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Verhandlung zur Flüchtlingskrise
Günter Seufert: "Die Türkei pokert mit den Flüchtlingen"

Die Türkei nutzt die Flüchtlingskrise, um daraus Kapital zu schlagen, sagt Günter Seufert von der Stiftung Politik und Wissenschaft im DLF. Bei den Verhandlungen mit der EU gehe es ihr vor allem darum, ihr Standing innerhalb Europas zu verbessern und die Visumspflicht für türkische Bürger aufzuheben. Dass die Türkei dabei am längeren Hebel sitze, liege an der Uneinigkeit innerhalb der EU.

Günter Seufert im Gespräch mit Tobias Armbrüster | 08.03.2016
    Angela Merkel, Ahmet Davutoglu und Francois Hollande beim EU-Türkei-Gipfel im November 2015.
    Angela Merkel, Ahmet Davutoglu und Francois Hollande beim EU-Türkei-Gipfel im November 2015. (dpa / picture-alliance / Thierry Roge)
    Tobias Armbrüster: Die Türkei tritt innerhalb der EU zunehmend selbstbewusst auf. Das Land, das noch vor kurzem nur Bittsteller war, das sich immer wieder brüskieren lassen musste von den Partnern in der Europäischen Union, dieses Land hat auf einmal einige durchaus starke Argumente auf seiner Seite. Ich habe über die türkische Position heute Abend kurz vor dieser Sendung mit Günter Seufert gesprochen. Er ist Politikwissenschaftler und Türkei-Experte bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. - Schönen guten Abend, Herr Seufert.
    Günter Seufert: Guten Abend!
    Armbrüster: Herr Seufert, ist die Türkei der ganz große Gewinner dieser Flüchtlingskrise?
    Seufert: Das kann man schon sagen, wenn man nicht vergisst, dass die Türkei mit ihrer Syrien-Politik natürlich gescheitert ist und dass sie heute auch sehr viele Flüchtlinge - man spricht von 2,7 Millionen amtlicherseits - mittlerweile zu versorgen hat. Das heißt, was die Flüchtlingskrise an sich betrifft ist die Türkei natürlich auch Betroffene. Was ihr Verhältnis zu Europa betrifft, versucht sie im Augenblick, daraus natürlich Kapital zu schlagen.
    Armbrüster: Was genau ist denn das Kalkül der türkischen Führung hinter diesem Vorstoß, den wir da gestern in Brüssel verfolgt haben?
    Seufert: Ich denke, es geht um zweierlei. Es geht wirklich darum, dass die Türkei ihr Standing in Europa verbessern will, dass sie ihren Mitgliedschaftsprozess vorantreiben will. Das ist die große, die strategische Option. Die eher taktischen und kleineren Schritte sind natürlich die visafreie Reise. Die ist ganz wichtig für die Türkei. Aber genauso wichtig, denke ich, ist natürlich, dass sie auch ein Stück weit Flüchtlinge nach Europa entsenden kann und von daher ihre eigene Last ein Stück weit vermindert.
    Armbrüster: Was für eine Reaktion wäre denn aus Ankara zu erwarten, wenn die Partner in der EU jetzt sagen würden, sorry, das machen wir nicht, diesen Vorschlag können wir leider nicht gebrauchen?
    Seufert: Es kann dann schlimmstenfalls zu ähnlichen Szenen an der bulgarisch-türkischen Grenze kommen, die wir heute an der griechisch-mazedonischen Grenze haben. Bisher hat die Türkei ja verschiedene Versuche von Flüchtlingen in der Türkei, auch über Land über Kapikule nach Bulgarien einzureisen, weit vor der Grenze verhindert. Es kann gut sein, dass diese Verhinderungen dann nicht mehr passieren und dass wir ein ähnliches Bild dann auch an der Grenze von Bulgarien haben.
    Armbrüster: Das heißt, die Türkei setzt die Flüchtlinge ganz gezielt als Verhandlungsmasse ein?
    Flüchtlinge als Verhandlungsmasse
    Seufert: Das was ich gerade gesagt habe, muss das nicht heißen, sondern man kann auch einfach Leute laufen lassen. Man muss sie nicht schicken. Erdogan hat zwar mehrfach gedroht, man könne auch Flüchtlinge in Busse setzen und an der bulgarischen Grenze abliefern, aber es ist wohl schon so, dass die Türkei mit den Flüchtlingen pokert. Das sieht man daran, dass die Türkei im Dezember kurz nach dem letzten Gipfel am 29. November durchaus in der Lage war, die Fluchtbewegung in der Ägäis spürbar zu reduzieren, um zu zeigen, dass sie das kann, und dann aber wieder die Zügel locker gelassen hat, um eben ihre Verhandlungsposition nicht zu gefährden.
    Armbrüster: Wenn wir uns das jetzt vor Augen führen und dann gleichzeitig noch mal Revue passieren lassen, was wir sonst in den vergangenen Monaten aus der Türkei gehört haben, können wir dann sagen, die Türkei ist ein verlässlicher Verhandlungspartner?
    Seufert: Ich denke, das ist schwer mit Schwarz-Weiß oder Ja und Nein zu beantworten. Ich denke auch, was die Flüchtlingspolitik betrifft, was das Verhältnis zu Europa betrifft, auch zu den USA betrifft, dass es da natürlich sehr stark einen inneren Konflikt auch in der Türkei gibt, gerade wenn man sich vor Augen hält, dass die verschlechterten Beziehungen zu Europa, die verschlechterten Beziehungen zu den USA, die Wirtschaftsprobleme, natürlich die Probleme mit den Kurden natürlich sehr, sehr viel Unmut auch in den Reihen der Konservativen, die die AKP wählen, produziert hat. Von daher denke ich, dass, wenn wir jetzt ein Stück weit zu einer Kooperation mit der Türkei kämen, sich eher die moderaten Kräfte durchsetzen würden, weil sie wieder einen Anhaltspunkt, einen Anknüpfungspunkt zu Europa sehen. Wir dürfen ja nicht vergessen, dass es gerade die Jahre waren, in denen wir die Türkei eigentlich sich selbst überlassen haben, in denen diese verheerenden Rückschritte in Sachen Demokratie passiert sind.
