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Völkermord an den Armeniern
"Für die internationale Wissenschaft keine Frage"

Außerhalb der Türkei sei für alle Historiker klar, dass es sich bei der Tötung von 1,5 Millionen Armeniern im Ersten Weltkrieg um einen Völkermord gehandelt habe, sagte der Historiker Hans-Lukas Kieser im DLF. Dafür sprächen die gewaltige Dimension der Morde und der klar erkennbare Vorsatz hinter den tödlichen Deportationen.

Hans-Lukas Kieser im Gespräch mit Peter Kapern | 22.04.2015
    In der griechischen Hauptstadt Athen zündet ein Armenier Kerzen vor der türkischen Botschaft an, um an den 99. Jahrestag der Tötung von 1,5 Millionen Armeniern zu erinnern.
    Für die internationale Wissenschaft war die Tötung von 1,5 Millionen Armeniern eindeutig Völkermord, sagt Historiker Hans-Lukas Kieser. (picture alliance / dpa / Yannis Kolesidis)
    Der Historiker von der Universität Zürich sagte im DLF, die Anwendung des Begriffs "Völkermord" auf die Tötung von 1,5 Millionen Armeniern im Osmanischen Reich stehe für die internationale Wissenschaft außer Frage. Allerdings lasse sich Geschichte nie auf nur einen Begriff reduzieren. Der Begriff "Völkermord" werde von Historikern als "Zerstörung einer ethno-religiös definierten Gruppe" verstanden. So habe man es in einer Konvention von 1948 festgelegt.
    Eine wichtige Rolle bei der Definition von Völkermord spielt laut Kieser auch der Vorsatz. Dieser sei bei der Vernichtung der Armenier im Ersten Weltkrieg klar gegeben: Das Innenministerium des Osmanischen Reiches habe die Deportationen angeordnet - in dem vollem Bewusstsein, dass sie tödlich enden würden. Dafür spreche auch das finale Massaker, in dem die geplante Vernichtung gegipfelt sei.

    Das Interview in voller Länge:
    Peter Kapern: Was will uns ein Mann sagen, wenn er mit Blick auf die Ermordung von 1,5 Millionen Menschen diesen wundervollen Satz formuliert: "Man kann das, was damals geschehen ist, in dem Begriff des Völkermords zusammenfassen wollen."
    Fangen wir bei der Exegese mal bei dem an, was er nicht sagen wollte. Er wollte nicht sagen, es war Völkermord. Er wollte aber auch nicht das Gegenteil sagen, also es war kein Völkermord. Nein, was der Mann damit eigentlich sagen wollte war: Was immer es war, ich darf, kann, will oder soll es nicht sagen und am liebsten würde ich dazu gar nichts sagen. Aber das ging nun mal nicht als deutscher Außenminister und so drechselte Frank-Walter Steinmeier diesen Satz, der ihm einen Eintrag in das Handbuch des deutschen Sprachnebels einbringen wird.
    Unabhängig davon geht die Debatte um die Tötung von 1,5 Millionen Armeniern durch die Soldaten des Osmanischen Reichs vor genau 100 Jahren weiter. Der türkische Journalist Ahmet Külahci hat hier gestern im Deutschlandfunk gesagt, es sei von Historikern überhaupt noch nicht abschließend beurteilt, ob es sich um einen Fall von Völkermord gehandelt hat oder nicht.
    Bei uns am Telefon ist Hans-Lukas Kieser, Historiker an der Universität in Zürich und Experte für die Spätphase des Osmanischen Reichs. Guten Morgen, Herr Kieser.
    Hans-Lukas Kieser: Ja! Guten Morgen, Herr Kapern.
    Kapern: Also, Herr Kieser, wie ist die Sache jetzt in Ihrem Fachbereich? Die Historiker haben tatsächlich noch kein Urteil darüber gefällt, ob das ein Fall von Völkermord war oder nicht?
