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Virtual Reality
Stasi-Verhör zum Nachempfinden

Virtual-Reality-Brillen scheinen perfekt für Games und Filme – doch auch der Journalismus kann sich die Technik zu Nutze machen: Für ein Feature im Deutschlandradio entstand die Smartphone-App "StasiVR", die ein Verhör im DDR-Gefängnis ansatzweise nachvollziehbar macht. Corso hat sie getestet.

Von Matthias Finger | 17.03.2017
    Ein Mann trägt eine VR-Brille und ist in eine räumliche, virtuelle Welt eingetaucht.
    Mit Virtual-Reality-Brille verstärkt sich das Gefühl der Beklemmung. (picture-alliance/ dpa/ Maximilian Schönherr)
    Vor mir: ein quadratischer Sprelacart-Tisch. Das typische Holzimitat der DDR. Darauf: eine Kaffeetasse. Die Wand? Kahl. Mielke starrt stumpf von seinem Bild herab. Drehe ich meinen Kopf nach rechts, so erblicke ich einen Mann am Schreibtisch - mit Telefon und Schreibtischlampe. Im Aschenbecher dampft eine Zigarette.
    "Es ist relativ ernst, das muss ich sagen. Und ich möchte noch vorweg sagen, dass wir aber dringend interessiert sind an Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit. Es lässt sich alles wieder ins Lot bringen."
    Über Kopfhörer höre ich einen Vernehmungsmitschnitt aus dem Jahr 1989. Wende ich mich nach links, sehe ich den Beschuldigten: Er sitzt an der Wand. Und: Er wird über seine Fluchtpläne ausgefragt.
    Eine neue Erzählform
    "Das ist die Geschichte von Uwe Hädrich. Das ist ein hoher Wirtschaftsfunktionär und der wird vernommen - da müsste man den anderen Avatar sehen - von einem Vernehmer der Staatssicherheit. Der Verhörraum, den man da sieht, ist auch den Originalverhörräumen der Stasi nachempfunden, die man immer noch in der Gedenkstätte Hohenschönhausen besichtigen kann", erklärt Jana Wuttke.
    Im Deutschlandradio Kultur lief ihr Feature "False-Memory-Forschung und polizeiliche Vernehmungstaktik". 70 Stunden Audiomaterial hat sie im ehemaligen Untersuchungsgefängnis der Stasi dafür durchforstet. Um Verhörmethoden ansatzweise nacherlebbar zu machen, nutzt sie Virtual Reality - eine spannende neue Erzählform, die bisher kaum journalistisch eingesetzt wurde.
    "Bei diesen computergenerierten Bildern kann man wirklich 'ne Stimmung noch mal erzeugen. Und das Besondere ist: Man kann da hinspringen historisch, wo das über Zeitreisen nicht möglich wäre. Wir können historische Ereignisse nochmal nachempfinden und nacherleben. Und da entsteht schon mal so 'ne andere Art von Empathie für die Person oder für die Ereignisse", erklärt Jana Wuttke.
    Verhörprotokoll:
    "Was sagst du selber dazu?"
    "Ich bin das nicht."
    "Du weißt bestimmt, dass Stimmidentifizierung möglich ist."
    Hädrich hatte von einer Telefonzelle in Budapest aus mit der bundesdeutschen Botschaft telefoniert. Um das Verhör nachzuerleben, lade ich die App Stasi-Verhöre in VR kostenlos herunter. Und ich kaufe meine erste Virtual-Reality-Brille. Aus Pappkarton für 20 Euro. In einem Laden für Computerzubehör. Mein Handy klemme ich hinter zwei billige Plastiklinsen.
    "Die Vernehmung."
    "Erzieherische Einwirkung."
    "Uwe Hädrich ist dringend verdächtig."
    "Die Vernehmungstaktik ist auf die optimale Unterstützung der Politik der Partei auszurichten."
    Es ist kein Entertainment
    Wenn ich längere Zeit angestrengt auf einen Einrichtungsgegenstand im Verhörzimmer schaue, werden Erklärungen, Zeitzeugenstimmen und Collagen eingespielt. Schließlich handelt es sich nicht um Entertainment.
    "Also man muss immer wieder versuchen, die starke Emotion auch zu brechen, auch wenn es den Nutzer dann wieder rauswirft. Um dann eben zu sagen: Versuch mal das Verhör so und so zu sehen. Da muss man versuchen eine Distanz einzubauen, indem man die Quellen auch journalistisch einordnet", sagt Jana Wuttke.
    In der Ecke? Ein Safe. Von oben fällt das fahle Licht einer nackten Glühbirne. Links sehe ich eine Tür. Führt sie in die Freiheit? Ich finde die Tonbandaufzeichnungen beklemmend. Unter der Virtual-Reality-Brille verstärkt sich das Gefühl.
    Die Immersion funktioniert. Virtual Reality zieht mich ganz nah zum Geschehen. Die Anwendungsmöglichkeiten in Museen, Schulen und zuhause sind kaum überschaubar. Und auch der Radiojournalismus kann profitieren - wenn Audiomaterial aus aller Welt zukünftig in virtuellen, dreidimensionalen Räumen präsentiert werden kann.