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Vietnamkrieg
Vor 50 Jahren: Das Massaker von My Lai

Es war das schlimmste Massaker in der Geschichte der US-Armee. Vor 50 Jahren, am 16. März 1968, löschte eine Kampfeinheit ein ganzes Dorf aus. My Lai wurde zum Symbol für den Horror des Vietnamkriegs - und die Aufarbeitung zum Skandal.

Von Holger Senzel | 15.03.2018
    The statue depicting victims of the massacre at the Son My memorial. Foto: Bennett Murray/dpa
    Das Denkmal für die Opfer des Masskers von My Lai (dpa)
    "Onkel Ho ist immer in unserem Herzen", steht auf dem Banner über der Straße zur Gedenkstätte My Lai. Ho Chi Minh wird im sozialistischen Vietnam verehrt wie ein Heiliger. Blauuniformierte Schulkinder mit roten Pioniertüchern sind auf Fahrrädern unterwegs. Bauern mit Strohhüten pflügen Reisfelder mit Wasserbüffeln, Kokospalmen säumen den Straßenrand - eine ländliche Idylle. Vom Dorf My Lai selbst stehen nur noch die Grundmauern. Pham Thi Thuan - eine kleine, gebeugte Frau von 84 Jahren - deutet auf die steinernen Umrisse im üppig wuchernden Gras. Hier hat sie gewohnt vor 50 Jahren.
    "Ich bin sehr früh aufgewacht an diesem Tag, habe Feuer gemacht und Wasser aufgesetzt - dann hörte ich die Hubschrauber. Viele Hubschrauber. Wir haben uns versteckt, aber Angst hatten wir nicht. Ich dachte, sie werden unsere Häuser durchsuchen, vermutlich unser Vieh erschießen und wieder verschwinden, wie immer."
    Die 80-jährige Pham Thi Thuan, Überlebende des Massakers von My Lai. Foto: Bennett Murray/dpa | Verwendung weltweit
    Die 84-jährige Pham Thi Thuan, überlebte das Massakers von My Lai, weil sie unter ihre erschossene Schwester fiel. (dpa)
    Pinkville nennen die Amerikaner das Terrain, es ist rosa auf den Militärkarten. Die Männer der Charlie-Kompanie sollen Vietcong-Kämpfer, nordvietnamesische Kommunisten, aufspüren an diesem schwülheißen Märzmorgen 1968. Die Amerikaner sind junge Rekruten, Anfang 20. Am Tag zuvor starb der erste von ihnen durch Kugeln eines unsichtbaren Feindes.
    Sie sind frustriert, verängstigt und dürsten nach Rache. Geführt vom schwachen 24-jährigen Leutnant Willliam Calley, der unbedingt seinem Chef, Captain Medina, gefallen will. Ein Eisenfresser, wie es heißt, der die Männer in der Einsatzbesprechung noch angefeuert hat, erinnern sich beteiligte GIs:
    "Unser Captain Medina sagte uns: Ihr geht da jetzt rein, brennt alles nieder und tötet jeden: Frauen, Kinder, Babies, Kühe, Katzen, alles. Als wir aus den Hubschraubern heraussprangen, haben wir sofort angefangen zu schießen."
    "Es lief komplett aus dem Ruder"
    Als die C-Companie das Dorf erreicht, sind die Soldaten irritiert. Statt schwer bewaffneten nordvietnamesischen Kämpfern begegnen sie Frauen, Kindern und alten Männern beim Frühstück. Das müssen Vietcong sein, ruft einer der GIs trotzdem, Schüsse fallen, ein Dorfbewohner wird getroffen.
    "Als der erste Zivilist erschossen wurde, war es zu spät. Wer immer diesen Schuss abgefeuert hat, danach geriet alles außer Kontrolle. Das war nur noch: Schieß, schieß – auf alles, was sich bewegt hat. Jemand kam aus einer Hütte - bäng, tot. Es lief komplett aus dem Ruder."
