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Verheugen (SPD) kritisiert EU-Rat
"Man hat die Wähler getäuscht und betrogen"

Dass der Europäische Rat das Spitzenkandidaten-Modell übergangen habe, verursache einen großen Schaden für die EU, sagte Ex-EU-Kommissar Günter Verheugen im Dlf. Die Demokratieverdrossenheit werde dadurch gesteigert. Auch könnte die EU auf eine Krise zwischen Rat und Parlament zusteuern.

Günter Verheugen im Gespräch mit Tobias Armbrüster | 04.07.2019
Günter Verheugen, ehemaliger Vizepräsident der EU-Kommission
"Der Zusammenhalt in der EU wird weiter geschwächt", sagt Günter Verheugen (imago stock&people)
Die Entscheidung des EU-Rats steigere Politikverdrossenheit der Wähler, sagte Verheugen im Dlf. "Der Schaden ist groß und die Folgen sind noch gar nicht absehbar". Die Zustimmung zur europäischen Idee werde dadurch zurückgehen.
Die EU könnte außerdem auf eine institutionelle Krise zusteuern. Ein lang anhaltender Konflikt zwischen Rat und Parlament sei nicht ausgeschlossen. "Wenn das Europäische Parlament seine Selbstachtung behalten will, kann es dieses Paket nicht unterstützen", so Verheugen."Ich habe dieses Parlament als sehr rigoros erlebt, wenn es um die eigenen Interessen und Machtansprüche geht."

Tobias Armbrüster: Viel Verstimmung, viel Verärgerung, viele sind schlicht und einfach sauer im Europaparlament nach den Beschlüssen der EU-Staats- und Regierungschefs. Das Spitzenkandidaten-Prinzip, das ist erst mal Geschichte. Eine neue Kommissionspräsidentin wurde da ganz ohne Absprache fast spontan aus dem Hut gezaubert. Viele Abgeordnete sagen, sie wollen da nicht mitmachen. Sie sind erbost. Ursula von der Leyen ist deshalb spontan nach Straßburg gereist, um die Wogen zu glätten, und heute folgen zur weiteren Schadensbegrenzung Jean-Claude Juncker und Donald Tusk – Diplomatie im Parlament also.
Am Telefon ist jetzt Günter Verheugen. Er war in seiner Brüsseler Zeit unter anderem Vizepräsident der EU-Kommission und außerdem EU-Erweiterungskommissar. Schönen guten Morgen!
Günter Verheugen: Guten Morgen, Herr Armbrüster.
Armbrüster: Herr Verheugen, wie groß ist der Schaden für Europa?
Verheugen: Wenn man sich etwas hätte ausdenken wollen, was die Demokratieverdrossenheit und die Politikverdrossenheit in Europa noch steigert, dann hätte man sich genau das ausdenken müssen, was jetzt geschehen ist. Der Schaden ist groß und die Folgen sind noch gar nicht absehbar.
"...dann hat man die Wähler getäuscht und betrogen"
Armbrüster: Was genau haben die Staats- und Regierungschefs falsch gemacht, Ihrer Meinung nach?
Verheugen: An erster Stelle ist es wohl so: Man muss dieses Spitzenkandidaten-Modell ja nicht mögen. Ich zum Beispiel mag es überhaupt nicht, habe es immer für eine Scheindemokratisierung gehalten. Aber wenn man der Wählerschaft verspricht, dass sie mit ihrer Stimmabgabe über die Person des künftigen Kommissionspräsidenten entscheidet, und es dann nicht hält, ja dann hat man die Wähler getäuscht und dann hat man sie betrogen, und dann wird die Zustimmung zu der europäischen Idee auf jeden Fall noch weiter zurückgehen.
Aber es ist nicht nur am Verfahren Kritik zu üben. Es ist ja leider auch das Ergebnis, das man mit großer Skepsis betrachten muss.
Armbrüster: Die Personalie Ursula von der Leyen?
Verheugen: Ja, das Gesamtpaket. Wir haben eben gehört, dass dieses Paket aus dem Hut gezaubert worden ist. Da war aber ein schlechter Zauberer am Werk, würde ich sagen. Erstens fragt man sich natürlich: Rennen wir jetzt auf eine institutionelle Krise zu? Gibt es einen lang anhaltenden Konflikt zwischen Rat und Parlament? Denn wenn das Europäische Parlament seine Selbstachtung behalten will, dann kann es dieses Paket nicht unterstützen. Dann muss es verlangen, dass jemand vorgeschlagen wird, der Spitzenkandidat war. Das werden wir noch sehen.
