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Vöcking warnt vor Kostenexplosion im Gesundheitswesen

Im Gesundheitswesen ist im Jahr 2010 nach Einschätzung der Barmer Ersatzkasse mit einer weiteren Kostenexplosion zu rechnen. Er schließe nach der Bundestagswahl eine mehrfache Belastung für die Versicherten nicht aus, sagte der Barmer-Vorstandsvorsitzende Johannes Vöcking. Neben steigenden Beitragssätzen müssten dann auch zusätzliche Selbstbeteiligungen der Patienten ins Auge gefasst werden. Deshalb müsse es für Ärzte und die Pharmaindustrie eine absolute Nullrunde geben, verlangte Vöcking.

Johannes Vöcking im Gespräch mit Jürgen Zurheide |
    Jürgen Zurheide: Wenn das Wort "Gesundheitsreform" fällt, dann hören wahrscheinlich viele weg, das könnte so etwas wie das Unwort des Jahres werden, denn irgendwie ist immer Reform, aber der Ärger wird nicht geringer, sondern größer. Das hat man zumindest als Eindruck, und diesen Eindruck nimmt man mit. Allerdings sollte man bedenken, es melden sich überwiegend die Interessenvertreter zu Wort und da wird häufig zu wenig über die Versicherten geredet, und genau das wollen wir jetzt ändern. Ich begrüße am Telefon den Vorstandsvorsitzenden der Barmer Ersatzkasse Johannes Vöcking. Guten Morgen, Herr Vöcking!

    Johannes Vöcking: Guten Morgen, Herr Zurheide!

    Zurheide: Herr Vöcking - beginnen wir jetzt mal österlich. Ich glaube, Sie haben Ihre Versicherten - und nicht nur Ihre, sondern die Menschen in Deutschland - über eine repräsentative Umfrage gefragt: Was machen Sie eigentlich zu Ostern? Bewegen Sie sich etwas mehr? Was ist denn das Ergebnis, was tun die Deutschen zu Ostern? Was wissen Sie da?

    Vöcking: Das Erfreulichste zunächst mal ist, dass die Menschen in sehr großem Maße interessiert sind, mehr mit der Familie zu machen. Sie wollen sich insbesondere in der Natur bewegen und Stress abbauen, sich vorbereiten auf die anstrengenden nächsten Wochen und Tage, die da kommen.

    Zurheide: Ist denn das vielleicht auch ein Zeichen dafür, dass das Gesundheitsbewusstsein insgesamt wächst und vielleicht auch sowas wie Prävention - ich weiß, das ist Ihnen immer wichtig -, dass das zunimmt? Oder sind immer nur die Falschen diejenigen, die was für Prävention tun, die ohnehin die Gesünderen sind?

    Vöcking: Ich glaube, dass die Menschen spüren, dass das Gesundheitssystem als solches sehr wichtig ist, aber es tauchen auch zunehmend die Fragen auf: Ist das Ganze noch finanzierbar? Und dabei steigt das Bewusstsein, dass die Menschen, dass man selbst mehr tun muss. Wir haben zum Beispiel die Frage gestellt, in welchem Umfang man gefastet hat und wie man durchgehalten hat. Das Erstaunliche war, dass 10 Prozent der Bevölkerung gefastet und auch durchgehalten haben, insgesamt waren es 15 Prozent, und das finde ich schon sehr bezeichnend. Wir haben uns diese Fragen gestellt, um auch mal ein wenig zu hinterfragen, wie ehrlich man mit Fragen bei Befragungen umgeht, denn wir haben insgesamt auch grundsätzlich gefragt, wie stellt man sich künftig Dinge im Sozialsystem und Gesundheitssystem vor.

    Zurheide: Kommen wir mal zu so ein paar anderen Fragen, so etwas wie der Teilhabe am medizinischen Fortschritt. Das wird ja - zumindest von der Politik - immer in den Mittelpunkt gestellt und da wird auch gesagt, ja, natürlich wollen wir das, nur die Realität, sprich, die Finanzierung, sieht dann oft etwas schwieriger aus. Was muss aus Ihrer Sicht eigentlich passieren, dass die Menschen wirklich in die Segnungen dessen kommen, was die Medizintechniker da ausdenken und was es an Fortschritt gibt?

    Vöcking: Ich glaube, wir brauchen zunächst mal zwei Dinge: Erstens eine gründliche und umfassende Information über das Gesundheitssystem. Sie haben anfangs angedeutet, dass der Gesundheitsfonds praktisch zum Unwort des Jahres geworden ist. Hintergrund ist aber, dass verschiedenste Elemente sich dahinter verbergen und die Menschen gar nicht wissen, worüber im Einzelnen diskutiert wird. Zum Zweiten - und das ist schon ganz interessant: Die Menschen sind sehr interessiert, partizipieren zu können am medizinischen Fortschritt, aber - und das ist ganz bezeichnend - man ist nicht mehr bereit, Fortschritt um jeden Preis zu bezahlen, sondern es kommt zunehmend darauf an, dass dem Menschen bewusst wird, dass dieser Fortschritt erstens etwas bringt, wirklich etwas bringt und dass die Kostenentwicklung eher moderat ist.

    Zurheide: Aber wie kann man das sicherstellen und wie kann ein Patient sicherstellen und wissen, dass Fortschritt etwas bringt? Da muss ihm jemand helfen, wer kann das sein? Können Sie das sein, oder braucht es unabhängige Instanzen, die bestimmte Dinge überprüfen und damit auch sagen, ja, das ist wirklich Fortschritt und das ist nicht nur Marketing?

