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Vladimir Sorokin: "Telluria"
Kunstvoller Flickenteppich

Vladimir Sorokin, einer der bekanntesten russischen Autoren der Gegenwart, hat sein neuestes Werk zwar explizit Roman genannt, doch in Wirklichkeit besteht "Telluria" aus 50, mit römischen Ziffern überschriebenen, autonomen Kurzkapiteln unterschiedlichster Genres, Textsorten, Stile und Sprachebenen. Der ganze Witz der Geschichten kommt in der deutschen Übersetzung leider nicht rüber.

Von Brigitte van Kann | 07.08.2015
    Vladimir Sorokin
    Der russische Schriftsteller Vladimir Sorokin in Moskau im November 2014. (imago/ITAR-TASS)
    In Vladimir Sorokins "Telluria" sind Russland und Europa in diverse obskure Kleinstaaten zerfallen, die wie Inseln im ansonsten leeren Raum schwimmen. Russische Sorokin-Fans haben diese fantastische Landkarte Eurasiens gezeichnet und ins Netz gestellt. Mit der russischen Suchmaschine yandex.ru ist sie leicht zu finden. Da gibt es ein Rjasaner Reich, wo man sich zugutehält, das schöne, alte Russisch wieder eingeführt zu haben – für das Wort "Internet" mussten die Schulkinder dort zur Strafe auf Erbsen knien. Es gibt eine Stalinistische Sowjetische Sozialistische Republik, die einzig vom Stalin-Kult lebt und zu deren touristischen All-Inclusive-Angeboten rauschgift-induzierte Begegnungen mit dem großen Verstorbenen gehören. Es gibt eine Rheinisch-Westfälische Republik, die gerade aus den Händen der Taliban befreit worden ist und zum ersten Mal wieder einen richtigen Kölner Karneval feiert.
    "Freunde, da vorne links sehe ich unseren Präsidenten, General Kasimir von Lützow, und Kanzler Safak Bastürk. [...] jetzt sitzen sie hoch zu Ross: der Präsident auf einem Schimmel mit einer weißen Decke, darauf die Kreuzzeichen, der Kanzler auf einem Rappen mit grüner Decke und Halbmond. Freunde, das ist symbolisch, das ist wunderschön und aktuell. Es symbolisiert nicht nur die Politik unseres Staates, sondern die Einheit zweier Kulturen [...], zweier Religionen, der katholischen und der islamischen. Es symbolisiert jene Einheit, die unserem Land dazu verholfen hat, den blutrünstigen [...]Feind zu überwinden und den grausamen Krieg zu überstehen. Der Präsident und der Kanzler [...] beschenken die Menge mit Kamellen aus den riesigen goldenen Füllhörnern des Überflusses. Und sie sehen nicht nur wie richtige Ritter aus – sie sind es auch. Wir alle erinnern uns an General Lützows berühmten Wintermarsch von der niederländischen Grenze nach Köln [...] die blutigen Schlachten bei Düsseldorf, die glanzvolle Düsseldorfer Operation und den bereits in die [...] Kriegsgeschichte eingegangenen Bochumer 'Kessel', als General von Lützows Armee die Taliban einkreiste."
    Robert, der Live-Reporter vom Kölschen Karneval, kommt ausgelaugt und mit deutlichen Entzugserscheinungen nach Hause. Von seiner Freundin Silke verlangt er eine Dosis Tellur, das Rauschmittel, hinter dem in Sorokins "Telluria" alle her sind. Die Jagd nach Tellurium, wie der Stoff im Periodensystem korrekt heißt, ist eines der verbindenden Elemente der 50 Kapitel. Tellur verspricht nichts weniger als das Paradies auf Erden – fast alle sind davon abhängig, entweder gerade auf einem Trip oder im Entzug. Tellur wird in Nägel gefüllt, die an einer bestimmten Stelle ins Gehirn geschlagen werden müssen. Geht der Schlag daneben, kann die Sache tödlich ausgehen – weshalb Zimmerleute mit präzisem Hammereinsatz hoch im Kurs stehen.
    Was die 50 Kapitel von "Telluria" außer den Drogennägeln in den Köpfen verbindet, ist die Zeit, in der sie spielen – irgendwann in der Mitte des 21. Jahrhunderts. Russische Kritiker sagen – etwas später als Sorokins im Jahre 2027 angesiedelter "Tag des Opritschniks" und etwas früher als der "Schneesturm". Letzerer ein "retrofuturistisches Märchen", wie Kerstin Holm, die Rezensentin der FAZ, treffend formuliert hat, ersterer eine düstere Zukunftsvision mit altrussischen Ingredienzien, erschienen 2006 und aus heutiger Sicht eine beklemmende Vorschau auf das, was Russland gerade aktuell an Rückschritt vollbracht hat: Isolation, Nationalismus und Gewalt. Ironisch warnte dann auch die bekannte russische Kritikerin Alla Latynina ihre Kollegen davor, Sorokins Phantasmen als "Utopien" oder gar als "Prophezeiungen" zu beschreiben – sie könnten tatsächlich wahr werden.