    50 Jahre später schreitet ein stämmiger Mann zielsicher über die schlammigen Wegen zwischen den Mauerresten der Gedenkstätte My Lai. Es regnet in Strömen, der Boden dampft in der schwülen Hitze. Vor der Ruine seines Elternhauses bleibt Phan Tanh Cong stehen. Elf Jahre alt war er an dem Tag, der seine Kindheit und fröhliche Unbekümmertheit für immer beendete.
    Phan Tanh Cong war elf Jahre alt, als die US-Amerikaner sein Dorf My Lai abschlachteten. Foto: Bennett Murray/dpa | Verwendung weltweit
    Phan Tanh Cong war elf Jahre alt, als die US-Amerikaner sein Dorf abschlachteten. (dpa)
    "Wir saßen in der Küche, als die Amerikaner hereinstürmten. Wir waren sechs in meiner Familie. Sie schrien VC, VC, also Vietcong, und stellten uns an der Wand auf. Dann fingen sie sofort an zu schießen. Ich fiel mit den anderen um, aber ich war nicht getroffen. Die Leichen meiner Eltern und Geschwister lagen über mir. Und die Amerikaner hielten mich wohl auch für tot, deshalb habe ich überlebt. Ich fühle noch heute den Horror. Meine Brüder und meine Schwester - zwei, vier und sechs Jahre alt – wie können die Vietcong sein?"
    Etwa 170 Frauen mit ihren Kindern exekutiert
    Heute ist der 61-jährige Direktor der My Lai-Gedenkstätte. Die Erinnerung an das Verbrechen zu bewahren - das ist seine Lebensaufgabe. Er hat die Geschichte dieses 16. März schon oft erzählt, trotzdem bekommt er immer wieder feuchte Augen.
    "Sie haben geschrieen und die Leute zusammengetrieben, mehr als Hundert allein vor Mr. Nuos Haus. Dann haben sie angefangen zu schießen und sie alle getötet. 15 Frauen haben sie auf die Felder vor dem Dorf gezerrt und sie vergewaltigt. Ich höre noch heute die Schreie. Dann haben sie die auch getötet. Einer schwangeren Frau haben sie mit dem Bajonett den Bauch aufgeschlitzt. Andere haben die restlichen Häuser durchsucht und alle erschossen, die sie antrafen. Auch unser Vieh haben sie getötet und dann die Häuser in Brand gesetzt."
    Etwa 170 Frauen mit ihren Kindern treiben die Soldaten der Charlie-Kompanie zu den Wassergräben, stellen sie dort auf in einer Reihe. Die 84-jährige Pham Thi Thuan hat es noch heute vor Augen, als wäre es gestern gewesen.
    Der Graben in My Lai, wo 164 Menschen erschossen und entsorgt wurden. Foto: Bennett Murray/dpa | Verwendung weltweit
    Der Graben in My Lai, wo etwa 170 Menschen erschossen und entsorgt wurden. (dpa / Bennett Murray)
    "Wir mussten aufstehen und uns wieder setzen, aufstehen, setzen. Dreimal. Dann haben sie geschossen. Auf den Kopf, den Bauch, überall hin. Alle sind umgefallen. Viele Frauen hatten Kinder dabei. Meine Schwester ist auf mich gefallen, deshalb habe ich überlebt. Ich dachte, ich wäre tödlich verletzt, weil da überall Blut war, so viel Blut - aber es war nicht meins. Ich war begraben von Leichen. Und dann haben sie wieder geschossen und dann - nach ein paar Minuten - ein drittes Mal."
    Begraben unter Leichen
    Vier Stunden dauert das Morden. Aber das weiß Pham Thi Thuan nicht in ihrem Wasserkanal, begraben unter Leichen, bedeckt vom Blut ihrer Familie. Für sie ist es eine Ewigkeit.
