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Vertreibungen nach 1945
Nach der Übertragung der Ostgebiete an Polen

Lange vor Kriegsende einigten sich die USA, Großbritannien und Russland auf die Oder-Neiße-Grenze als neue deutsche Ostgrenze. Sie markiert noch heute das Ende des deutschen Staatsgebiets zu Polen. Damals bedeutete sie für viele Polen und Deutsche vor allem eines: Vertreibung.

Von Otto Langels | 14.03.2020
Zahlreiche Kinder sind unter den Vertriebenen, die am 03.03.1950 aus polnischen Internierungslagern im Lager Friedland eintreffen. Obwohl die Aussiedlung von Deutschen aus den im Zweiten Weltkrieg besetzten Gebieten laut Potsdamer Abkommen "in geordneter und humaner Weise" organisiert werden sollte, glich sie in vielen Fällen einer überstürzten Vertreibung mit oft katastrophalen Folgen für die Vertriebenen. | Verwendung weltweit
Nachkriegszeit - Ankunft Vertriebener aus Polen in Friedland (picture alliance / dpa-Archiv)
"Kampfraum Frankfurt, unsere Stellungen an der Oder. Der Gauleiter von Berlin, Reichsminister Dr. Goebbels, verschafft sich einen persönlichen Eindruck von den Vorbereitungen zum Abwehrkampf. Entlang der Oder haben sich Grenadiere und MG-Trupps eingenistet."
März 1945: Reste der Wehrmacht, Einheiten der Waffen-SS und des Volkssturms rüsten sich zu einer der letzten Schlachten des Zweiten Weltkriegs. Währenddessen schafft die sowjetische Regierung weiter östlich bereits Fakten. Am 14. März überträgt sie die von der Roten Armee eroberten deutschen Gebiete östlich von Oder und Neiße an die provisorische Regierung Polens.
Damit wird das vollzogen, was sich auf der Konferenz von Teheran Ende 1943 abgezeichnet hatte. Dort hatten "die Großen Drei" der Anti-Hitler-Koalition, US-Präsident Franklin D. Roosevelt, der britische Premierminister Winston Churchill und der sowjetische Staatschef Josef Stalin, die Grenzen einer europäischen Nachkriegsordnung entworfen.
"Da wurde bereits ausdrücklich gesprochen von den polnischen Grenzpfählen an der Oder und Neiße, den polnischen Grenzen an der Ostsee. Damit wurde schon vorweggenommen, was von den Großen Drei zwar skizziert war, was aber im Jahr 1945 noch nicht von allen Seiten so gesehen und getragen wurde", erklärt der Osteuropa-Historiker Werner Benecke von der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder.
Die sowjetischen Eroberungen in Folge des Hitler-Stalin-Paktes vom August 1939 – darunter der gesamte Osten Polens –, stellten die Westalliierten in Teheran nicht mehr in Frage. Als Kompensation sollte Polen deutsche Gebiete östlich der Oder erhalten.
Vertreibung, um ethnische Konflikte zu vermeiden
Den Großmächten erschienen in geordneten Bahnen verlaufende Umsiedlungen als adäquates Mittel, um Konflikte mit ethnischen Minderheiten zu lösen und so eine stabile Grundlage für eine künftige Friedensordnung zu schaffen.
Winston Churchill 1944 im britischen Unterhaus: "Vertreibung ist, soweit wir in der Lage sind, es zu überschauen, das befriedigendste und dauerhafteste Mittel. Es wird keine Mischung der Bevölkerung geben, wodurch endlose Unannehmlichkeiten entstehen, wie zum Beispiel im Fall von Elsass-Lothringen."
Doch die Strategie ging so gut wie nie auf: Die Deutschen östlich von Oder und Neiße, die nicht vor der Roten Armee nach Westen geflohen waren oder vertrieben wurden, gerieten im März 1945 unter polnische Verwaltung und sahen sich unmittelbar danach Repressalien ausgesetzt.
Der amerikanische Historiker R.M. Douglas, Autor einer Studie über die Vertreibung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg: "Die Polen argumentierten, dass alle Deutschen Nazis wären, und wenn nicht, dass sie keinen Widerstand geleistet und von den Nazis profitiert hätten. Deshalb hätten sie ihre gerechte Strafe verdient. Aber wie wollten diejenigen, die dieses Vorgehen rechtfertigten, erklären, dass unter den Vertriebenen so viele Frauen und Kinder waren. Sogar Kinder wurden in die fürchterlichen Lager gesperrt, wo sie entsetzlich behandelt wurden und viele starben."
