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Verfolgte der Sowjet-Diktatur
Erinnerung mit Widersprüchen

Ein öffentliches Denkmal für die Opfer der Sowjet-Diktatur gab es in Moskau bisher nicht. Nun wird an zentraler Stelle eines enthüllt: Die monumentale "Wand der Trauer" soll laut Wladimir Putin an die "bittersten, schwersten Seiten" der Geschichte erinnern. Wie glaubwürdig ist dieses offizielle Gedenken?

Von Thielko Grieß | 30.10.2017
    Das Denkmal für die Opfer des sowjetischen Terrors «Mauer der Trauer» des Bildhauers Georgi Franguljan in der russischen Hauptstadt Moskau, aufgenommen am 24.10.2017. Die monumentale «Mauer der Trauer» soll am 30. Oktober enthüllt werden.
    Diese "Mauer der Trauer" soll heute in Moskau eingeweiht werden, zum Gedenken an die Opfer politischer Repressalien. Präsident Putin nennt dieses bittere Kapitel der Sowjetgeschichte "lehrreich (picture alliance / dpa / Emile Alain Ducke)
    Monatelang sind Figuren aus Bronze gegossen worden. Aneinander gefügt formen sie eine Wand von etwa 30 Metern Länge und sechs Metern Höhe. "Wand der Trauer", so lautet ihr Titel übersetzt. Die Gesichter der Figuren sind nur schemenhaft zu erkennen; Mund, Nase, Augen, alles Persönliche fehlt. Das ist Absicht, erklärt Bildhauer Georgij Franguljan:
    "Die Skulptur stellt etwa 500 Figuren dar – es sind keine konkreten, tatsächlichen Figuren, sondern abstrakte, symbolische. Sie schaffen gerade dieses Gefühl; das heißt, die Plastik wirkt wie eine Art Korrosion. Darin liegt all die Tragik dessen, was viele viele Jahre lang geschehen ist."
    Während der Sowjet-Diktatur ließ das Regime landesweit Hunderttausende Menschen hinrichten. Opfer wurden einfache Leute, Minderheiten, politisch Andersdenkende, Militärs, Geistliche und auch Bolschewiki der ersten Stunde. Ein großes öffentliches Denkmal hat es bis jetzt in Moskau nicht gegeben. Franguljan:
    "Ich glaube, das ist ein bedeutendes Ereignis. Die Hoffnung erfüllt sich, dass die Lehren der Geschichte nicht vergebens vorüberziehen, dass sich so etwas nicht wiederholt."
    Staat zahlt rund 4,5 Millionen Euro fürs Denkmal
    Der Appell "Erinnere dich" ist in mehr als zwanzig Sprachen eingraviert worden, darunter auch auf Deutsch. Steine aus verschiedenen Regionen, in denen Zwangslager errichtet worden waren, ergänzen die Skulptur. Der Staat zahlt nach offiziellen Angaben umgerechnet rund 4,5 Millionen Euro; private Spender haben knapp 700.000 Euro gesammelt.
    Das Denkmal soll heute durch den Präsidenten Russlands, Wladimir Putin, an der in Moskau zentral gelegenen Kreuzung Sacharow-Prospekt und Gartenring enthüllt werden. Er hatte es in Auftrag gegeben und im Herbst 2015 erklärt:
    "Das ist eine der bittersten, schwersten Seiten unserer Geschichte. Aber sie ist für uns nicht weniger lehrreich als unsere Siege und Triumphe. Sie verlangt Objektivität und Verantwortung, weil sie in sich eine wichtige Lehre trägt, die wichtigste Lehre für die heutige Generation und alle künftigen Generationen."
    Putin steht eigentlich für patriotische Erinnerungspolitik
    Welche Worte Putin heute zur Einweihung wählt, wird Hinweise darauf geben, wie er das geschichtsträchtige Jahr 2017 interpretiert. Besonders die anstehende 100. Wiederkehr der Oktoberrevolution bereitet etliche Schwierigkeiten: in einem Land, dessen politische Führung die unter Putin hergestellte Stabilität als Errungenschaft preist, sind größere Veränderungen unerwünscht.
    Andererseits wäre ohne den Umsturz der Bolschewiki vor 100 Jahren die Sowjetunion undenkbar, an deren Heldenmythen sich auch heute noch so mancher wärmt. Im Zuge der auch von Putin patriotisch geprägten Erinnerungspolitik ist Diktator Stalin, an dessen Terrorherrschaft das Denkmal erinnert, laut Umfragen in den vergangenen Jahren immer populärer geworden.
    Solche Befunde schmerzen Menschenrechtler, etwa der Organisation Memorial, die sich für Aufarbeitung und ehrliche Erinnerung einsetzen. Sie haben gestern, wie in jedem Jahr, dazu eingeladen, vor der Zentrale früherer Geheimdienste wie der KGB, heute FSB, Namen von Terroropfern zu verlesen. Tausende Schicksale wurden genannt.
    Wie glaubwürdig ist dieses offizielle Gedenken?
    Die Geschäftsführerin von Memorial, Jelena Schemkowa, begrüßt, dass sich auch der russische Staat der Erinnerung stellt, wenn auch mehr als ein Vierteljahrhundert nach dem Ende der Sowjetunion:
    "Das ist ein weiteres Zeichen dafür, dass er sagt, dass gewaltsame Abrechnungen ohne Einschaltungen eines Gerichts, dass politische Repressalien schlecht und Verbrechen sind. Und dass wir als russischer Staat solche Verbrechen verurteilen."
    Dabei bleibt das Verhältnis zwischen dem Machtapparat und privat organisierten Erinnerungsgruppen gespannt. So bezeichnen die Behörden Memorial nach wie vor als ausländischen Agenten, und in der im Norden gelegenen Republik Karelien wird einem Historiker, der die Terrorjahre seit Langem aufarbeitet, unter kaum glaubwürdigen Anschuldigungen ein Prozess gemacht.