    Der gläserne Mensch ist Wirklichkeit geworden
    Der gläserne Mensch ist in "Telluria" bereits Wirklichkeit geworden. Es gibt eine Art Smartphone, "Grips" genannt, das alle Daten eines Menschen verrät und virtuelle Liebesnächte mit dem fernen Partner ermöglicht – gefertigt ist es allerdings aus dem Universalmaterial der russischen Folklore, aus Birkenrinde. Mit der fantastischen Verbindung von mittelalterlicher Rückständigkeit und futuristischem High-Tech erzeugte Sorokin auch schon in seinen letzten Büchern eine gewisse Komik. Hier camoufliert der Witz das eigentliche Anliegen: Im Gewand der Retro-Utopie verhandelt der Schriftsteller die Gegenwart. "Telluria" ist "ein in der Zukunft aufgestellter Spiegel, in dem sich die Phobien, Manien und fixen Ideen unserer Epoche, zu politischer Realität geworden, auf groteske Weise widerspiegeln", wie der russische Kritiker Lev Danilkin schreibt.
    Alles kommt hier zusammen: Reiz und Horror des alten und neuen Stalinismus, Nostalgie und Warenfetischismus, die Angst vor der chinesischen Übermacht – chinesische Wörter, vom Autor in einem Glossar erklärt, sind in "Telluria" so präsent wie heutzutage das Englische –, die Angst vor dem Islamismus – ganz Westeuropa stöhnt unter dem "wahhabitischen Hammer". Ein alter Herr, der Moskau noch als grässliche, von Autos verstopfte Hauptstadt erlebt hat, preist das neue, altväterliche Moskowien, in dem er jetzt lebt. Es wird von einem weisen, guten Herrscher regiert – und nicht von zweifelhaften Gestalten wie einst.
    "Sogar an die letzten Herrscher Russlands kann ich mich noch erinnern, stellen Sie sich das vor! Kleine Männer waren das, die irgendwie seltsam redeten, wie Schüler, allzeit munter und jugendlich – einer spielte irgendein Instrument, Elektromandoline, glaube ich, der andere war ein Sportler, das war damals Mode. Einmal ist er sogar mit den Kranichen geflogen."
    Sorokin hat Putin im Visier, auch wenn er seinen Namen selten nennt. Er inszeniert ihn als russische Endzeitfigur, dessen überlebensgroße Büste zusammen mit den Büsten von Lenin und Gorbatschow in einem verwunschenen Park vor sich hin rottet. Ein altes Mütterchen erklärt ihren Enkelkindern, was es mit diesen Männern auf sich hatte:
    "Der erste von ihnen [...], dieser Verschlagene mit dem Spitzbart, erledigte das Russische Imperium, der zweite, der Brillenträger mit dem Fleck auf der Glatze, zerstörte die UdSSR, und dieser hier mit dem kleinen Kinn richtete das fürchterliche Land namens Russische Föderation zugrunde. Und alle drei Büsten schuf vor sechzig Jahren mein verstorbener Mann, Demokrat, Pazifist, Vegetarier und professioneller Bildhauer, in jenem Sommer, als der Drache Russland endgültig krepierte und für immer aufhörte, seine Bürger zu fressen."
    In der deutschen Übersetzung leider nicht alle Anspielungen dechiffriert
    Nicht nur die Jagd nach dem ultimativen Glücksgefühl haben Sorokins "Telluria" und David Foster Wallace's "Infinite Jest" gemeinsam, sondern auch die Ansiedlung in der Zukunft und das Spiel mit Stimmen und Stilen. Jedes der 50 Kapitel von "Telluria" stellt eine andere Textsorte dar oder vertritt ein anderes Genre. Jedes Kapitel ist in einem anderen Stil geschrieben, dessen Vorlagen, Standards oder Schablonen der Leser durchaus wiedererkennt: Man kann der russischen Kritik nur zustimmen – Sorokin ist ein genialer Stimmen-Imitator. Das Werk von mehreren Übersetzern übertragen zu lassen, bot sich an. Acht Spitzenkräfte der Zunft haben sich hier zu einem Kollektiv mit dem schönen Namen "Hammer und Nagel" zusammengetan und ihre Arbeit glänzend gemacht, den Nagel buchstäblich auf den Kopf getroffen.
    Schön wäre es gewesen, wenn das Team die unendlich vielen direkten und indirekten Zitate aus der russischen Literatur, mit denen Sorokin sein Werk förmlich gespickt hat, für den deutschen Leser dechiffriert hätte. So entgeht einem doch manches in diesem Flickenteppich, der sich weniger als "verrückt", sondern bei aller Fantastik als äußerst kalkuliert und kunstvoll geknüpft erweist.
    Ob die Reihenfolge der 50 Kapitel zufällig ist oder nicht, müsste man Sorokin wohl selbst fragen – und hoffen, dass der in der Öffentlichkeit notorisch maulfaule Autor sein Ordnungsprinzip in "Telluria" verrät. Dass er sein Werk mit einer veritablen Aussteiger-Fantasie beschließt, scheint jedenfalls kein Zufall zu sein.
    "Dinge gibt's, auf die sich gut verzichten lässt: Weiber, Kino, [...], Pyramiden. Nägel, Krieg, Moneten, Obrigkeit. [...] Hauptsache, Dach überm Kopf, wo's nicht reinregnet, und was zu fressen. Keiner, der einen auf Arbeit scheucht. Des eignen Glücks Schmied sein. Schlafen, wenn einem danach ist. Einzig vor der Sonne sich verneigen. Gekrault wird nur, was ein Fell hat. Geredet nur mit den Vögeln im Walde. Was braucht der Mensch mehr?"
    Vladimir Sorokin: "Telluria". Aus dem Russischen von Kollektiv Hammer und Nagel. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2015, 415 Seiten. 22.99 Euro.