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Verhältnis zu Russland
"Nicht die Sanktionsschraube weiter anziehen"

Matthias Platzeck, Chef des Deutsch-Russischen Forums, hält die Verschärfung der Sanktionen gegen Russland nicht für zielführend. Diese würden weder der Entfaltung der russischen Gesellschaft nützen, noch das Verhältnis zu Russland verbessern, sagte er im Dlf. Er plädiert dafür, auf Augenhöhe Gesprächskontakte zu halten.

Matthias Platzeck im Gespräch mit Sandra Schulz |
Der SPD-Politiker Matthias Platzeck im Porträt.
Früher Ministerpräsident, heute Vorsitzender des Deutsch-Russischen Forums: Matthias Platzeck. (picture alliance / dpa / Sören Stache)
Ein Gericht in Moskau hat den Oppositionspolitiker Alexey Nawalny wegen Verstoßes gegen Bewährungsauflagen zu einer Freiheitsstrafe von dreieinhalb Jahren verurteilt. Abzüglich der Zeit im Hausarrest muss der 44-Jährige insgesamt zwei Jahre und acht Monate in ein Straflager. Seine Anwälte kündigten Berufung gegen das Urteil an. Nach der Verurteilung war es zu Protesten gekommen. Die Polizei ging teils gewaltsam gegen die Demonstranten vor und nahm Korrespondentenberichten zufolge mehr als 1.000 Personen fest.
Das Urteil stößt in Europa auf deutliche Kritik und schon vor dem Urteil hat der Fall Nawalny auch eine neue europäische und deutsche Debatte entfacht: Wie umgehen mit Russland? Vor allem: Ist das noch der richtige Partner für das Pipeline-Projekt Nord Stream zwei?
Matthias Platzeck war über zehn Jahre Ministerpräsident in Brandenburg, von Ende 2005 bis zum Frühjahr 2006 SPD-Vorsitzender, und er ist seit 2014 der Vorsitzende des Deutsch-Russischen Forums – einem Verein, der den Dialog zwischen Deutschland und Russland fördern will.
Demonstrantin in Russland - Solidarität mit Nawalny trotz Kritik an seinen Positionen
Der große Zulauf der Proteste in Russland habe sie überrascht, sagte die Demonstrantin Evgeniya im Dlf. Sie selbst sei kein Nawalny-Fan, es sei ihr aber um ein Zeichen der Solidarität gegen die Ungerechtigkeit gegangen, die dem Kreml-Kritiker widerfahren sei.
Sandra Schulz: Steigen wir ein mit dem Blick auf das Urteil von gestern. Dreieinhalb Jahre Haft in einem Straflager, abzüglich dieses Hausarrests, den Nawalny schon abgesessen hat. Ist das eine gerechte Strafe?
Matthias Platzeck: Ich kann das juristisch nicht beurteilen. Aber alles, was man sieht und weiß, muss man sagen, es ist eher ein Ausdruck einer gewissen Ratlosigkeit der russischen Administration. Ich hätte mir eine deutlich andere Reaktion, ein deutlich anderes Urteil gewünscht, einen viel souveräneren Umgang mit Herrn Nawalny. Das ist leider nicht passiert und das wirft ein Schlaglicht auf den Zustand und auf das Verhältnis, glaube ich, auch innerhalb der russischen Machtverteilung.
Wir beobachten ja schon seit längerem, dass die sorgfältig austarierte russische Gesamtbalance, die Putin ja erzeugt hat nach dem Desaster der 90er-Jahre und dem fast Zusammenbruch Ende der 90er-Jahre, diese Machtbalance zwischen den regionalen Mächten, den Oligarchen-Gruppen, die es ja immer noch gibt in Russland, mit großem Einfluss, der Armee und den Geheimdiensten – das ist die eine Seite der russischen Balance, die er austariert hat und einigermaßen mit Änderungen jeweils am Laufen gehalten hat.
Und das zweite ist so ein nie ausgesprochener, aber von allen gespürter Sozialvertrag, den wir in Russland allenthalben spüren konnten, der da eigentlich lautet, wenn man es holzschnittartig macht, ihr, die Bevölkerung, haltet euch mal politisch noch bedeckt und verhalten, und wir, die Regierung, die Administration, sorgen dafür für Stabilität und für ein Stück Perspektive. Das hat ja relativ lange funktioniert.

