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Vom Mittelalter zur Wiederentdeckung der Antike

In seinem fesselnden Buch beschreibt Stephen Greenblatt den Übergang vom Ende des Mittelalters zum Beginn der Renaissance. Als Ausgangspunkt für die Zeitwende nimmt der Harvard-Professor einen im 15. Jahrhundert entdeckten Text des antiken Dichters Lukrez.

Von Thomas Palzer |
    Unter Historikern ist es seit längerem strittig, wie aufgeklärt oder wie dunkel das europäische Mittelalter tatsächlich gewesen ist. Im Moment ist es eher schick, das Mittelalter für eine Epoche zu halten, die bei Weitem nicht so dunkel gewesen ist, wie das noch von Historikern ein paar Generationen früher behauptet wurde. Wie dem auch sei: Geht es um die philosophische und literarische Qualität, reicht das Mittelalter nicht an die Antike heran.

    Bevor die Renaissance in Italien und Europa zum kulturellen Vorbild wurde, lagen viele Werke der griechischen oder römischen Klassik irgendwo ungelesen herum oder waren in Klöster verbannt, wo das Pergament von den Mönchen auf Befehl der Oberen mit Messern, Bürsten und Lappen gelöscht wurde, um es mit frommen Texten neu zu beschreiben. Selbst die berühmtesten Klosterbibliotheken des Mittelalters waren klein im Vergleich zu den Bibliotheken der Antike. An Pergament musste gespart werden, es entstand das Palimpsest. Die christliche Welt trieb mit Macht Europa das Heidentum aus. Bücher von Vergil, Cicero, Seneca oder Lukrez galten als teilweise oder ganz verloren.

    Dann wendete sich das Blatt. Als der italienische Dichter und Gelehrte Petrarca Anfang des 14. Jahrhunderts damit anfing, nach antiken Texten zu fahnden und, falls der Suche Erfolg beschieden war, zu rekonstruieren, baute sich in der Folge eine Welle von "Bücherjägern" auf, die von Italien aus nach ganz Europa schwappte. Sogenannten "Humanisten" waren von Sprache und Literatur des klassischen Altertums besessen und bestrebt, die in den Klosterbibliotheken vergessenen oder überschriebenen Schätze zu heben und zu rekonstruieren..
    Einer von diesen Humanisten und Bücherjägern war Poggio Bracciolini, der aus einem Städtchen bei Arezzo in der Toskana stammte, wo er 1380 geboren worden war. Die Wiederentdeckung einiger der bedeutendsten Werke der Antike geht auf sein Konto. Durch ihn sind sie für Europa wieder zugänglich gemacht worden. Stolz trägt heute der Geburtsort Poggios seinen Namen: Terranuova Bracciolini.

    Bibliotheken alter Klöster waren die wichtigsten Jagdreviere für Poggio und die anderen Bücherjäger, und das aus gutem Grund: Über Jahrhunderte hinweg waren Klöster praktisch die einzigen Institutionen, die sich um Bücher kümmerten. Selbst in stabilen und prosperierenden Zeiten des Römischen Imperiums war, nach unseren Maßstäben, die Zahl derer, die lesen und schreiben konnten, nur recht klein. Als das Reich bröckelte, die Städte zerfielen, der Handel erlahmte und die Bevölkerung die Horizonte zunehmend verängstigt nach barbarischen Horden absuchte, zerfiel auch das römische System elementarer und höherer Bildung. Zunächst wurden die Schulen kleiner, dann verschwanden sie ganz, und mit den Schulen schlossen die Bibliotheken und Akademien, Grammatiker und andere Lehrer wurden arbeitslos.

    Schreibt Stephen Greenblatt, Professor für Englische und Amerikanische Literatur und Sprache in Harvard, in seinem neuen Buch "Die Wende. Wie die Renaissance begann." In dem fesselnden Buch lässt der Renaissance-Experte und Bestseller-Autor jene Welt wiederauferstehen, in der Poggio Lukrez’ Versepos "De rerum natura" aus dem Regal zieht, es kopieren lässt und seinen Freunden in Florenz die Kopie zuschickt. Mit dieser kleinen Geste ist exemplarisch die Wende vom Mittelalter zur Renaissance vollzogen.