Die "Großen Drei" Joseph Stalin, Franklin D. Roosevelt und Winston Churchill (v.l.) auf der Teheraner Konferenz 1943, dem ersten von mehreren Treffen der Allianz gegen Hitler-Deutschland
Stalin, Roosevelt und Churchill (v.l.) auf der Teheraner Konferenz 1943, dem ersten von mehreren Treffen der Allianz gegen Hitler-Deutschland (picture alliance / CPA Media/Pictures From History)
Die sogenannten Volksdeutschen wurden nicht nur vertrieben, die polnische Miliz und die UB, der staatliche Sicherheitsdienst, nahmen im Frühjahr und Sommer 1945 Zehntausende fest, darunter Mitglieder der NSDAP und mutmaßliche Kriegsverbrecher, aber auch Unschuldige wie den 14-jährigen Gerhard Gruschka. Er war unehrenhaft aus dem deutschen Jungvolk ausgestoßen worden, kam aber dennoch in das Lager Schwientochlowitz-Zgoda in der Nähe von Kattowitz, eines von über 1.000 Internierungslagern mit insgesamt mehr als 100.000 Inhaftierten. Gerhard Gruschka war dort der Willkür der Aufseher und des Lagerkommandanten ausgesetzt: "Da gab es Fälle, dass er sich einen Schemel nahm und hat also dann mit der Sitzfläche, die ja relativ schwer ist, ein dickes Holz, hat dann also auf den Häftling, den er sich rausgeholt hat, eingeschlagen und dann ohne Rücksicht, was er traf."
Manche überlebten die Torturen nicht, viele starben an den Folgen mangelnder Ernährung und fehlender Hygiene. Zudem grassierten in den Notunterkünften Typhus-Epidemien: "Wir sahen jeden Morgen, während des Appells ist das meistens geschehen, dass eine Pferdefuhre von Gefangenen zur Leichenbaracke gezogen wurde. Und dann wurden die Gefangenen aufgeladen, die Toten der Nacht oder des vergangenen Tages. Und meine Erinnerung ist, ich kann keine Zahlen nennen, nur diese Fuhre war immer übervoll."
"Vertriebene", "Umsiedler", "Repatrianten"
Wie hoch die Zahl der Todesopfer in den polnischen Internierungslagern war, lässt sich nicht sagen. Tausende, wenn nicht gar Zehntausende kamen ums Leben. Der Historiker Werner Benecke: "Das alles ist nicht zu rechtfertigen, aber auch nicht zu trennen von dem, was die Besatzungsherrschaft während des Krieges in Polen angerichtet hatte und was viele Menschen vor Augen hatten und auch selbst erfahren hatten, nachdem sie der deutschen Besatzung lebend entkommen waren."
Doch es waren nicht allein Deutsche, die Bevölkerungsverschiebungen gigantischen Ausmaßes ausgesetzt waren.
"Ich bin ein "Zabugol", ein Repatriant aus der Region jenseits des Bugs", erzählt Jerzy Czabator. Er stammt aus einem kleinen Ort, der früher zu Polen gehörte, von 1939 bis 1941 unter sowjetischer, dann bis 1944 unter deutscher Herrschaft stand. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurde er Weißrussland und damit endgültig der Sowjetunion zugeschlagen. Jerzy Czabator musste mit seiner Familie Ende 1945 eine Reise vom Bug bis an die Oder antreten.
"Ich habe mehr als 1.000 Kilometer zurückgelegt, um hierher zu gelangen. Mama, Papa, ich, meine drei Brüder und meine Schwester, wir wohnten in Nagorna. Unser Dorf lag sechs Kilometer von der Grenze zu Russland entfernt. Bis 1939 lebten wir dort in aller Ruhe. Im Dezember 1945 haben wir dann eine klapprige Kuh, Ziegen, Heu und ein paar Kleinigkeiten gepackt. Man hat uns in die 14 Kilometer entfernte Stadt Kleck gebracht zum Zug, in so eine Art Güterwaggon. Klitschnass saßen wir im Waggon, und der Zug fuhr los. Wir sind dann immer weitergefahren und so kamen wir nach Gubin. Da hat uns niemand begrüßt; der Lokführer rief: 'Weiter fährt der Zug nicht mehr!' Und damit war die Sache für ihn erledigt."
Offiziell hießen sie Repatrianten, Heimkehrer, um damit einen jahrhundertealten, allerdings umstrittenen polnischen Anspruch auf die Territorien östlich von Oder und Neiße zu begründen. "In Westdeutschland sprach man von Vertriebenen, in der DDR sprach man von Umsiedlern, in der Volksrepublik sprach man von Repatrianten; eine völlig andere Perspektive. Sie kehren zurück in die Patria, also ins Vaterland, ein Prozess, der übrigens erst 1956 zum Abschluss kommt."