"Auch in solchen aufgeregten Zeiten nüchtern bleiben"

Schulz: Ja, Herr Platzeck, ist aber ein Funktionieren, so wie Sie es nennen – könnte man auch in Anführungszeichen setzen -, das für viele Menschen in Russland jetzt nicht mehr funktioniert. Ich wundere mich darüber, dass Sie sagen, Sie können das juristisch nicht beurteilen. Wir wissen, dass Nawalny verurteilt wurde, weil er gegen Bewährungsauflagen verstoßen haben soll in einem Zeitraum, in dem er sich in Deutschland erholt hat von einem Giftgas-Anschlag.
Platzeck: Frau Schulz, die Behauptungen der Russen sind, dass er schon vorher, bevor er diesem Giftgas-Anschlag ausgesetzt war, gegen Bewährungsauflagen verstoßen hat. Deshalb habe ich das gesagt. Wir müssen ja immer versuchen, auch in solchen aufgeregten Zeiten nüchtern zu bleiben, und wir dürfen auch nicht vergessen, dass wir irgendwann uns jetzt mal die Fragen stellen müssen. Wir diskutieren aus meiner Sicht viel zu sehr immer an Tagesereignissen entlang das schwierige Verhältnis zu unserem größten Nachbarn. Es ist ja immer noch, Frau Schulz, das größte Land der Welt und die zweitgrößte Atommacht. Das dürfen wir nicht vergessen, die zweitgrößte Atommacht in unserer direkten Nachbarschaft. Deshalb müssen wir mal diskutieren, wie wollen wir eigentlich perspektivisch mit diesem Land und diesem Verhältnis umgehen.
Wollen wir, weil jetzt ja in Ihrem Vorspann gerade der Ruf kam aus verschiedenen Gegenden nach weiteren Sanktionen, weitere Sanktionen? Wollen wir die Verhältnisse damit noch gespannter machen? Denn die Sanktionen der letzten sechs Jahre haben ja nichts verbessert, aber fast alles verschlechtert. Und da muss man ja mal nüchtern fragen, ist es dann der richtige Weg? Ist es der Weg, der uns zu einem besseren Verhältnis führt, auch zu einem besseren Verhalten Russlands, oder ist es das nicht? Ich finde, solche Fragen müssen wir jetzt mal sehr gründlich diskutieren.

"Russland reagiert, wie es reagiert - das muss man mit ins Kalkül ziehen"

Schulz: Herr Platzeck, das sind natürlich genau die Fragen, die ich Ihnen auch gleich stellen will. Aber einen Moment möchte ich jetzt noch bleiben beim Urteil gegen Nawalny. Die Bewährungsstrafe, die ausgesetzt wurde, die drehte sich um ein Urteil aus dem Jahr 2017, das der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ebenfalls als Unrecht deklariert hat. Wenn Sie sich um den Dialog bemühen zwischen Russland und Deutschland, gehört zu diesem Dialog, zu einem partnerschaftlichen Umgang in so einer Situation nicht auch Kritik?
Platzeck: Ja, aber völlig klar! Ich habe die in den letzten Jahren immer wieder geübt, auch schon vor dem Urteil. Ich wünsche mir einen völlig anderen Umgang mit der Zivilgesellschaft. Das sage ich auch den russischen Kollegen bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Ich sage immer wieder, wenn eine Gesellschaft in eine schwierige Phase ihrer Entwicklung kommt – und das ist die russische Gesellschaft; das kann man, wer die Augen einigermaßen offen hat und die Ohren offen hat, sehr deutlich sehen -, dann gehört zur Bewältigung dieser Situation Mut zur Zivilgesellschaft und nicht das, was sich in Russland schon seit Jahren immer mehr spüren lässt, nämlich Angst vor der Zivilgesellschaft.
Umgang mit Russland - Die Sanktionen und ihre Folgen für ostdeutsche Unternehmen
Zwar ist mit den jüngsten Sanktionen gegen Russland das Aus für die Erdgas-Pipeline Nord Stream 2 ausgeblieben, worunter auch deutsche Firmen gelitten hätten. Doch für Entwarnung an der Ostseeküste ist es zu früh.