    "Ich weiß nicht, wie lange ich da lag. Sehr lang, weil ich so große Angst hatte. Dann habe ich mich durch all die toten Körper nach oben gekämpft. Da waren noch ein paar andere, die überlebt haben, und wir sind einfach nur gerannt. Ein paar Amerikaner haben uns hinterhergeschossen, und die Frau neben mir - sie hatte auch ihr Kind am Arm - fiel zu Boden. Dann sah ich wieder einen Hubschrauber, und ich dachte, jetzt ist es aus – aber das Schießen hörte auf."
    Oberstleutnant William L. Calley am 14. November 1969 in Fort Benning auf dem Weg zu einer Untersuchung. In My Lai, einem Dorf in Südvietnam, haben amerikanische Soldaten am 16. März 1968 mindestens 400 Zivilisten, Frauen und Kinder niedergemetzelt. Das Kriegsgericht machte nur William L. Calley, den zuständigen Einsatzleiter, für das Massaker verantwortlich. Am 31. Mai 1971 wurde Calley wegen erwiesenen Mordes in 22 Fällen von einem Krieggericht zu einer lebenslänglichen Zuchthausstrafe veruteilt. Präsident Nixon begnadigte den My-Lai-Mörder kaum drei Tage nach der Urteilsverkündung bis auf weiteres zu Hausarrest, dann wurde sein Urteil zunächst in 20 Jahre, dann in zehn Jahre Freiheitsstrafe umgewandelt. Im September 1974 hob ein ordentliches Gericht das Kriegsgerichtsurteil ganz auf. |
    US-Oberstleutnant William L. Calley (picture-alliance / dpa)
    Es ist der Moment, als Leutnant Hugh Thompson mit seinem Hubschrauber landet. Auf dem Rückweg von einem Patrouillenflug hat er Leichen von Zivilisten gesehen. Der Spielfilm "My Lai 4" gibt das Gespräch zwischen Thompson und Calley fast wörtlich wieder. "Was ist hier los, Leutnant", will der Hubschrauberpilot von Calley wissen.
    "Das ist meine Angelegenheit", sagt Calley. "Ich befolge bloß Befehle."
    "Befehle, wessen Befehle?"
    "Befehle bloß."
    "Aber das sind Menschen, unbewaffnete Zivilisten, Sir!"
    "Pass auf Thompson, das ist meine Angelegenheit hier. Ich habe das Kommando. Das geht dich nichts an. Du gehst jetzt mal lieber zurück in deinen Hubschrauber und kümmerst dich um deinen eigenen Kram."
    "Das letzte Wort darüber ist noch nicht gesprochen", entgegnet Thompson.
    Hugh Thomson wird zum Helden von My Lai
    Er geht zurück zum Hubschrauber und befiehlt seinem Bordschützen, auf die Amerikaner zu schießen, falls die weiter morden.
    "Ich war mir darüber im Klaren, dass ich den Rest meines Lebens im Gefängnis verbringen würde, wenn ich amerikanische Soldaten erschießen lasse. Aber ich hätte es getan, um weitere Morde zu verhindern."
    Aber was soll er tun mit den verängstigten Überlebenden? In seinem Hubschrauber ist kein Platz für Passagiere. Doch wenn er sie zurücklässt - davon ist der Pilot überzeugt -, werden Calleys Leute sie auch erschießen. Thompson funkt einen alten Fliegerkumpel an, bittet: "Du musst mir einen Gefallen tun." Der schickt zwei Chopper: Die letzten Frauen, Kinder und Männer aus My Lai werden ausgeflogen. Elf Menschenleben hat der junge Heli-Pilot gerettet, 504 sind tot. Später werden Lieder über Hugh Thompson gesungen, den Helden von My Lai.
    Hugh Thompson selbst hat sich nie als Held gesehen. Er habe schlicht keine Wahl gehabt, sagt er später.
    "Das war Mord. Da standen Leute am Graben in einer Reihe, so 170, mit erhobenen Händen über den Köpfen und wurden hingerichtet. Das ist kein Krieg, das ist nicht, was ein Soldat für sein Land tut. Das sind Mörder."
