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Venedig und die Touristen (4/5)
Souvenirs kann man nicht essen

55.000 Einwohner, aber 30 Millionen jährliche Besucher – in Venedigs Altstadt sind Venezianer eine Minderheit. Immer mehr Läden dort verkaufen deshalb lieber Souvenirs und Luxusessen als Brot und Fleisch. Die Einheimischen müssen bezahlbare Lebensmittel immer mehr suchen.

Von Kirstin Hausen | 04.11.2017
    Läden mit bezahlbaren Lebensmitteln müssen Einheimische in manchem Teil Venedigs immer mehr suchen
    Läden mit bezahlbaren Lebensmitteln müssen Einheimische in manchem Teil Venedigs immer mehr suchen (Deutschlandradio / Kirstin Hausen)
    Eine Bäckerei im Stadtteil Castello, am östlichen Rand von Venedig. Die Brötchen und Buttercroissants sind bereits ausverkauft – es ist zehn Uhr morgens. Massimo Brunzin entscheidet sich für ein dunkles Kastenbrot mit Körnern und zwei Weißbrote. Er kauft für seine Familie ein, wie jeden Samstag. Aber die Touristen sind mal wieder schneller gewesen, sagt er:
    "Hier im Viertel gibt es viele Ferienwohnungen. Die Touristen bleiben zwei, drei Tage, haben eine Küche und versorgen sich also selbst. Wenn ich jetzt in den Lebensmittelladen von Betti gehe, dann kann ich dort zwischen 70 bis 80 verschiedenen Weinen auswählen, obwohl die Einheimischen hier mit zehn verschiedenen Etiketten zufrieden wären. Aber Betti hat genau die Produkte, die die Touristen für ihren Kurzaufenthalt suchen."
    Betti führt einen der letzten gut sortierten Lebensmittelläden, die noch in Castello geblieben sind. Viele Geschäfte für den täglichen Bedarf haben sich in Souvenirshops verwandelt. Plastikgondeln und Schneekugeln mit Markusplatz statt Lebensmittel, Zahnstocher oder Gartenscheren:
    "Leider gibt es in Venedig immer weniger Einwohner und immer mehr Touristen. Viele kommen nur, um sagen zu können, ich war in Venedig. Was sehr schade ist. Diese Stadt hat es verdient, verstanden und gelebt zu werden."
    Ein Haushaltswarengeschäft verkauft jetzt Glasschmuck
    Jetzt gehen wir Fisch kaufen, sagt Massimo zu seinem achtjährigen Sohn und biegt in die Via Garibaldi, die Hauptstrasse von Castello, ein. Ein Geschäft für Haushaltswaren verkauft jetzt Schmuck aus billigem, buntem Glas. "Made in Venice" steht auf der Fensterscheibe. Massimo Brunzin staunt. Solche Dinge werden in Venedig überhaupt nicht hergestellt.
    Die Ohrringe und Kettenanhänger sind schlechte Imitate von Schmuckstücken, die auf Venedigs Glasbläserinsel Murano in Handarbeit gefertigt und in kleiner Stückzahl verkauft werden. Sicher nicht für 8 oder 12 Euro wie die hier im Schaufenster.
    Massimo ist stehen geblieben, um einen Freund aus Kindertagen, zu begrüßen. Der Mittfünfziger wohnt schon lange nicht mehr in Venedig, besucht heute seine alte Mutter in Castello. Die erste Arbeitsstelle fand er in Mailand, dann eine in Treviso, 50 Kilometer nördlich von Venedig. Seitdem wohnt er auf dem "Festland", der Terraferma, wie die Venezianer sagen.
    "Aber mein Wunsch war, wie der vieler Venezianer, die gegangen sind, früher oder später nach Venedig zurückzukehren. Aber wie das Leben so spielt: der Stützpunkt wurde mein wahres Zuhause. Und vielen meiner Freunde ist es ebenso ergangen. Nur wenige sind nach Venedig zurückgekommen. Vor allem wegen der Immobilienpreise. Ein Haus kostet hier so viel wie woanders ein Hotel."
    "30 Millionen pro Jahr und alle wollen Venusmuscheln"
    Ein Schulterklopfen, eine Umarmung – dann beschleunigt Massimo Brunzin seinen Schritt. Es ist fast Mittag, der Fischhändler wartet. Auf einem kleinen Platz, einem Campiello, hat er seinen Stand aufgebaut. Die Ware liegt in blauen Kästen auf Eis gebettet. Schillernder Schwertfisch, Goldbrassen, Meeräschen, Garnelen, herzförmige Venusmuscheln.
    "Die Venusmuscheln sind ja eine Spezialität der Lagune von Venedig. Sie waren das Essen der Armen. Die bürgerlichen Familien in Venedig haben früher vor allem Fleisch gegessen. Heute weiß man um die Vorzüge von Fisch und Meeresfrüchten, und jetzt wollen alle nur noch unsere traditionellen Nudeln mit Venusmuscheln essen. 30 Millionen Besucher pro Jahr und alle wollen Venusmuscheln. Wo holen wir all diese Muscheln her?"
    Sicher nicht nur aus der Lagune. Aber die wenigsten Touristen fragen nach der Herkunft, wenn sie im Restaurant den piatto tipico, das typische Gericht Venedigs vorgesetzt bekommen.
    Massimo fragt nach Makrelen. Fünf eher kleine und ein Kilo Krabben nimmt er. Die Edelfische, die mit geöffnetem Maul fast noch zu atmen scheinen, sind für die Touristen, sagt Massima Brunzin:
    "Ich kaufe Fisch, der gut schmeckt aber nicht zu teuer ist. Ich achte aufs Geld, während viele Touristen das nicht tun. Sie sind bereit, mehr auszugeben, schließlich sind sie im Urlaub und deshalb kaufen sie teureren Fisch."
    Café wurde zur Austernbar
    Noch hat der Fischhändler die günstigere Ware nicht aus dem Programm genommen. Aber das Café auf der Via Garibaldi, in dem Massimo nach dem Einkaufen gerne einen Aperitif trank, hat sich der kauffreudigen Kundschaft angepasst und ist jetzt eine Austernbar. Massimo geht rasch vorbei und steuert auf ein Geschäft zu, das seit 40 Jahren unverändert ist.
    "Hier kaufen wir unseren Wein. Mit der Betreiberin bin ich in die Grundschule gegangen. Sie verkauft Wein vom Fass. Ein Liter Prosecco kostet zwei Euro 50 und ist nicht schlecht."
    Anderthalb Liter kauft Massimo heute, der frische Perlwein passt gut zum Fisch. Hier fühlt er sich wohl. Hier ist noch etwas zu spüren vom Castello seiner Kindheit.