Das zweite ist: Steht dieses Tableau, das wir nun kennen, für Aufbruch, für Erneuerung, für eine neue Dynamik in der Europäischen Union? Und da ist die Antwort ja wohl ein klares Nein! Das sind alles Personen mit Verdiensten, ohne Frage, aber es sind Politveteranen, die für das Europa von gestern stehen, jedenfalls nicht für das, was wir brauchen, und es geht dabei gleichzeitig eine Hoffnung über die Wupper, nämlich dass wir in dem französischen Präsidenten Macron jemand hätten, der Europa auf neue Gleise stellen will. Denn er war ja nun ein Hauptverursacher dessen.
Darf ich noch ein drittes sagen? Dann bin ich auch fertig. Das dritte ist für mich fast das wichtigste. Das hängt mit meiner Vita zusammen. Es ist in dem ganzen Paket nicht ein einziger Repräsentant aus Ostmitteleuropa oder Südosteuropa, aus den sogenannten neuen Mitgliedsstaaten vertreten, und diese Frage ist nicht symbolisch. Repräsentanz auf der obersten Entscheidungsebene ist ein Zeichen für Gleichberechtigung. Das heißt, die Neuen werden vom Club der Mächtigen in der EU immer noch als Mitglieder zweiter Klasse behandelt. – Das ist der Gesamteindruck und ich finde, der ist verheerend.
"Parlament ist rigoros, wenn es um eigene Interessen geht"
Armbrüster: Herr Verheugen, Sie stellen mehrere Thesen auf, die man sicher alle hinterfragen kann. Ich will mal bei der einen anfangen. Glauben Sie tatsächlich, dass das EU-Parlament so mutig sein könnte und Ursula von der Leyen nicht wählt?
Verheugen: Ja, das glaube ich. Ich habe dieses Parlament als sehr rigoros erlebt, wenn es um die eigenen Interessen, um die eigenen Machtansprüche geht. Das hat es gemein mit der Kommission; die ist dann auch so. Bis in die jüngsten Tage hinein haben die Fraktionen gesagt, es muss einer sein, der als Spitzenkandidat aufgetreten ist. Wenn die Fraktionen jetzt sagen, der Ratspräsident, darüber steht Erklärungsbedarf, dann würde umgekehrt nach ihrer Zustimmung erst recht Erklärungsbedarf bestehen. Ich frage mich: Wenn es für den Deutschen Manfred Weber keine Mehrheit im Europaparlament gab, weshalb soll für die Deutsche Ursula von der Leyen plötzlich eine solche Mehrheit gefunden werden?
Das Foto zeigt Ursula von der Leyen. Sie beantwortet vor vielen Mikrofonen die Fragen von Reportern im Europäischen Parlament in Straßburg.
Verheugen: Warum plötzlich eine Mehrheit für von der Leyen? (dpa-Bildfunk / AP / /Jean-Francois Badias)
Armbrüster: Wenn sich das EU-Parlament jetzt hier so querstellt gegen den Europäischen Rat, dann hätte das ja durchaus aus EU-Sicht seine gute Seite. Es wäre ein gestärktes Europaparlament, das möglicherweise auch zeigt, dass es sich durchsetzen kann, wenn es denn dann einen Kandidaten wählt, der einer Mehrheit der Parlamentarier auch gefällt.
Verheugen: Ja. Das kann es aber nur, wenn es einen Vorschlag gibt. Das ist ja das Vertrackte an dem Verfahren. Aber ich stimme Ihnen zu. Wenn das Parlament auf seiner Position beharrt, dann entsteht eine institutionelle Krise, die am Ende nur behoben werden kann, wenn die Parlamentsrechte gestärkt werden. Das entspräche übrigens auch dem langfristigen Trend in der Europäischen Union. Der langfristige Trend in der EU ist ja nicht die Renationalisierung der Entscheidungen, wie wir sie jetzt erlebt haben, sondern der langfristige Trend ist ja eindeutig die Parlamentarisierung, nicht wahr. Wenn wir an das Europaparlament von 1979 denken und das von heute, da liegen ja Welten dazwischen, was die Möglichkeiten und die Rechte angeht.