    Nicht alle Soldaten der Charlie-Kompanie haben getötet, verstümmelt und vergewaltigt. Nur schätzungsweise 18 bis 20 - so sagen es Zeugen - werden zu Mördern an diesem 16. März. Doch von den übrigen 170 hatte kein einziger den Mut, seine Kameraden zu stoppen. Und deshalb war Thompson so wichtig für die US-Army: der gute Amerikaner in diesem Schurkenstück, das Licht in all der schrecklichen Finsternis. Er wurde mehrfach ausgezeichnet und hielt bis zu seinem Krebstod im Jahre 2006 bei der US-Army Vorträge über Courage.
    Bis in die obersten Ränge ist das Militär an der Vertuschung beteiligt
    Damals freilich gilt er eher als Nestbeschmutzer. Schreiend und mit Tränen in den Augen kehrt er zurück zum Stützpunkt und meldet das Verbrechen. Außerdem gibt es die Fotos des offiziellen Armeefotografen Robert Haeberle. Grauenhafte Bilder, die später die Welt schockieren werden. Doch die Offiziere identifizieren die Leichen unbewaffneter Zivilisten als gefallene Vietcong-Kämpfer.
    Der Hubschrauberpilot Hugh C. Thompson nach seiner Aussage im Pentagon zu dem Massaker von My Lai am 04.12.1969. An dem Massaker von My Lai beteiligte sich der Hubschrauberpilot Thompson nicht, sondern rettete Frauen und Kinder mit der Drohung, durch seinen Bordschützen auf seine Kameraden schießen zu lassen. Dreissig Jahre später wurde er für seine Tat ausgezeichnet. Am 16.03.1968 hatten Einheiten der 11. US-Brigade unbewaffnete Bauern, Frauen und Kinder in dem Dorf in Zentralvietnam niedergemetzelt. Insgesamt 504 Menschen wurden umgebracht. Berichte und Fotos über das Massaker von My Lai entsetzten die Welt und veränderten die öffentliche Meinung in den USA zum Krieg in Vietnam. +++(c) dpa - Report+++ |
    Der Hubschrauberpilot Hugh C. Thompson nach seiner Aussage im Pentagon zu dem Massaker von My Lai. (UPI)
    128 getötete Feinde meldet der offizielle Armee-Bericht; bei null eigenen Verlusten. Nur einen Verwundeten gab es bei den Amerikanern. Er hatte sich selbst in den Fuß geschossen, um ausgeflogen zu werden vom Ort des Grauens. Aber auch das verschweigt der Bericht. Offiziell war My Lai ein erfolgreicher Einsatz.
    Bis in die obersten Ränge ist das Militär an der Vertuschung beteiligt. Fast sämtliche hohen US-Offiziere überfliegen in den folgenden Tagen Pinkville, im Grunde wissen alle Bescheid. Die Männer der Charlie-Kompagnie werden auf monatelange Einsätze in den Dschungel geschickt. Derweil kehren die überlebenden Dorfbewohner nach My Lai zurück, um ihre Toten zu begraben.
    "Die Leichen, das Blut, das brackige Wasser und die Hitze hier in Vietnam - es war ein unvorstellbarer Gestank. Oft gelang es nicht, die Toten zu identifizieren. Weil die Gesichter durch Schüsse oder Bajonettwunden unkenntlich waren, die Körper von Granaten zerfetzt. Also haben sie die Leichen auf die Reisfelder gebracht und in Bombenkratern begraben. Zusammen. Es gibt mindestens drei große Massengräber hier. Und niemand kann bis heute sagen, wer dort genau begraben ist."
    "In unserem Dorf kann ich ihren Seelen nahe sein"
    Phan Tanh Cong, der Museumsdirektor, lebt seit 1975 wieder hier. Nach der Wiedervereinigung Vietnams unter sozialistischer Herrschaft ist er zurückgekehrt. Als 1992 die Gedenkstätte entstand, wurde er ihr Leiter. Aber wieso bleibt ein Mensch sein Leben lang an dem Ort seiner schrecklichsten Erinnerungen?
