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Venedig und die Touristen (5/5)
Der Stadt fehlen die Kinder

Venedig ist enger geworden und teurer. Wer noch in der Stadt wohnt, lebt mitten unter Touristen. Manch einer zieht von der Lagune aufs Festland. Doch ohne junge Paare und Familien – wo bleiben da Venedigs Kinder?

Von Kirstin Hausen | 04.11.2017
    Zwei Kinder in Venedig brauchen nicht bei jeder Kleinigkeit in ein Fachgeschäft zu gehen. Sie reparieren kleinere Macken an ihren Drahteseln einfach selbst. Aufnahme vom 27.09.1960
    "Meine Generation ist auf den Plätzen der Stadt großgeworden", sagt der Venezianer Massimo Brunzin. Heute – mit immer mehr Touristen und immer weniger Einheimischen – gehe das nicht mehr so richtig (picture alliance / B. Hengstermann)
    Eine Gasse, ein Torbogen, dahinter ein Schulhof mit Bäumen und Bänken. Nur 300 Meter Luftlinie entfernt vom Markusplatz herrscht Alltag. Schulalltag, Elternalltag. In Grüppchen stehen Väter und Mütter herum, plaudern, warten auf Schulschluss. Massimo Brunzin holt seine beiden Söhne ab, der eine geht in die Vorschule, der andere in die Grundschule.
    "Einige Schulen wurden geschlossen, es gab hier noch eine zweite Grundschule, und ganz in der Nähe einen Kindergarten, der dieses Jahr geschlossen wurde, weil die Kinder fehlen."
    Venedigs Bevölkerung wird immer älter. Nur einer von 1.000 Einwohnern ist unter 18 Jahre alt. Massimo kennt das Problem, er sitzt im Elternrat der Schule.
    "Mit den Jahren sind die Venezianer mit geringerem Einkommen aus der Stadt vertrieben worden, geblieben ist die Mittelschicht und hinzugekommen sind Kinder aus ganz Europa und den USA. Wir haben auch Schüler aus weniger entwickelten Weltgegenden, aber nicht sehr viele. Das ist hier anders als auf dem Festland, wo beispielsweise der Anteil asiatisch stämmiger Kinder in den Schulen bedeutend ist. Hier nicht. Die Asiaten, die hier arbeiten, verdienen nicht genug, um auch in Venedig zu wohnen."
    "Soziale Kontrolle fehlt inzwischen"
    Die Kinder dürfen den Schulhof nicht alleine verlassen.
    "Meine Generation ist auf den Plätzen der Stadt großgeworden. Ich bin allein zur Schule gegangen. Aber vor 30 Jahren gab es noch mehr Kinder hier, und diejenigen, die in der gleichen Straße wohnten, gingen zusammen. Darunter waren auch die Söhne und Töchter der Einzelhändler, die ihre Geschäfte hier hatten und die sahen, was auf der Straße passierte. Diese soziale Kontrolle fehlt inzwischen. In den Läden dieses Stadtteils arbeiten kaum noch Leute, die auch hier wohnen. Sie kommen vom Festland und haben keinen Bezug zu diesem Stadtteil."
    Massimos Sohn kommt mit seinem Freund Giovanni herbei, die beiden haben in einer Stunde Basketballtraining.
    Massimo schlägt vor, vorher noch ein Eis zu essen. Auf dem Campo della Bragora, dem Hauptplatz des Stadtteils. Hier treffen sich Kinder und Eltern nach Schulschluss.
    "Hier lernst du das Fussballspielen, hier lernst Du die ersten Streiche. Und hier stehen die Mütter und Väter in Grüppchen zusammen. Je nach Sympathie."
    Kinder spielen umzingelt von Touristen
    Sie stehen in der Mitte des Platzes. Unter den wenigen Bäumen. Versteckt. Und umzingelt. Denn die Straßencafés, die sich immer weiter über den Platz ausbreiten, sind voller Touristen. Der Kaffee kostet zwischen 3 und 4 Euro. Das ist drei Mal so teuer wie in Italien üblich. Die Einheimischen sind darüber empört und boykottieren die Cafés, die Touristen aber zahlen. Eddy und Maureen Brown aus Kansas City haben mit diesen Preisen gerechnet:
    "We were expecting that."
    Die schlichte Ziegelsteinfassade der Kirche San Giovanni Battista beherrscht eine Seite des Platzes. Es ist eine der ältesten Kirchen Venedigs, sie stammt aus dem 7. Jahrhundert. Massimo Brunzin ging hier zur Kommunion. Die Zahl der Gläubigen, die regelmäßig zur Messe gehen, hat mit den Jahren stetig abgenommen. Und so hat die Kurie vor allem kleinere Kirchen in Venedig geschlossen. In einem Fall wurde das angrenzende Pfarrhaus an ein Hotelkonsortium verkauft. Für Massimo und viele Venezianer ist das ein Skandal:
    "So etwas hat die Kirche bisher nicht getan, das kam gar nicht in Frage! Wir haben in Venedig um die 150 Kirchen, von denen sind nur noch 20 bis 30 in Betrieb. Jede Kirche hat nebenan das Pfarrhaus, in dem der Pastor wohnt. Wird die Kirche geschlossen, braucht man keinen Pfarrer mehr und auch kein Pfarrhaus. Wie es scheint, zeigt sich hier eine neue Tendenz. Die nicht mehr genutzten Pfarrhäuser kommen unter den Hammer und werden Unterkünfte für Touristen."
    Die Großeltern spazierten noch auf dem Markusplatz
    Massimo ruft einen Freund herbei, dessen Tochter mit seinem älteren Sohn zusammen in eine Klasse geht. Sie schwelgen in Erinnerungen:
    "Als ich zwölf Jahre alt war, ging ich oft ins Zentrum und sah den Venezianern beim Bummeln zu. Das macht heute keiner mehr. Sporadisch trifft man sich mal, so wie hier auf dem Platz. Früher waren alle Plätze der Stadt voll mit Kindern und ihren Eltern, heute sieht man sie nur noch ganz vereinzelt."
    Matteos Großeltern gingen zum Spazieren noch auf den Markusplatz – unvorstellbar heute.
    Eine Frau von Mitte 30 kommt hinzu. Sie ist keine Freundin des Massentourismus, gibt aber zu bedenken, dass halb Venedig von ihm lebt. Sie selbst käme nicht über die Runden, würde sie nicht eine kleine Ferien-Wohnung tageweise vermieten:
    "Für mich ist das ein Widerspruch. Auf der einen Seite ruinieren wir unsere Stadt, andererseits ist diese Entwicklung nicht aufzuhalten, ich erlebe es ja am eigenen Leib und finde keinen Ausweg."
    Massimo Brunzin nickt und schaut den Kindern beim Spielen zu. Einen Ausweg aus der Spirale zu finden, in der Venedig steckt, gelingt vielleicht erst der nächsten Generation.