    Kieser: Nein, das kann man definitiv nicht so sagen. Es ist außerhalb der Türkei eigentlich für alle klar, dass der Begriff des Völkermords anzuwenden ist, und zwar sogar sehr, sehr deutlich und paradigmatisch. Nur lässt sich Geschichte nie einfach nur auf einen Begriff reduzieren, das gewiss nicht.
    Kapern: Was genau - vielleicht bleiben wir zunächst mal bei dem Punkt - muss denn eigentlich festgestellt werden, historisch, damit man von einem Fall von Völkermord sprechen kann?
    Kieser: Ja. Es geht um die Zerstörung einer ethno-religiös definierten Gruppe, eben Juden, Armenier oder eine andere Gruppe, die sich sehr klar nach ethno-religiösen Kriterien definieren lässt. So hält das die Definition der Konvention von 1948 fest. Sie enthält dann noch weitere Punkte, aber die Kerndefinition ist diejenige dieser Zerstörung, und für uns Historiker kommt es natürlich dann auch auf die Dimension an und wir sind da in einer Millionendimension, also eben eine Millionen, nicht anderthalb Millionen. Dort müsste man dann ein bisschen historisch kritisch noch hinblicken. Aber die Dimension ist gewaltig und von daher ist hier selbst für die Wissenschaft, für die internationale Wissenschaft keine Frage.
    Kapern: Sie sagen, die Definition des Völkermordes besteht in der Zerstörung einer ethnisch-religiös definierbaren Gruppe. Setzt das denn auch Vorsatz voraus, so ein Völkermord, denn immerhin hat gestern der türkische Regierungssprecher gesagt, wir haben nicht wissentlich vorsätzlich oder absichtlich einen Völkermord begangen. Das klingt so, als könnte man einen Völkermord aus Versehen begehen.
    Kieser: Ja, das ist eine bemerkenswerte Formulierung. In der Definition von 1948 ist der Vorsatz drin enthalten und zweifellos ist es für Historiker schwierig - Sie erinnern sich vielleicht an die Debatte um den Hitler-Befehl -, juristisch klipp und klar dann Entwürfe zu finden, Blueprints zu finden, die den Vorsatz wirklich sozusagen hundertprozentig zeigen in Bezug auf das, was dann vorgefallen ist.
    "Deportationen konnten nicht anders als tödlich verlaufen"
    In diesem Fall ist der Vorsatz insofern halt doch klar gegeben, als ja das Innenministerium Deportationen angeordnet hat, die nicht anders als tödlich verlaufen konnten. Und am Schluss, als dann tatsächlich eigentlich noch mehr Menschen überlebten in den Lagern der syrischen Wüste, diese noch weiter nach Südosten getrieben wurden, östlich des Euphrat, und noch etwa 100.000 im August 1916 in schrecklichster Weise massakriert wurden.
    Kapern: Und dieser Vorsatz lässt sich mit Dokumenten belegen, oder eher nicht?
    Kieser: Die Deportation, die ist bestens belegt durch die osmanischen Archive.
    Kapern: Der Vorsatz der Vernichtung der armenischen Volksgruppe, den meinte ich.
    Kieser: Das mit der Vernichtung, das ist eben so etwas Ähnliches. Sie haben keinen Hitler-Befehl und Sie finden auch nicht so klare Dokumente außer der Himmler-Rede im Zweiten Weltkrieg, die selbstverständlich dann diese Vernichtung klipp und klar deutet. Aber Sie finden vom Zentrum her natürlich nicht diese direkte Sprache. Das wäre ja eine absurde Erwartung, eine solche Sprache zu finden.
    Aber der Vorsatz insofern, als eine gesamte Organisation erfolgte, die nicht anders als im großen Umfang tödlich sein konnte, und schließlich dann auch noch diese Massaker und das finale Massaker, das eine Vernichtung in großem Umfang dargestellt hat und das geplant war.
    Kapern: Herr Kieser, warum sind die Armenier eigentlich damals ins Visier der osmanischen Machthaber gelangt?