Schulz: Wie können jetzt Deutschland und Europa diese Kräfte, die diesen Mut im Moment aufbringen, die Demokratiebewegung, Nawalny, seine Unterstützer, wie können die jetzt von hier unterstützt werden?
Platzeck: Da glaube ich fest daran, dass es weiterhin das bessere Mittel ist. Es ist alles schwierig, aber das bessere Mittel ist, nicht die Sanktionsschraube weiter anzuziehen. Das wird zu Gegenreaktionen führen, die gerade den Menschen, die Stück für Stück ihre eigene Bestimmung entdecken und sagen, wir haben unsere eigenen Interessen und wir wollen die auch formulieren, wir wollen die artikulieren und wir wollen die irgendwann politisch auch durchsetzen, denen erweisen wir damit, glaube ich, keinen Dienst. Wenn Sie in den letzten Tagen zufällig Mark Episkopos gelesen haben in "The National Interest", der ja nun wahrlich kein Russland-Freund ist in den USA – der hat seinem Kongress empfohlen, nicht weiter an der Sanktionsschraube zu drehen, weil er sagt, das könnte ganz im Gegenteil dazu führen, dass Oppositionsbildung und Oppositionsarbeit eher erschwert wird als am Ende ermöglicht. Russland reagiert, wie es reagiert, und das muss man mit ins Kalkül ziehen.
Ich sage noch mal: Mit in dieses Kalkül gehört auch, es handelt sich hier nicht um irgendein kleines Land, sondern eine große Atommacht. Instabilitäten in dieser großen Atommacht, die müssen wir – das gehört zu kluger Politik – mit im Auge haben. Das könnte die ganze Welt instabil machen.

"Wir sind da nicht klar in unseren Sichten und in dem Vertreten unserer Sichten"

Schulz: Muss Alexej Nawalny freigelassen werden?
Platzeck: Das ist für mich überhaupt keine Frage!
Schulz: Okay. War jetzt mal interessant zu hören.
Platzeck: Er hätte überhaupt nicht verhaftet werden sollen.
Schulz: Okay. Wenn Sie jetzt sagen, was Europa, was Deutschland nicht tun sollte, nämlich die Sanktionsschraube, wie Sie sagen, nicht weiter anziehen, dann ist ja die Gegenfrage: Wenn man jetzt weitermacht mit Nord Stream zwei, als wäre nichts gewesen, welches andere Signal ist es, als zu sagen, als zu signalisieren, uns doch egal, wie ihr mit euren Oppositionellen umgeht?
Platzeck: Erstens finde ich, Frau Schulz, wir müssen auch die Frage der Maßstäblichkeit unserer Reaktionen mal mit besichtigen. Wir sagen hier immer, wenn es um Russland geht, die Anlässe sind klar, darüber haben wir eben gesprochen, aber wir sagen dann immer, jetzt müssen sofort Sanktionen her. Wir sind da nicht klar in unseren Sichten und in dem Vertreten unserer Sichten. Wenn Präsident Erdogan massenweise Journalisten verhaftet und hinter Gitter bringt, sagen wir, nicht schön, reden aber nicht über Sanktionen. Wenn unsere saudischen Verbündeten Menschenrechte verletzen ohne Ende, im eigenen Land, aber auch im Ausland, wie der Fall Kashoggi gezeigt hat, sagen wir, ist nicht schön, aber na gut, dann ist es eben so. Wir müssen dann auch mal sehen – wir leben ja alle auf dieser Welt -, dass hier die Maßstäbe einigermaßen gewahrt werden.
Zweiter Punkt: Geschichte wiederholt sich nicht. Aber ich glaube, wir müssen und sollten aus der Geschichte lernen. Als 1968 die Sowjetunion brutalst möglich den Prager Frühling niedergeschlagen hat, haben kluge und sehr weitsichtige Politiker wie Willy Brandt und Egon Bahr gesagt, fast paradox, antizyklisch, wie Sie es auch nennen wollen, wir strecken jetzt in diesem Moment die Hand aus – eine fast unvorstellbar weitsichtige Tat. Wenige Wochen nach der Besetzung von der Tschechoslowakei haben sie in Moskau die Verhandlungen für ein neues Verhältnis zwischen der Sowjetunion und Deutschland begonnen. – Noch mal: Geschichte wiederholt sich nicht!

