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Volksabstimmung
"Wir haben gezeigt, welche Schweiz wir sein wollen"

Dem Verein Operation Libero wird ein maßgeblicher Anteil an der Ablehnung des verschärften Ausländerrechts zugesprochen. Die Co-Präsidentin Flavia Kleiner sagte im DLF, es sei besonders über das Internet gelungen, zu zeigen, wie elementar die Gesellschaft von davon betroffen gewesen wäre.

Flavia Kleiner im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann | 29.02.2016
    Flavia Kleiner freut sich über die Ablehnung für die "Durchsetzungsinitiative".
    Flavia Kleiner freut sich über die Ablehnung für die "Durchsetzungsinitiative". (dpa / picture-alliance / Lukas Lehmann)
    Gerade weil in Europa rechtspopulistische und nationalistische Parteien auf dem Vormarsch wären, sei es "ein wirklich starkes Zeichen", sagte Kleiner. "Das Schweizer Stimmvolk hat der SVP mit diesem Stimmentscheid die Rote Karte gezeigt auf einem Terrain, auf dem sie scheinbar nicht verlieren konnte."
    Die rechtspopulistische Schweizerische Volkspartei hatte mit der Volksabstimmung die Zustimmung zu einer Initiative holen wollen, mit der Nicht-Schweizer selbst bei kleineren Vergehen abgeschoben werden - und das ohne Härtefall-Ausnahmen. Bisher hatte die SVP mit ihren Kampagnen gegen Einwanderer durchschlagenden Erfolg.
    Flavia Kleiner betonte, besonders über Soziale Netzwerke sei es gelungen, für ein "Nein" zu werben. "Weil jeder von uns einen Freund, ein Familienmitglied oder einen Fußballkameraden hat, der hiervon betroffen sein könnte, haben wir ganz klar 'Nein' gestimmt." Ein Viertel der Menschen habe keinen Schweizer Pass. So habe auch das bürgerliche Lager mobilisiert werden können.

    Das Interview mit Flavia Kleiner in voller Länge:
    Dirk-Oliver Heckmann: Die Schweizerische Volkspartei SVP, sie ist bereits mehrfach erfolgreich gewesen bei Volksentscheiden. Sie war es nicht immer, aber wenn es um den Umgang mit Ausländern ging, hat sie oft eine Mehrheit der Schweizer hinter sich bringen können. Vor sechs Jahren hat sie mit einer Volksabstimmung dafür gesorgt, dass kriminelle Ausländer in Zukunft schneller abgeschoben werden, wenn sie schwere Straftaten begangen haben. Das aber reichte der SVP nicht. Sie wollte, dass die Abschiebung auch schon bei leichteren Taten erfolgt, egal ob die Personen im Land geboren wurden oder nicht und ohne Prüfung durch einen Richter. Sie setzte deshalb eine erneute Volksabstimmung in Gang, doch diesmal haben die Schweizer Nein dazu gesagt. Darüber kann ich jetzt sprechen mit Flavia Kleiner. Sie ist Co-Präsidentin des Vereins "Operation Libero". Das ist eine Initiative, die sich für eine weltoffene, moderne Schweiz einsetzt. Frau Kleiner, schönen guten Morgen erst mal.
    Flavia Kleiner: Guten Morgen, Herr Heckmann.
    Heckmann: Frau Kleiner, was ist eigentlich dagegen einzuwenden, dass kriminelle Ausländer abgeschoben werden? Weshalb ist es modern und weltoffen, sich dagegen einzusetzen?
    Ein starkes Zeichen gegen rechte und nationalistische Bewegungen
    Kleiner: Nun, was die Durchsetzungsinitiative eigentlich der Schweiz angetan hätte wäre, dass sie wesentliche rechtsstaatliche Errungenschaften einfach mutwillig aufs Spiel gesetzt hätte, indem es zum Beispiel tatsächlich zu einfach automatischen Ausschaffungen ohne richterliches Ermessen hätte kommen müssen. Das bedeutet für uns, dass aus Recht Willkür würde, und deshalb haben wir uns dagegen eingesetzt. Auch hätte die Durchsetzungsinitiative ganz essentiell unsere Grundrechte und die europäische Menschenrechtskonvention angegriffen, unseren Wohlstand, weiter unsere Beziehungen zur EU belastet und letztlich auch unser Zusammenleben im Land.
