in Zartheit weiterentwickelte, revolutionierte Valeska Gert ihn, indem sie in Straßenschuhen tanzte, das Gesicht kalkweiß gepudert, mitunter stark geschminkt, um die Mimik zu unterstreichen; sie war gekleidet in ausdrucksstarke, farbenkräftige Kostüme, die sie selbst entwarf.
Groteske statt Lieblichkeit
Die Kunst von Valeska Gert hat nichts Liebliches, sie ist vielmehr grotesk: Gert wollte Menschen in ihrer Zeit darstellen, dafür suchte sie ihre Themen außerhalb des bürgerlichen Kunstspektrums im Alltagsleben. Sie tanzte die Kinowochenschau mit Rennradlern und Soldaten, sie tanzte den Zirkus mit Tierdressuren und Clowns, sie tanzte Pferderennen und politische Versammlungen. Sie tanzte eine Prostituierte samt Koitus und Orgasmus. Sie tanzt den Tod:
"Bewegungslos stehe ich in einem langen, schwarzen Hemd auf grell erleuchtetem Podium. Mein Körper spannt sich langsam, der Kampf beginnt, die Hände ballen sich zur Faust, immer fester, die Schultern krümmen sich, das Gesicht verzerrt sich vor Schmerz und Qual. (…) Ich biege den Kopf zurück, Schultern, Arme, Hände, der ganze Körper erstarrt. (…) Sekundenlang stehe ich bewegungslos da, eine Säule des Schmerzes. Dann weicht langsam das Leben aus meinem Körper, sehr langsam entspannt er sich. Der Schmerz lässt nach, der Mund wird weicher, Schultern fallen, die Arme werden schlaff, die Hände. (…) der Kopf fällt schnell, der Kopf einer Puppe. (…) Totenstille. Niemand im Zuschauerraum wagt zu atmen. Ich bin tot."
Konventionen und Grenzen erfahrbar machen
Es ging Gert nicht um die Provokation um der Provokation willen. Sie wollte Konventionen und Grenzen erfahrbar machen. Ihre Kunst polarisierte, sie war sozialkritisch und aufpeitschend. Nichts war improvisiert, jeder Schritt, jede Geste war geübt, doch wurde die Aufführung durch die jeweiligen Umstände oder Stimmungen beeinflusst, sodass kein Auftritt dem anderen glich.
Nach 1933 von den Nazis als "entartet" diffamiert und als Jüdin verfolgt, versuchte Valeska Gert vergeblich, im europäischen Ausland Fuß zu fassen; 1939 emigrierte sie schließlich in die USA. Hier arbeitete sie unter anderem als Tellerwäscherin und Aktmodell, bis sie 1941 in New York die "Beggar Bar" eröffnete, ein Nachtlokal ohne Alkohollizenz, das gleichzeitig Kabarett war. Es blieb nicht das einzige: Auch in Provincetown auf Marthas Vineyard, später in Zürich, Berlin und schließlich in Kampen auf Sylt eröffnete Valeska Gert Lokale, in denen die Künstlerinnen und Künstler nicht nur auftraten, sondern auch kellnerten, kochten oder die Garderobe machten. In der "Beggar Bar" war zum Beispiel Tennessee Williams als Aushilfskellner tätig, in der "Hexenküche" im Berlin Anfang der 1950er-Jahre bediente Klaus Kinski, wenn er nicht auf der Bühne stand.
Die "Beggar Bar" war legendär, unter anderem verkehrten dort Marcel Duchamp, Judy Garland und Vincente Minelli. An diesen Erfolg konnte Valeska Gert nicht anknüpfen, als sie 1949 nach Berlin zurückkehrte. Sie und ihre Kunst waren von der Öffentlichkeit weitgehend vergessen. Zudem thematisierte sie nun in ihren Auftritten in der "Hexenküche" die jüngste Vergangenheit Deutschlands und rührte damit an gesellschaftliche Tabus. Bald schloss sie diese Bar wieder, doch den "Ziegenstall", ihr Kabarett in Kampen auf Sylt, führte sie bis zu ihrem Tod im Jahr 1978 weiter.
Unbeirrbar, lebenshungrig und unbeugsam
Auch wenn sie kein breites Publikum mehr erreichte, war sie doch in Avantgardekreisen anerkannt. Valeska Gert drehte in den 60er Jahren und 70er Jahren mit Fellini, Fassbinder und Schlöndorff. Letzterer produzierte auch einen Dokumentarfilm mit und über Gert. Die Punkbewegung der späten 70er und frühen 80er Jahre in Deutschland entdeckte Valeska Gert mit ihrer Unbedingtheit, ihrem Lebenshunger, ihrer Kraft und Unbeugsamkeit schließlich für ein größeres Publikum.
In ihrer Autobiografie, die erstmals 1968 erschien und jetzt vom Alexander Verlag Berlin neu aufgelegt wurde, erzählt Valeska Gert frisch, unmittelbar, szenisch und manchmal etwas chaotisch ihr bewegtes Leben. Sie spart auch ihre Misserfolge, ihre vielen Zivilprozesse und auch ihre Unbeherrschtheit nicht aus, die ihr mitunter im Weg stand. Das Nachwort von Frank-Manuel Peter hilft zu verstehen, wie revolutionär und bedeutsam Valeska Gert als Person und Künstlerin war. Bis heute beeindruckt sie in ihrer Unbeirrtheit und Unabhängigkeit in Privatleben wie in ihrer Kunst.
Valeska Gert: "Ich bin eine Hexe. Kaleidoskop meines Lebens".
Mit einem Nachwort von Frank-Manuel Peter, herausgegeben vom Deutschen Tanzarchiv Köln.
Alexander Verlag Berlin, 288 Seiten, 19,90 Euro