"Wo wir mit Russland vorankommen ist dann, wenn wir auf Augenhöhe Gesprächskontakte halten"

Schulz: Aber die Hand ist im Moment ja nord-stream-technisch ausgestreckt, Herr Platzeck. Sie sagen, Europa ist da nicht klar. Dass Europa nicht klar ist, liegt natürlich auch daran, dass Europa zerstritten ist, dass die Bundesregierung da diesen Alleingang hinlegt. Gäbe es jetzt dieses Bekenntnis aus Berlin, ja, für uns ist das Maß jetzt auch voll, Nord Stream zwei kann jetzt nicht weitergehen, in dem Moment würde Europa ja an einem Strang ziehen.
Platzeck: Ich glaube, dass das falsch wäre. Ich habe es eben schon mal gesagt. Ich halte eine Verschärfung von Sanktionen, wie Sanktionen überhaupt, nicht für zielführend. Wir kommen mit Russland immer dann mühsam, überhaupt keine Frage. Wir müssen hier in Dimensionen und Zeithorizonten von 10, 20, 30 Jahren denken. Da geht nichts schnell. Aber wo wir mit Russland vorankommen ist dann, wenn wir auf Augenhöhe Gesprächskontakte halten, wenn wir uns mühen. Wir machen das als Deutsch-Russisches Forum seit 25 Jahren und wir merken ja auch, dass sich in der Zivilgesellschaft etwas tut. Wir machen unzählige Jugendaustausche, Journalistenaustausche, Young-Leader-Seminare und und und. Das ist ein langer, langer Weg, aber er wird irgendwann sich positiv auszahlen. Sanktionen werden kurzfristig uns befriedigen, weil wir denken, jetzt haben wir was gemacht, jetzt haben wir ein Zeichen gesetzt, aber das wird weder für die Entfaltung der russischen Gesellschaft, noch für das Verhältnis zwischen Russland und Deutschland oder Russland und Europa irgendwas wirklich Positives bewirken, sondern ganz im Gegenteil wahrscheinlich zu einer Abschottung und zu einer weiteren Verhärtung der Situation in Russland selber.
Schulz: Jetzt ist im Moment aber die Wahrnehmung vieler ja nicht etwa, dass es zu langsam gehen würde, sondern dass die Entwicklung in Russland einfach in eine falsche Richtung geht. Was setzen Sie diesem Eindruck entgegen?
Platzeck: Ich finde, die Richtung in der Zivilgesellschaft geht nicht falsch. Die Zivilgesellschaft in Russland ist immer wach.
Schulz: Die der russischen Regierung ist gemeint. Das ist doch klar.
Platzeck: Die ist einfach immer wach und das muss man klug begleiten, und das ist ja unser kleiner Dissens hier in dem Gespräch. Ich glaube, kluge Begleitung besteht nicht durch weitere Sanktionen, sondern dadurch, dass man Hand ausstreckt, dass man zum Beispiel, um es ganz praktisch zu machen, endlich sich einen Ruck gibt und wenigstens für junge Leute Visumfreiheit herstellt, Visafreiheit herstellt im Verkehr zwischen Russland und Europa. Das ist kein Geschenk an Putin, sondern wäre das blanke Gegenteil, dass es endlich zu mehr Austausch, zu mehr Begegnung kommt. Es bleibt eine richtige Formel, davon lasse ich mich nicht abbringen, die damals Willy Brandt geboren hat: Wandel durch Annäherung. Nur das wird langfristig uns dazu führen, dass in Russland einigermaßen vernünftige Verhältnisse entstehen und dass das Verhältnis zwischen Russland und dem Rest der Welt, insbesondere uns Europäern sich Stück für Stück bessert. – Schwieriger Weg, mit Sicherheit nicht ohne Rückschläge, aber der einzig gangbare.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.