"Ordnungsgemäßer und humaner" Bevölkerungstransfer
Auch in der Familie von Jan Piskorski gab es Vertriebene. Piskorski, Professor für vergleichende Geschichte Europas an der Universität Stettin, nennt sie "Verjagte". "In der Familie gibt es ziemlich viele Leute, die man als Verjagte bezeichnen kann. In Deutschland und Polen ist das eigentlich normal, dass man Verjagte in der Familie hat. Kriege haben die ganze Struktur von Deutschland und Polen zerstört. Ein Drittel der Polen wurde übersiedelt, es entstand ein total neuer Staat und mit neuer gesellschaftlicher Struktur."
Der Bevölkerungstransfer sollte "ordnungsgemäß und human" verlaufen, so hatten es die drei Siegermächte auf der Potsdamer Konferenz im Sommer 1945 beschlossen. Doch die Vorstellung der Alliierten, größere Zwangsumsiedlungen reibungslos durchführen zu können, nennt der Historiker R.M. Douglas zynisch und eine atemberaubende Selbsttäuschung.
Globus aus Puzzleteilen, im Ausschnitt zu sehen ist Europa mit seinen heutigen Grenzen
Nach dem Neuziehen der Grenzen 1945 stellten sich die Siegermächte einen "ordnungsgemäßen und humanen" Bevölkerungstransfer aus den Ostgebieten vor (imago)
"Die Leiden, die die Umsiedlungen eigentlich verhindern sollten, waren so schlimm, dass sie nur vom Leiden während des Zweiten Weltkriegs übertroffen wurden. Es ist höchst gefährlich, bestimmte Bevölkerungsgruppen, eine bestimmte Kategorie von Menschen, als absolut rechtlos zu behandeln."
Aus dem Osten vertrieben, kam Werner Sepp 1946 mit seiner Familie nach Geretsried, ein südlich von München gelegenes Barackenlager, das zuvor einem Rüstungsbetrieb als Unterkunft gedient hatte. "Wir wussten, es geht nach Bayern, das war aber auch alles. Dann wurden wir am Sonntagmorgen hier um acht Uhr ausgeladen und ich seh' meine Großmutter noch auf ihrer Kiste sitzen und sagen: 'Da sollen wir wohnen?' Das war also dieses Barackenlager, hatte doppelten Stacheldraht drumherum, die Baracken waren - zum Teil die Fenster rausgerissen, die Türen rausgerissen – in einem absolut desolaten Zustand."
Rund 14 Millionen Flüchtlinge und Vertriebene kamen in die spätere Bundesrepublik und DDR. Viele mussten nicht nur jahrelang in provisorischen Unterkünften wohnen, ihnen schlugen auch Abwehr und Verachtung entgegen. In den Augen ihrer Landsleute zwischen Rhein und Oder waren sie "dahergelaufenes Pack", "Gesocks aus dem Osten", "Polacken".
Ein Schmähgebet, das 1946 in Schwaben in Umlauf war: "Herrgott im Himmel, sieh unsere Not, wir Bauern haben kein Fett und kein Brot. Flüchtlinge fressen sich dick und fett und stehlen uns unser letztes Bett. Wir verhungern und leiden große Pein. Herrgott, schick das Gesindel heim."
Unwillkommen auch am neuen Ort
In einem Buch mit dem programmatischen Titel "Kalte Heimat" hat der Berliner Historiker Andreas Kossert beschrieben, wie feindselig Flüchtlinge nach 1945 aufgenommen wurden. In Schleswig-Holstein z.B. hätten Politiker nahtlos an nationalsozialistisches Gedankengut angeknüpft.
"Wo einheimische Parteien zum Teil wirklich gesagt haben: Die ostpreußischen Flüchtlinge sind eine "Mulattenzucht", sie gehören nicht zu unserer germanischen blonden Rasse und gefährden unsere schleswig-holsteinische Eigenart. Und es gibt auch ähnliche Beispiele in Süddeutschland, deutschlandweit von Bayern bis nach Schleswig-Holstein, aber auch in der Sowjetischen Besatzungszone, eine Ausgrenzung, eine Diskriminierung in einem Ausmaß, die ich nie erwartet hätte von einem Volk, was ja gemeinsam den Krieg begonnen hat und auch gemeinsam verloren hat."