Armbrüster: Ich glaube, auch da würden Ihnen viele widersprechen, die sagen, dass der Europäische Rat in den vergangenen Jahren viel zu viel Einfluss an sich gezogen hat. Aber das ist vielleicht eine eher akademische Debatte.
Verheugen: Ja, das schließt sich aber nicht aus.
"Man muss Klarheit schaffen"
Armbrüster: Herr Verheugen, ich möchte noch mal zurückkommen auf das Spitzenkandidaten-System. Da muss man ja festhalten: Die Staats- und Regierungschefs haben diesem System nie zugestimmt. Haben die Parlamentarier, hat das Parlament da einen Fehler gemacht, dass es einfach davon ausgegangen ist, dass dieses System allgemein akzeptiert wird?
Verheugen: Ja, da stimme ich Ihnen zu. Aber die Staats- und Regierungschefs haben in ihrer Eigenschaft als Parteivorsitzende selbstverständlich zugestimmt. Ohne deren Zustimmung wäre das vor fünf Jahren nicht in Gang gesetzt worden.
Ich habe es für einen Fehler gehalten, weil es nicht reicht, an einer einzigen Stellschraube zu drehen, und dann hat man auf europäischer Ebene eine parlamentarische Demokratie. Wenn man die haben will, dann muss man sehr viel mehr verändern, und man muss Klarheit schaffen. Man braucht klare Regeln. Was wir hier haben, ist eine sehr interpretierbare Regel, die das Parlament so interpretiert und der Rat so. Genützt hat es nichts. Ich glaube nicht daran, dass dieses Spitzenkandidaten-Modell bei der Mehrheit der Wählerinnen und Wähler wirklich großen Eindruck gemacht hat, aber es gibt eine erhebliche Zahl, bei denen es doch eine Rolle gespielt hat, und das sind diejenigen, die jetzt vor den Kopf gestoßen werden.
Armbrüster: Ist das nicht vielleicht die Lösung, dass man einfach sagt, so ist das nun mal, wenn 28 Personen um einen Tisch herumsitzen und vier wichtige Jobs untereinander klären müssen, diese Jobvergabe untereinander klären müssen. Da kommen möglicherweise Kompromisskandidaten raus, die vorher niemand auf dem Schirm hatte.
Verheugen: Ja, das ist ein ganz wichtiger Punkt. Dem stimme ich auch zu. Natürlich besteht europäische Politik darin, Kompromisse zu finden. Das Suchen und das Finden von Kompromissen ist der Kern der ganzen Sache und deshalb darf man das auch nicht runterreden. Dieses ganze Gerede und Geschreie, was ich jetzt mitkriege über sogenannte Hinterzimmerpolitik, da kann ich nur drüber lachen. Da regen sich jetzt manche über angebliche Hinterzimmerpolitik auf, die man vorwiegend in solchen findet. Die schärfsten Kritiker der Elche waren früher selber welche. Das ist nicht das Problem, das ist nicht die Kritik, dass die Staats- und Regierungschefs sich darum bemüht haben, eine Lösung zu finden. Meine Kritik zielt darauf, was bei dieser Lösung rausgekommen ist.
Armbrüster: Sie haben jetzt gesprochen von einem Schaden der EU-Institutionen, der hier die Folge sein könnte. Was genau könnte das sein? Was könnte da passieren? Wie sieht dieser Schaden aus?
Verheugen: Ich denke, der entscheidende Punkt ist, dass der Zusammenhalt in der Europäischen Union weiter geschwächt wird. Das ist ja ohnehin das Problem der letzten Jahre gewesen, und hier haben wir jetzt eine Situation, in der es einige wenige Gewinner, wenn überhaupt, aber eine ganze Reihe von Verlierern gibt, eine ganze Reihe von Enttäuschten. Und es setzt sich natürlich auch der Eindruck fest, dass wieder einmal Deutschland und Frankreich in trauter Einigkeit, die ja an sich selten geworden ist, den anderen gesagt haben, wo es langgeht. Und ich glaube nicht, dass das dem Zusammenhalt in unserer Gemeinschaft wirklich hilft.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.