    "Es ist auch ein Ort guter Erinnerungen. An meine Mutter, meinen Vater, meine Geschwister, an fröhliche Feste und Streiche mit Nachbarskindern. Hier, in unserem Dorf kann ich ihren Seelen nahe sein und mich um ihre Gräber kümmern. Und für sie beten, damit sie friedlich leben können auf der anderen Seite. Deshalb bin ich hiergeblieben."
    Der 21-jährige Journalismus-Student Ronald Ridenhour ist 1968 Bordschütze eines Hubschraubers in Vietnam. Drei Wochen nach My Lai trifft er zufällig einen alten Armee-Kumpel. Sie haben sich lange nicht gesehen, sitzen zusammen, erzählen Soldatengeschichten.
    "Er fragte: Hast Du gehört, was wir in Pinkville getan haben? Und ich sagte, nein - und er: Wir sind da reingegangen und haben alle umgebracht. Haben sie in einer Reihe aufgestellt und erschossen, drei-, vier-, fünfhundert Leute - keine Ahnung wie viele. Und ich dachte: Du Riesen-Arschloch. In was ziehst Du mich da rein? Da stand ich nun vor der Wahl, meinen Freund anzuschwärzen oder Teil dieses furchtbaren Verbrechens zu werden. Und der einzige Weg, nicht Teil dieses Verbrechens zu werden ist, die Wahrheit aufzudecken und dafür zu sorgen, dass die Schuldigen bestraft werden. Und das habe ich ihm gesagt. Mein Freund, als er mir davon erzählte, sagte: Weißt du, es war wie so ein Nazi-Ding. Und genau das war es. Ein Nazi-Ding. Aber wir gingen nicht nach Vietnam, um Nazis zu werden. Jedenfalls nicht die Leute, die ich kenne. Ich will kein Nazi sein."
    Der Journalist Seymour Hersh hakt nach
    Ridenhour recherchiert. Und als er 1969 in die USA zurückkehrt, beschreibt er das Massaker von My Lai in einem langen Brief an Präsident Nixon. Kopien schickt er an den Verteidigungsminister, verschiedene Kongressabgeordnete und an den Armeechef, General Westmoreland. Dieser hat keine Wahl mehr, als eine Untersuchung in Auftrag zu geben.
    My Lai massacre survivor Truong Thi Le (C), cries during a ceremony marking the 40th anniversary of the massacre in My Lai in Quang Ngai Province, central Vietnam, 16 March 2008. The My Lai Massacre was the mass murder of 504 villagers, nearly all of them unarmed women, children and elderly civilians by the US Army during Vietnam War. The incident further reduced US public support of the war, and was one of the turning points in the conflict. EPA/STR +++(c) dpa - Report+++ |
    Gedenken der Opfer des Massakers (EPA)
    Die Anklage gegen Leutnant William Calley findet in den USA zunächst wenig Beachtung. Der Journalist Seymour Hersh - damals freier Autor in Washington - vermutet mehr hinter der nüchternen Pressemeldung aus dem Pentagon. Er recherchiert, spricht mit Leutnant Calley und anderen Beteiligten an dem Massaker. Er erfährt dabei verstörende Einzelheiten vom "Ausflug nach Pinkville", wie Captain Medina den Einsatz seinerzeit bezeichnet hatte.
    "Nachdem sie alle abgeschlachtet hatten, setzten sie sich neben den Graben mit all den Leichen und aßen zu Mittag. Ernsthaft! Dann hörten sie ein Weinen. Ein vielleicht zweijähriger Junge, der das Schießen überlebt hatte, kroch aus dem Graben, krabbelte zwischen all den Toten hervor, über und über mit ihrem Blut besudelt, und rannte davon. Und Leutnant Calley sagte zu einem seiner Soldaten: Los, erledige ihn. Aber der konnte es nicht. Also zog Calley seine Pistole und erschoss das kleine Kind."