Die Militärverwaltungen der Westalliierten waren gezwungen, Wohnraum zu requirieren und Zwangseinweisungen vorzunehmen, weil die einheimische Bevölkerung nicht freiwillig zusammenrücken wollte. Mancherorts bezogen die Vertriebenen unter dem Schutz von Maschinenpistolen ihre neuen Quartiere.
Bei Kriegsende war Herta Mahlo 13 Jahre alt, als sie mit ihrer Mutter und ihrer fünfjährigen Schwester in das polnische Arbeitslager Potulice eingesperrt wurde. Sie musste vier Jahre Zwangsarbeit auf umliegenden Gütern verrichten, bis sie im Juli 1949 das Lager Richtung Thüringen verlassen konnte. "Und dann sind wir tatsächlich in Transporte gekommen, in Viehwagen; richtig schlimm. Da wurden wir – werde ich nie vergessen – begrüßt, was wollt ihr "Polacken" denn, werden ja immer noch mehr. Was wollt ihr hier? Das war schrecklich. Ich hab' ja unterschreiben müssen, dass wir nie über unser Lager sprechen, als wir dort weggingen."
"In der DDR zum Schweigen verpflichtet"
Bis 1989 war das Thema Flucht und Vertreibung in Ostdeutschland tabu, denn es widersprach aus Sicht der DDR-Führung den freundschaftlichen Beziehungen zu den sogenannten sozialistischen Bruderstaaten. Andreas Kossert spricht von einer radikalen Zwangsassimilation. "In der DDR wurde das Problem ideologisch relativ bald gelöst. Man hat einfach das Wort Vertreibung gemieden, man hat dafür den Begriff Umsiedler gewählt; und auch dieses Problem der Umsiedler 1950 offiziell per Dekret für erledigt erklärt. Und fortan waren die 4,3 Millionen Vertriebenen in der DDR zum Schweigen verpflichtet."
Damit erging es den Ostdeutschen nicht anders als den Repatrianten in Polen. Jan Piskorski: "Sie waren in gewissem Sinn verboten, besonders wenn man über die Polen aus dem Osten sprechen wollte, das Thema war bis 1989 oder jedenfalls bis zur Solidarnosc-Zeit, also bis 1980, tabu."
Mit der Oder-Neiße als Ostgrenze wollte sich die SED-Führung zunächst nicht abfinden. Doch in Stalins Machtbereich waren Konflikte unter den Verbündeten nicht vorgesehen, und so unterzeichneten die Regierungschefs der DDR und Polens am 6. Juli 1950 das Görlitzer Abkommen - einen Vertrag mit der Oder-Neiße-Linie als unantastbarer Freundschaftsgrenze, so DDR-Ministerpräsident Otto Grotewohl. "Diese Grenze ist die Friedensgrenze, weil sie den Kriegstreibern der Welt in Zukunft nicht mehr erlaubt, die Polen und die Deutschen gegeneinander zu hetzen."
In der Bundesrepublik betonten dagegen führende Politiker wie Bundeskanzler Konrad Adenauer, CDU, dass Ost- und Westpreußen, Pommern und Schlesien wieder in ein vereintes Deutschland zurückfinden würden. "Wir können daher unter keinen Umständen uns abfinden mit einer von Sowjetrussland und Polen einseitig vorgenommenen Abtrennung dieser Gebiete."
Zunächst hatten die Alliierten in Westdeutschland keine Landsmannschaften und Vertriebenenverbände zugelassen, das Verbot aber schon nach wenigen Jahren gelockert. Stuttgart, August 1950: Auf einer Kundgebung wird die Charta der Heimatvertriebenen feierlich verkündet: "Wir Heimatvertriebenen verzichten auf Rache und Vergeltung. Dieser Entschluss ist uns ernst und heilig im Gedenken an das unendliche Leid, wie es im Besonderen das letzte Jahrzehnt über die Menschheit gebracht hat."
Vertriebenenverbände als wichtige Wählergruppe
Die Vertriebenenverbände mit ihren Millionen Anhängern wurden zu einer einflussrechen Wählergruppe, die Druck auf die politischen Parteien ausübte. Das erklärte Ziel: kein Verzicht auf die verlorenen Gebiete im Osten. Die persönlichen Schicksale der Flüchtlinge hätten die Verbände dabei für ihre politischen Forderungen instrumentalisiert, meint der Osteuropa-Historiker Karl Schlögel: "Damit wurden Wahlen gewonnen, damit wurde Politik gemacht. Damit wurde eine Politik der Abgrenzung, der Blockade, eine Politik des Sich-Verweigerns, eine Politik des Nicht-Anerkennens betrieben. Da ging es um politische Programme, um einen Ton der Rechthaberei, um flammende Reden und Bekenntnisse."
