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Vielfältige Ursachen

"Gesundheitserziehung zu einer gesunden Ernährung müsste spätestens im Kindergarten anfangen. Alles andere ist zu spät." Kinderarzt Detlev Geiß befürchtet erhebliche Konsequenzen für junge Menschen und das Gesundheitssystem aufgrund falscher Ernährung.

Detlev Geiß im Gespräch mit Jasper Barenberg |
    Jasper Barenberg: Sie können nicht mehr richtig laufen, sie haben auch gesundheitliche Probleme, sie werden von anderen Kindern gehänselt – dicke Kinder, sie haben es schwer. Und doch gibt es immer mehr von ihnen. Kinderärzte schlagen deshalb Alarm. Auf einem Kongress von 3.000 Fachleuten in Potsdam steht auch dieses Thema auf der Tagesordnung. Wir wollen darüber mit Detlev Geiß sprechen, Kinderarzt im Kölner Stadtteil Chorweiler. Er ist jetzt am Telefon. Schönen guten Tag, Herr Geiß.

    Detlev Geiß: Guten Tag, ich höre Sie.

    Barenberg: Herr Geiß, Übergewicht bei Kindern, wie erleben Sie dieses Thema in Ihrem Alltag, in Ihrer Praxis?

    Geiß: Dieses Thema brennt mir schon seit vielen Jahren unter den Nägeln, seit ich erkannt habe, dass übergewichtige Kinder irgendwann übergewichtige Erwachsene sein werden mit vielfältigen Krankheitsproblemen, und schon vor über zehn Jahren habe ich versucht, hier in unserer Praxis auf die Eltern einzuwirken, dass sie eben ihre Kinder nicht so überfüttern, dass sie übergewichtig werden. Gott sei Dank (leider Gott sei Dank) ist es inzwischen auch das Thema von großen Kongressen geworden, für meine Begriffe viel zu spät, denn wir hätten schon vor zehn, 15 Jahren sehen können, was da für ein Tsunami auf unser Gesundheitswesen losrollt.

    Barenberg: Wieso ist das so, Herr Geiß? Wieso haben Eltern nicht das richtige Händchen, wenn es um die Ernährung ihrer Kinder geht?

    Geiß: Da gibt es natürlich vielfältige Ursachen. Zunächst mal: wir essen gerne süß, das ist unsere menschliche Natur, und schon früher haben sich Menschen um Süßes bemüht, auch wenn sie es unter großen Schmerzen den Bienen erst entreißen mussten. Früher war Zucker ein teueres Gut. Noch in meiner Jugend mussten sich drei Kinder eine Tafel Schokolade teilen, das ist inzwischen anders geworden. Süßes ist verfügbar, Süßes ist billig, und viele unserer Zuwanderer kommen auch aus armen Ländern und freuen sich natürlich, dass sie jetzt den Kindern alles, was die Kinder gerne mögen, auch unbegrenzt geben können.
    Dazu kommt, dass Kinder im Kleinkindesalter deutlich schmaler erscheinen, als sie es bei Geburt waren. Das erschreckt die Menschen und sie meinen dann, sie müssten diese Kinder dann so zufüttern, dass sie wieder das gleiche Größe-Gewicht-Verhältnis haben wie als Neugeborenes. Das führt dazu, dass sie dann als Jugendliche übergewichtig sind, und dieses Übergewicht verlieren sie praktisch niemals wieder in ihrem Leben, es sei denn unter unmenschlichen Anstrengungen.

    Barenberg: Herr Geiß, jetzt sagen die Fachleute in Potsdam, Deutschland sei inzwischen schon Spitzenreiter in Europa und den USA dicht auf den Fersen. Haben Sie auch den Eindruck, dass wir es mit einem gravierenden Problem zu tun haben?

    Geiß: Es ist ein Problem, was immer noch schlimmer werden wird, denn diese Jugendlichen sind ja noch nicht krank, die drohen ja bloß, krank zu werden. Und ich befürchte, dass in allzu kurzer Zeit wirklich ein Tsunami auf uns zukommt, weil diese Jugendlichen dann junge Erwachsene werden, und ich kenne schon 30-Jährige mit einer Diabetes mellitus, sprich Zuckererkrankung, die jetzt natürlich das Gesundheitssystem schon mit 30 Jahren erheblich in Anspruch nehmen.

    Barenberg: Wer ist, Herr Geiß, gefragt, in erster Linie gefragt, wenn es darum geht, gegenzusteuern?

    Geiß: Das ist eine gesellschaftliche Aufgabe. Wir als Kinderärzte können natürlich den Finger in die Wunde legen, aber wir können natürlich nicht nach Hause gehen. Im Werbefernsehen gibt es ja so schöne Werbung wie "so wertvoll wie ein kleines Steak", man wirbt aber für Zucker und Schokolade. Man wirbt für Zuckerbonbons, überall wird in unserer Bedarfdeckungsgesellschaft für solche Produkte geworben, und dem können wir als Kinderärzte nur wenig entgegenstellen. Ich meine, diese Gesundheitserziehung zu einer gesunden Ernährung müsste spätestens im Kindergarten anfangen. Alles andere ist viel zu spät. Die ganzen Programme für zwölf- und zehnjährige, an denen wir ja eifrig teilnehmen, ich auch, sind eigentlich schon ziemlich erfolglos.

    Barenberg: Detlev Geiß, Kinderarzt im Kölner Stadtteil Chorweiler, über das Problem mit dicken Kindern. Vielen Dank für dieses Gespräch, Herr Geiß.

    Geiß: Sehr gerne!