    Armbrüster: Das heißt, Sie als jemand, der sich sehr gut auskennt mit den inneren Abläufen innerhalb der Türkei, Sie würden sagen, die EU sollte das machen? Sie sollte diesen Deal, der da gestern vorgeschlagen wurde, eingehen?
    "Die Türkei sitzt am längeren Hebel"
    Seufert: Ich sehe die Schwierigkeit, wenn ich ehrlich bin, eher aufseiten der EU. Weil wenn wir sehen, was bisher der Türkei doch mehr oder weniger fast zugesagt worden ist, oder doch in den Raum gestellt worden ist, Dinge wie Visaerleichterungen, Dinge wie Verteilung von Flüchtlingen, Kontingentflüchtlinge aufnehmen, wir sehen ja, wie schwer die EU sich bei diesen Schritten tut - auch wenn es nur darum geht, dass ein, zwei neue Kapitel im Beitrittsprozess eröffnet werden, sollen die ja noch lange nicht heißen, dass die Türkei eines Tages wirklich Mitglied wird -, dann sehen wir, wie schwer es ist, da in der EU Einigkeit herzustellen. Ich denke, solange die EU nicht in der Lage ist, mit einer Stimme in die eine oder andere Richtung mit der Türkei zu sprechen, so lange sitzt die Türkei eigentlich immer am längeren Hebel.
    Armbrüster: Die Zeit drängt ja jetzt ein bisschen. Der nächste Gipfel findet schon in wenigen Tagen statt. Wie groß sehen Sie die Chancen, dass es bis dahin eine Einigung gibt?
    Seufert: Ich sage Ihnen ganz ehrlich. Ich glaube eher, dass es innerhalb der EU nicht möglich sein wird, eine Einigung herzustellen, und dass von daher die EU noch weiter herumtaktiert und die Probleme eher noch größer werden.
    Armbrüster: Wie ist denn eigentlich die öffentliche Meinung in der Türkei? Gibt es dort auch diesen Unmut, den wir in Teilen von Deutschland, aber natürlich auch in vielen Teilen von Europa registriert haben, diesen Unmut angesichts von Hunderttausenden oder Millionen von Flüchtlingen?
    Unmut über "Gefeilsche"
    Seufert: Ja. Angesichts von 2,7 Millionen Flüchtlingen, muss man sagen. Es ist interessant, dass der Unmut in der Türkei sich eigentlich eher gegen Europa richtet in der öffentlichen Meinung als gegen die Flüchtlinge. Wir haben keine vergleichbare Anti-Flüchtlings-Stimmung, keine Übergriffe in großem Stil, so wie wir das hier in Deutschland haben, obwohl wir natürlich eine viel höhere Belastung haben. Wir haben aber einen großen Unmut darüber, über das Gefeilsche, wie es heißt in den türkischen Medien, und wie es heißt, dass man die Türkei letzten Endes zum Flüchtlingslager für Europa machen will. Dagegen richtet sich sehr großer Widerstand. Von daher, denke ich, ist es absolut notwendig, dass auch der türkischen Bevölkerung vermittelt wird, dass sie von einem solchen Deal etwas hat, nämlich Reisefreiheit und nämlich auch wie gesagt doch eine EU-Perspektive. Wenn das beides nicht kommt, dann sehe ich den Unmut in der Türkei Europa gegenüber auch in der Bevölkerung noch wachsen.
    Armbrüster: Wie groß ist denn eigentlich das Interesse noch in der Türkei an einem EU-Beitritt?
    Seufert: Wenn wir über die Jahre hinwegschauen, dann sehen wir, dass das sehr, sehr stark von der politischen Konjunktur immer abhängig ist. In dem Augenblick, wo es eine Perspektive gibt, steigen die Befürworterzahlen für die Mitgliedschaft in der EU. In den Zeiten, wo ewig kein Kapitel eröffnet wird, wo die Beziehungen schlechter werden, dann wendet sich die Bevölkerung auch ab. Es ist nicht so, dass wir da feste Werte haben. Früher am Anfang lagen die Werte bei über 75 Prozent. Mittlerweile sind sie runtergerutscht auf unter 50 Prozent. Aber das kann auch sehr schnell wieder steigen.
    Armbrüster: Und wenn Erdogan mit diesem Deal jetzt durchkommt, dann wäre er in der Türkei unsterblich?
    Seufert: Das hängt nicht von diesem Deal ab. Erdogan hat wie gesagt letztes Jahr die Präsidentschaftswahlen in der ersten Runde mit 52 Prozent gewonnen und er hat seit dieser Zeit eigentlich sogar noch mehr zugelegt. Er polarisiert die Gesellschaft sehr erfolgreich und er polarisiert sie auch gegen Europa. Von daher würden ein Scheitern dieses Deals und eine Verschlechterung der Beziehungen zur Türkei eigentlich Erdogan eher Auftrieb geben als ihn schwächen.
    Armbrüster: Hier bei uns im Deutschlandfunk war das Günter Seufert, Politikwissenschaftler und Türkei-Experte bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Vielen Dank, Herr Seufert, für Ihre Zeit heute Abend.
    Seufert: Keine Ursache.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.