    Kieser: Die Armenier sind eine sehr agile Gruppe gewesen, eine, die auch international rhodieren konnte, die ihre Gleichberechtigung voll und ganz durchsetzen wollte. Da gab es ja diese Reformen noch 1914 vor Ausbruch des Krieges, die hätten durchgeführt werden sollen und die für die auf Souveränität erpichten Jungtürken gleichsam einen Verrat darstellten vonseiten dieser Gruppe.
    Dann kam der Erste Weltkrieg, dann kam Radikalisierung, dann kamen die Niederlagen, durchaus auch von deutscher Seite gedrängt in Kriegszüge, die zum Teil katastrophal verliefen, und dann schließlich die Armenier als Sündenböcke vor allem für den Kaukasus-Feldzug, der ja tatsächlich Armenier auf beiden Seiten der Fronten gesehen hat, logischerweise, weil die Armenier ja auch in Siedlungsgebiete aufgeteilt waren und sind es heute nur noch in der Kaukasus-Republik, damals im zaristischen Russland die Armenier und dann die osmanischen Armenier, die dann verschwanden.
    Türkische Reaktion: "absurd, aber durchaus nachvollziehbar"
    Kapern: Nun lautet das türkische Narrativ ja, die Deportation der Armenier damals war notwendig, weil die im Ersten Weltkrieg die Feinde der Türkei unterstützt haben. Ist das so richtig, auch in dieser Pauschalität?
    Kieser: Genau das ist das Problem. Das ist diese strategische Lüge vom 24. April 1915, die der Innenminister Talat schriftlich auch so verbreitet hat, dass die Armenier pauschal im Aufstand stünden. Das stimmt eindeutig nicht. Das heißt, die meisten Armenier waren loyal. Die meisten jungen Männer waren im Militärdienst eingezogen. Deserteure gab es bei den Muslimen prozentual ähnlich viele. Einzig an der Ostfront gab es, durch die Frontbedingungen bedingt, dann tatsächlich auf beiden Seiten Armenier und von daher dann, zumal der Krieg dort als Dschihad geführt wurde, logischerweise auch vonseiten der christlichen Armenier jener Region die Hoffnung, gerettet zu werden, gerade auch von Verfolgung und von Massakern von der russischen Armee.
    Kapern: Herr Kieser, was geht eigentlich im Kopf eines Historikers vor, wenn er sich so sicher ist, dieses Völkermord-Faktum deutlich belegen zu können, wenn er dann gleichzeitig Äußerungen türkischer Politiker hört, die sagen, diesen Völkermord hat es nie gegeben?
    Kieser: Ja, das ist für mich nicht so erstaunlich, wie man vielleicht hierzulande denken würde, einfach aus dem Grund, weil ich die ganze Situation des Nahen Ostens vor mir sehe, und zwar seit 100 Jahren. Und da sind wir dann eigentlich in lebendigster Zeitgeschichte drin. Das ist heute quasi unverständlich. Da sind 100 Jahre Erster Weltkrieg wirklich weit zurück und vor allem weit hinter dem Zweiten Weltkrieg zurück. Aber da sind wir im Gegenteil noch in ganz vielen Fragen einer Welt, die keine Ordnung, die noch nicht ihre Ordnung gefunden hat nach dem Niedergang des Osmanischen Reichs, und dadurch ist gerade diese Frage eine Frage, die das selbstverständlich infrage stellt, die die Gründungsgeschichte der Republik Türkei infrage stellt, die die Gründungsväter infrage stellt. Und insofern: So absurd dieser Umgang mit diesem Faktum der Vernichtung des armenischen Volkes ist, ist das aus dieser Gesamtperspektive, aus diesem Kontext heraus durchaus nachvollziehbar.
    Kapern: Hans-Lukas Kieser, Historiker an der Universität in Zürich, heute Früh im Deutschlandfunk. Herr Kieser, danke, dass Sie Zeit für uns hatten und dass Sie uns Ihre Erläuterungen geben konnten.
    Kieser: Ja, sehr gern geschehen.
    Kapern: Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag nach Basel. Auf Wiederhören.
    Kieser: Gleichfalls. Auf Wiederhören, Herr Kapern.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.