    Heckmann: Jetzt haben die Schweizer ziemlich deutlich Nein zu der Forderung der SVP gesagt. Wie erklären Sie sich diese Entscheidung?
    Kleiner: Ich finde es wirklich ein sehr starkes Zeichen gerade in einer Zeit, in der eigentlich europaweit unter dem Eindruck der Flüchtlingskrise rechtspopulistische und auch nationalistische Parteien auf dem Vormarsch sind, dass hier das Schweizer Stimmvolk ein starkes Signal in die Gegenrichtung ausgesandt hat. Sie hat eigentlich der SVP mit diesem Stimmentscheid die rote Karte auf einem Terrain gezeigt, auf dem sie scheinbar nicht verlieren konnte, und ich denke, das ist ein ganz wichtiges Signal in diesen Zeiten und es sollte auch ein Signal nach Brüssel sein, dass die Helvetier nicht notorische Querulanten sind, sondern dass sie auch mal anders können.
    Heckmann: Ein wichtiges Signal. Aber trotzdem bleibt die Frage: Die SVP war ja in der Vergangenheit immer wieder, wenn es um Ausländerthemen geht, erfolgreich. Weshalb diesmal nicht?
    Kleiner: Ich glaube, es ist uns gelungen, der Gegenseite zu zeigen, wie elementar hier auch unser Zusammenleben betroffen wäre, weil ein Viertel der Schweizer Bevölkerung sind Menschen ohne Schweizer Pass. Es würden alle potenziell hier gefährdet durch diese Durchsetzungsinitiative. Und deswegen: ich glaube, weil jeder von uns einen Freund, ein Familienmitglied, einen Fußballkamerad hat, der hiervon betroffen sein könnte, haben wir ganz klar hier Nein gestimmt und grundsätzlich für ganz wichtige Schweizer Errungenschaften wie unseren Rechtsstaat, unsere Grundrechte, unseren Wohlstand, die davon betroffen worden wären.
    Heckmann: Dieses Argument hat verfangen aus Ihrer Sicht, das rechtsstaatliche Argument?
    Kleiner: Ja.
    Erfolgreiche Social Media-Kampagne
    Heckmann: Aber man muss ja auch sagen: Vor wenigen Monaten noch, da war das Stimmungsbild noch ganz anders. Da lag die Zustimmung, glaube ich, bei zwei Dritteln für diese SVP-Initiative. Das Ja-Lager hat dann aber 25 Prozent verloren. Sie haben ja, Frau Kleiner, mit anderen online und auch in den sozialen Netzwerken für ein Nein zu dieser Initiative gearbeitet. Welche Rolle haben die Aktivitäten der Zivilgesellschaft gespielt?
    Kleiner: Ich denke, es war ganz wichtig, in einem ersten Schritt überhaupt zu informieren die breite Öffentlichkeit über die möglichen und die konkreten Auswirkungen einer Durchsetzungsinitiative auf die Schweiz. Zweitens dann aber auch wirklich - und das hatten wir auch - eine überdurchschnittliche Mobilisierung unseres Lagers, eine unglaublich hohe Stimmbeteiligung in den Städten beispielsweise. Ich glaube, da ist es uns gelungen, sehr, sehr viele Personen gerade bei Social Media - die ganze Timeline bei Facebook war jeweils voll mit dem Thema Durchsetzungsinitiative - hier Leute zu erreichen und diese Diskussionen, die es in einer direkten Demokratie braucht, immer noch mehr zu führen. Ich denke, das war sehr, sehr wichtig, dass diese Abstimmung hier erfolgt.
    Heckmann: Wie sind Sie da konkret vorgegangen? Wie lanciert man eine erfolgreiche Kampagne online oder über die sozialen Netzwerke?
    Kleiner: Zum einen, indem man quasi versucht, die Diskussion ein bisschen zu moderieren, auch verschiedene Medienstimmen einzubringen, aber auch in unserem Fall ganz konkrete Testimonials von Personen, die sich betroffen fühlen, Menschen zweiter, dritter Generation, die hier in der Schweiz leben mit ausländischem Pass und die uns gesagt haben, was für sie das bedeutet, diese Durchsetzungsinitiative, und warum sie sich dagegen einsetzen. Und das andere Thema ist tatsächlich auch diese Stimmen auf Social Media, die extrem stark immer für das Ja und gegen Ausländer und die ausländerfeindlich sind, diese halt zurückzuschlagen und da eine Grenze zu setzen und die Gassen dichtzumachen gegen diese teilweise wirklich offen gelebte Fremdenfeindlichkeit, wie man das in Social Media auch erlebt.