    Vöcking: Wir brauchen auch (???) dieses Element ist in der Krankenversicherung, erst Recht in der Gesetzlichen Krankenversicherung. Da gibt es ein entsprechendes Institut, das allerdings immer wieder sehr, sehr kritisch angegangen wird, insbesondere von der pharmazeutischen Industrie, und hier bräuchten wir im Grunde einfach ein anderes Vorgehen, mehr Attraktivität und insgesamt mehr Wissen. Was ich immer kritisiere ist, dass es zu wenig Versorgungsforschung gibt. Das ist in meinen Augen keine Sache der Wirtschaft, der Industrie, sondern hier brauchen wir auch objektive Stellen. Das könnte der sogenannte gemeinsame Bundesausschuss sein, den es gibt, jedenfalls brauchen wir hier wirklich kritische Stimmen, kritische Begleiter für Fortschritt, die sowohl die Beurteilung dann machen wie auch den Transport der Informationen.

    Zurheide: Und wie kann man verhindern, dass diese Versorgungsforschung am Ende nur wieder eine andere Form der Kosteneinsparung ist? Das ist ja eine Besorgnis, die hin und wieder da ist.

    Vöcking: Wir brauchen zwei Dinge. Wir wollen auf der einen Seite den Fortschritt, auf der anderen Seite glaube ich aber, dass wir immer noch genügend Rationalisierungsmöglichkeiten im System haben. Wir haben - und das erkennen eigentlich alle Fachleute an - immer noch ein starkes Maß an Überversorgung, an Vielversorgung, aber eben auch noch an Unterversorgung. Und die beiden ersten Dinge kann man angehen, ich glaube, da sind insofern noch Milliarden an Einsparvolumen da, ohne dass der medizinische Fortschritt wirklich leidet, um dann im Grunde wirklich die Fehlversorgung zum Beispiel in der Krebsmedizin irgendwann weiter ausbauen zu können.

    Zurheide: Nun haben wir diesen Gesundheitsfonds, Sie haben es gerade auch noch mal angesprochen. In diesem Jahr - was ist denn Ihre Prognose angesichts der Wirtschaftskrise? Wird das Geld reichen oder müssen wir uns auf weiter steigende Beiträge einstellen? Wobei: Die müssten ja die Bundesregierung in dem Fall beschließen, da sind Sie fein raus.

    Vöcking: Ja, momentan haben wir eine sehr kritische Entwicklung. Wir sind natürlich gespannt, die Zeit in diesem Jahr ist noch zu kurz, um die Ausgabenentwicklung zu beurteilen, aber da dürfte eigentlich zu erwarten sein, dass das Geld nicht reicht. Das haben viele kritische Stimmen schon von Anfang an gesagt. Das zweite große Problem ist natürlich die Einnahmesituation in Anbetracht der Wirtschaftslage. Das ist zwar jetzt vordergründig 2009 kein Problem, wird aber kommen, und kritisch wird es in meinen Augen dann eher 2010. Und da könnte es so sein, dass dann praktisch der Fonds schon abgeschmolzen ist auf die politische Grenze von 95 Prozent, bei dieser Grenze müsste dann die Bundesregierung nachdenken über ein Anheben des Beitrages. Das wäre gleichzeitig die Situation, wo aber dann schon auch der volle Zusatzbeitrag auf die Versicherten zugelaufen wäre.

    Ich schließe für 2010 nicht aus, dass irgendwann wir eine dreifache Belastung haben könnten, politisch gesehen nach der Bundestagswahl, dass auf jeden Fall der Beitragssatz noch mal angehoben werden müsste, dass der Zusatzbeitrag der Versicherten dann mit wieder da ist und dass man darüber nachdenken muss, auch

    vielleicht dann ganz bestimmte Selbstbeteiligungen noch mal ins Auge zu fassen. Das Ganze muss man auf jeden Fall begleiten lassen dann mit einem absoluten Preismoratorium. Das kann nicht sein, wenn die Versicherten nach der Wirtschaft belastet werden, dass dann alle, die am System partizipieren als Leistungserbringer, die Pharmaindustrie, die Ärzte, dass die dann noch mehr Geld erwarten. Und dann erwarte ich für 2010 eine absolute Nullrunde für alle.

    Zurheide: Aber das Gegenteil ist doch im Moment der Fall, wenn man sich die Ärzteproteste anschaut. Obwohl mehr Geld ins System kommt, ich benutze wieder dieses Wort "System", sind die völlig unzufrieden. Zu Recht oder zu Unrecht, aus Ihrer Sicht?

    Vöcking: Es soll jeder, der wirklich verantwortungsvoll arbeitet, entsprechend verdienen, nur wir müssen sehen: Es gibt in diesem Jahr einen sehr starken Preisschub, das ist im Bereich der Krankenhäuser mindestens 3,5 Milliarden bis sogar, manche sagen, bis 5 Milliarden, im Bereich der Ärzte in zwei Jahren - das ist meine Zahl - 5 Milliarden, das heißt, das sind 5 bis 10 Milliarden. Das muss bezahlt werden. In meinen Augen ist hier sehr, sehr viel getan worden für die verantwortungsvollen Dienstleistungsbereiche und ich bin nur erstaunt, wie unzufrieden man trotzdem ist.

    Zurheide: Zum Schluss noch ein Tipp von Ihrer Seite: Was ist gut für die Gesundheit, was machen Sie persönlich?

    Vöcking: Mit meiner Frau das intensive Spazierengehen und vor allen Dingen zwar mit Genuss essen, aber ganz bestimmt nicht übertrieben essen.