Letztendlich aber war die Integration eine Erfolgsgeschichte. Die Vertriebenen trugen als willkommene Arbeitskräfte erheblich zum Aufschwung im Wirtschaftswunder-Deutschland bei und waren maßgebliche Faktoren, die verkrusteten konfessionellen und sozialen Strukturen aufzubrechen und zu modernisieren.
Blick über die Waldbühne in Berlin am 05.08.1951. In Anwesenheit des Vizekanzlers Dr. Franz Blücher, sowie des Regierenden Bürgermeister Prof. Ernst Reuter, des Bundesbevollmächtigten Dr. Heinrich Vockel und zahlreicher anderer Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft und Kultur begingen über 15 000 Heimatvertriebene am 05.08.1951 in der Berliner Waldbühne, die mit trauerumflorten Fahnen der besetzten Ostgebiete geschmückt waren, den "Tag der Heimat". | Verwendung weltweit
1951 kamen über 15.000 Heimatvertriebene zum "Tag der Heimat" an der Berliner Waldbühne (picture alliance / dpa)
Je mehr sich die Vertriebenen in die westdeutsche Gesellschaft integrierten, umso fragwürdiger wurde aber der formelhaft wiederholte Anspruch auf die verlorene Heimat jenseits von Oder und Neiße. Werner Benecke: "Von Brandt stammt ja das berühmte Zitat: Es ist nichts verloren gegeben, was nicht längst verloren war. Und das ist tatsächlich eine Einsicht dessen, dass die Bundesrepublik, auch wenn sie in ihren Schulatlanten noch an Oder und Neiße eine Strichellinie eindruckte, eigentlich überhaupt nichts gegen das tun konnte, was sich faktisch vollzogen hatte."
Daher entschloss sich die erste sozialdemokratisch geführte Bundesregierung unter Willy Brandt im Jahr 1969, eine neue Ostpolitik einzuleiten. "Wandel durch Annäherung" lautete die bekannte Formel, sich dem Osten zuzuwenden und die politischen Realitäten anzuerkennen.
"Wir wollen ein Volk der guten Nachbarn sein und werden; im Innern und nach außen", so Willy Brandt in seiner Regierungserklärung vom Oktober 1969. Ein gutes Jahr später, im Dezember 1970, besuchte der Kanzler Polen, um den Warschauer Vertrag zu unterzeichnen, mit dem die Bundesrepublik die Oder-Neiße-Linie als Westgrenze Polens anerkannte. Am Morgen des 7. Dezember setzte Brandt mit seinem historischen Kniefall am Ehrenmal für die Toten des Warschauer Ghettos ein Zeichen für die Aussöhnung zwischen beiden Staaten.
"Der Kanzler schritt langsam auf das Denkmal zu, und es brannten zwei Pylonen rechts und links. Und als der Kanzler dann vor dem Denkmal stand, fiel er, ja man muss es wirklich so sagen, fiel er plötzlich auf die Knie. Und niemand konnte sich diesem Augenblick entziehen."
Größte Zwangsumsiedlung der Menschheitsgeschichte
Was damals niemand für möglich hielt: Knapp 20 Jahre später fiel die Berliner Mauer, das sowjetische Imperium brach zusammen, die Deutschen in Ost und West vollzogen die Wiedervereinigung, und Deutschland und Polen schlossen Freundschafts-Verträge, in denen sie die Oder-Neiße-Grenze als unverletzliche Staatsgrenze bestätigten.
Rund 80 Millionen Menschen waren im 20. Jahrhundert in Europa Opfer von Flucht und Vertreibung. Die Bevölkerungsverschiebungen nach dem Zweiten Weltkrieg nennen Historiker die größte Zwangsumsiedlung der Menschheitsgeschichte. Dann folgten Jahrzehnte der Sesshaftigkeit und Stabilität, bis zuerst in den 1990er-Jahren und dann erneut 2015 Hunderttausende Flüchtlinge aus Ex-Jugoslawien und Syrien nach Deutschland kamen. Die heutigen Bilder von der türkisch-griechischen Grenze oder der Insel Lesbos zeigen, dass die ruhigen Jahre nicht unbedingt der Normalfall sind.
Der Historiker Karl Schlögel: "Ich habe den Eindruck, dass wir dabei sind zu verstehen, dass diese 50 Jahre der Beruhigung und der Sedierung und des Platznehmens und des Sitzens, dass das vielleicht eher die Ausnahme gewesen ist und dass gewissermaßen wir uns wieder daran gewöhnen, dass alles doch in Bewegung ist."
(*) Die Dachzeile des Beitrags wurde korrigiert.