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Versammlungsfreiheit in Russland
Die Menschen sollen abgeschreckt werden

Russland steht international wegen seiner Ukraine-Politik in der Kritik. Im Land hingegen hört man kaum kritische Stimmen. Putins Rückhalt in der Bevölkerung ist groß. Die Proteste in Russland sind aber auch deshalb gering, weil Widerstand schwierig und gefährlich geworden ist.

Von Gesine Dornblüth | 05.06.2014
    Russische Polizisten führen am 24. 2. 2014 vor einem Moskauer Gericht Demonstranten ab.
    Russische Polizisten führen am 24. 2. 2014 vor einem Moskauer Gericht Demonstranten ab. (picture alliance / dpa / Japaridze Mikhail)
    Ende Februar vor einem Moskauer Bezirksgericht. Im Gerichtssaal verkündet die Richterin das Strafmaß für sieben Kremlkritiker: mehrere Jahre Haft. 2012 hatten sie an einer Großdemonstration gegen Putins Amtseinführung teilgenommen. Hunderte Moskauer sind zum Gericht gekommen, um das Ende des umstrittenen Prozesses zu verfolgen. Der Saal ist viel zu klein. So sammeln sie sich auf der Straße. Die Staatsmacht ist vorbereitet. Hunderte Polizisten und Soldaten stehen schwer bewaffnet bereit, in den Seitenstraßen parken Gefangenentransporter. Die Urteilsverkündung hat noch nicht begonnen, da greifen Polizisten die ersten Menschen aus der Menge heraus und schleppen sie weg. Wahllos. Die Menge ruft: "Schande!"
    Insgesamt wurden in Moskau an diesem Tag mehr als 600 Menschen festgenommen. Die meisten mussten Geldstrafen zahlen. Für Denis Kriwoschejew, bei Amnesty International zuständig für Europa und Zentralasien, ein klarer Verstoß gegen die Versammlungsfreiheit.
    "Die Menschen müssen die Möglichkeit haben, auf bestimmte Ereignisse zu reagieren. Sie sind zum Gericht gekommen, um die Urteilsverkündung zu hören. Sie auseinanderzutreiben, war rechtswidrig."
    Amnesty International hat in den Monaten Februar und März zehn Protestaktionen in der russischen Hauptstadt gezählt, die Polizei löste sieben davon auf und nahm mehr als tausend friedliche Teilnehmer fest. Häufig untersagen die Behörden den Regierungsgegnern mit fadenscheinigen Begründungen ihre Aktionen, oder sie weisen ihnen Orte außerhalb des Stadtzentrums zu. Regierungsfreundliche Demonstranten hingegen dürfen regelmäßig durch die Stadtmitte ziehen.
    Unzufriedenen bleiben oft nur noch Einzelmahnwachen, um ihren Protest auszudrücken. Denn die müssen nicht von den Behörden genehmigt werden.
    Sommer vergangenen Jahres vor der Staatsduma. Die Abgeordneten stimmen über das im Ausland stark kritisierte Gesetz gegen sogenannte Homosexuellenpropaganda ab. Die Ärztin Olga Mazurowa steht mit einem Plakat auf dem Bürgersteig. Darauf der Hinweis: Tschaikowski war schwul. Neben ihr packt ein junger Mann ein weiteres Plakat aus.
    "Sekunde, ich muss mal eben weitergehen, sonst werden wir gleich festgenommen. Wir müssen 50 Meter voneinander entfernt stehen."
    Olga Mazurowa geht sogar noch weiter weg, es nützt nichts. Junge Gegendemonstranten entreißen ihr das Plakat, beschimpfen sie. Kurz darauf packen zwei Polizisten nicht die pöbelnden Jugendlichen, sondern die Ärztin und zerren sie weg. Der Gefangenentransporter steht schon bereit, sie verbringt mehrere Stunden bei der Polizei.
    Angesichts solcher Erfahrungen denken Regierungsgegner sich immer neue, phantasievolle, scheinbar harmlose Aktionen aus. Als zum Beispiel der unabhängige Internetsender Doschd TV, zu deutsch "Regen", akut von der Schließung bedroht war, gingen Dutzende Menschen mit Regenschirmen am Kreml spazieren. Die Journalistin Lena Kostjutschenko:
    "Alle Leute, die einen Regenschirm oder eine Zeitung in der Hand hatten, wurden festgenommen. In den Polizeiprotokollen hieß es, sie hätten einen Regenschirm aufgespannt, obwohl es in dem Moment nicht regnete."
    Das reichte für den Vorwurf eines angeblichen Verstoßes gegen das Versammlungsrecht.
    Die Duma will nun noch härter gegen Kritiker vorgehen. Sie diskutiert ein Gesetz, demzufolge Menschen, die wiederholt an nicht genehmigten Protestaktionen teilnehmen, nicht mehr nur mit Geldbußen belegt, sondern zu Haftstrafen verurteilt werden können. Der Entwurf hat die erste Lesung bereits passiert. Sergej Nikitin, Chef von Amnesty International in Russland, ist sich sicher, dass das Gesetz kommen wird.
    "Es gab bereits eine ganze Reihe von Gesetzesverschärfungen seit Putins Rückkehr in den Kreml. Diese wird sicher nicht die letzte sein. Sie soll die Menschen abschrecken. Sie werden sich nun zwei, drei Mal überlegen, ob sie an einer Versammlung teilnehmen."