    Jimi Hendrix' "star spangled banner" - die mit der E-Gitarre zu Bombenexplosionen und MG-Stakkato verzerrte US-Hymne - beschreibt die Stimmung. Amerika war angetreten, um seinen "way of life", die Freiheit und die Demokratie zu verteidigen gegen kommunistische Unterdrücker. Deren Gräueltaten wurden in Radiosendungen wie die NBC-Show "Vietcong Terror" regelmäßig in düstersten Farben beschrieben:
    Doch nun war Amerika selbst schuldig geworden. Soldaten der US-Army - die vermeintlich Guten im Kampf gegen das Böse - hatten unschuldige Frauen und Kinder, unbewaffnete Zivilisten abgeschlachtet. "Dieses Nazi-Ding", hatte es der Vietnam-Veteran Ronald Ridenhour genannt. "Amerikas Holocaust", schreiben die Zeitungen. Als das Massaker von My Lai bekannt wird, kippt die Stimmung in der amerikanischen Öffentlichkeit endgültig gegen den Krieg. Seymour Hershs Berichte in "Life", "Times" und "Newsweek" fallen zusammen mit den großen Anti-Kriegs-Demonstrationen in Washington.
    US-Soldaten untersuchen den Ort My Lai in Südvietnam, nach dem Massaker an über 500 Zivilisten.
    US-Soldaten untersuchen den Ort My Lai in Südvietnam. (AP Archiv)
    Calley bittet spät um Verzeihung
    Der Mythos von der amerikanischen Unbesiegbarkeit war da schon lange dahin. Bauern in Sandalen mit Kalaschnikows widerstanden der effektivsten, bestbewaffneten Kriegsmaschine der Welt, mehr und mehr amerikanische Söhne kehrten in Särgen heim. Nun kam zur militärischen Ausweglosigkeit die moralische Bankrotterklärung.
    Lebenslänglich. William Calley wird als einziger Beteiligter an My Lai verurteilt. Das ist wohl ein Grund für die Empörung in den USA, die Massenproteste für Calleys Freilassung, vermutet Ankläger Aubrey Daniel.
    "Dieses Land wollte den Krieg beenden. Und es wollte nicht glauben, dass dieses Massaker wirklich passiert war. Und wenn es doch passiert sein sollte, dann war das die Schuld des ganzen Volkes, der ganzen Armee - und nicht Leutnant Calleys Fehler."
    Dabei muss der Offizier nicht einmal hinter Gitter, sondern darf die Strafe als Hausarrest absitzen. Bereits nach vier Jahren begnadigt Präsident Nixon den verurteilten Mörder. Auch zu William Calley gibt es ein Lied.
    Das Lied eines Soldaten, der für sein Land in den Krieg zog und zum Schurken gemacht wurde. Zum Sündenbock, obwohl er doch nur seine Pflicht getan habe.
    William Calley hat lang geschwiegen. Erst 41 Jahre nach dem Massaker bat er öffentlich um Verzeihung. Es gebe nicht einen Tag seines Lebens seither, an dem er nicht bedauere, was damals in My Lai geschehen sei, sagte er. Zumindest dieses Gefühl teilt er mit Phan Tanh Cong, dem Überlebenden und Direktor der Gedenkstätte von My Lai.
    "Ich fühle seit 50 Jahren diesen Schmerz. Immer, wenn sich der 16. März nähert, kommt die ganze Verzweiflung wieder in mir hoch. Traurigkeit. Ich bin verloren seit diesem Tag. Einsam. Ich wusste nicht, wohin ich gehen sollte. Ich habe alle verloren, die ich geliebt habe, nicht nur meine Familie, auch Nachbarn, Freunde. Die Kugeln der Amerikaner haben mich verfehlt. Aber ich habe ein tiefes Loch in meiner Seele."