    Frühzeitige Vorbereitung und ein bürgerliches Stimmpublikum
    Heckmann: Diesmal standen nicht die politischen Parteien im Vordergrund, sondern die Zivilgesellschaft, Vereine wie Ihrer beispielsweise. Woran liegt das eigentlich aus Ihrer Sicht, dass die etablierten Parteien in der Schweiz so wenig überzeugend sind und so kraftlos sind?
    Kleiner: Ja, das ist eine starke Frage. Ich denke, das war wirklich ein bisschen auch der ganzen Kurzfristigkeit dieses Abstimmungskampfes geschuldet. Wir waren frühzeitig schon vorbereitet, wussten, dass dieser Angriff sehr schnell kommen wird und sehr intensiv sein wird, und haben uns sehr gut vorbereitet und hier auch ganz bewusst aber dann auf ein bürgerliches Stimmpublikum gezielt, weil wir wussten, dass da eigentlich das Match entschieden wird und dass wir da möglichst viele Personen für unsere Seite gewinnen müssen. Ich denke, grundsätzlich ist es auch extrem nachhaltig, dass die Zivilgesellschaft in dieser sehr intensiven Abstimmungskampf-Phase so mobilisiert werden konnte, und darauf können wir bauen auch für die künftigen Angriffe der SVP auf die Schweiz.
    Heckmann: Und da stehen ja neue Entscheidungen auch wieder an, was die Asylgesetze beispielsweise angeht.
    Kleiner: Genau.
    Heckmann: Frau Kleiner, Sie haben gerade schon Dresden angesprochen. Sie werden die Entwicklung in Deutschland auch ganz gut beobachten, kann ich mir vorstellen, die Pegida-Demonstrationen und ihre Ableger. Was würden Sie eigentlich als Schweizerin raten? Soll man mit den Leuten reden, oder soll man lieber klar Farbe bekennen und sich abgrenzen?
    "Das A und O ist ein konkreter Gegenentwurf gegen populistische Forderungen"
    Kleiner: Ich denke, es ist wichtig, sich klar abzugrenzen und hier deutlich zu votieren für das, was der deutschen Gesellschaft wichtig ist, was ihnen wichtig scheint als essentielle Werte in ihrer Gesellschaft und wie sie sein möchten, dass man das diskutiert und auch diesen Entwurf mag. Weil auch in der Schweiz ist das Problem: Die einzigen, die lange Zeit immer einen Zukunftsentwurf für die Schweiz bereitgelegt haben, das war die SVP, und das war ein extrem rückwärtsgewandter, ein extrem nationalistischer. Hier ist es wichtig und ich glaube, das haben wir geschafft, hier einen Gegenentwurf darzustellen und zu zeigen, welche Schweiz wir sein wollen und was unsere Schweiz ist. Das für sich zu beanspruchen, ich denke, das ist extrem wichtig gerade in Zeiten wie diesen.
    Heckmann: Das A und O ist ein konkreter Gegenentwurf gegen populistische Forderungen. Ihr Erfolg also ein Hoffnungsschimmer für alle, die glauben, dass es Mehrheiten für eine Politik gibt, die sich nicht an der Angst, sondern an der Vernunft orientiert?
    Kleiner: Ich wünsche es mir. Ja, auf jeden Fall. Ich bin sehr zuversichtlich nach diesem Abstimmungskampf, dass das gelingen kann, und ja, ich hoffe auch, dass in Deutschland die Diskussion entsprechend verlaufen kann.
    Heckmann: Flavia Kleiner war das, die Co-Präsidentin des Vereins "Operation Libero". Diesem Verein wird ein maßgeblicher Anteil an dem Stimmenergebnis in der Schweiz gestern zugesprochen. Frau Kleiner, danke Ihnen für Ihre Zeit.
    Kleiner: Ich danke Ihnen, Herr Heckmann. Einen schönen Tag!
    Heckmann: Einen schönen Tag wünsche ich auch Ihnen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.