    Nach meiner Meinung war es die Renaissance, die von allen in der Nachfolge der Antike stehenden Kulturen am genauesten verkörpert hat, was Lukrez’ Sinn für Schönheit und Lust ausmacht und was er zu einem legitimen, den Menschen würdigen Streben entfaltet.

    Tatsächlich beeinflusst der antike Text auf vielfache Weise die ganze Renaissance – von Botticelli bis Shakespeare, von Giordano Bruno über Galilei bis zu Francis Bacon, von Machiavelli bis zu Robert Burton. In einem gewissen Sinn steht er mit seinem radikalen Atheismus und Atomismus quer zu den fundamentalen Prinzipien des Christentums und erregt gerade darum bei den Intellektuellen der Zeit großes Interesse, weshalb der Florentiner Fundamentalist Savonarola 1516, also fast 100 Jahre nach der Wiederentdeckung, immer noch ausdrücklich vor ihm warnt:

    So hört, ihr Frauen, sie sagen, diese Welt sei aus Atomen gemacht, aus solchen winzigen Teilchen also, die durch die Luft fliegen. Nun lacht, ihr Frauen, über die Studien dieser gelehrten Männer.

    Poggio, der sich stolz der "Florentiner" nennt, hat als Schreiber und Kopist der päpstlichen Kurie in Rom gearbeitet. Insgesamt diente er acht Päpsten. Er muss in dieser Funktion sehr viel geschrieben haben, denn seine Handschrift ist ungewöhnlich gleichmäßig und elegant und ein wichtiger Faktor für seinen Aufstieg. Poggios Schriftbild ist dabei Ausdruck einer tiefen Sehnsucht nach Schönheit und edler Kultur. Er und seine geistigen Brüder sprechen von lettera antica und geben damit der Tatsache Ausdruck, dass sie sich nicht an den Hof Karls des Großen wünschen, sondern an die Tafel von Vergil und Cicero. Der Zeitgeist glaubt, dass man die Antike nicht imitiert, um sie zu reproduzieren, sondern um etwas Neues zu schaffen.

    Eine schöne Handschrift zu haben, das wirkt heute beinahe schon skurril. Nicht so Anfang des 15. Jahrhunderts. Wer in der Lage war, Briefe zu schreiben und zu gestalten, der besaß Zugang zu den höheren Kreisen – zu einer konservativen und gesellschaftlich eng begrenzten Welt. Allerdings behinderte die gotische Schrift, die zu jener Zeit Verwendung findet, den Lesefluss. Sie ist zu verschlungen, die Abstände zwischen den Wörtern und Zeilen sind zu eng, und im Text selbst wimmelt es von Abkürzungen, die noch dazu nicht vereinheitlicht sind.

    Was Poggio in Zusammenarbeit mit einigen anderen gelang, bliebt bis heute erstaunlich. Sie nahmen die karolingische Minuskel ... und machten aus ihr die Schrift, in der sie von nun an Handschriften kopierten und Briefe verfassten. Aus dieser Schrift wiederum wurde dann auch eine laufende Schreibschrift entwickelt, und sie bildet die Grundlage der Schriftart, die wir heute als Roman bezeichnen.

    Als Poggios Dienstherr, Johannes XXIII., auf dem Konstanzer Konzil abgesetzt und aus der Liste der Päpste gestrichen wird, verliert er seinen Posten als apostolischer Sekretär. Er reist auf eigene Faust durch Deutschland und landet im Januar 1417 vor den Toren eines deutschen Klosters, vermutlich denen von Fulda. Die Klosterbibliotheken von Italien und Frankreich hat er auf den Spuren Petrarcas bereits durchsucht. Hier in Fulda macht er eine epochale Entdeckung, eine Handschrift, die älter ist als alle anderen, die er ans Licht geholt hat, ein langer Text, der um 50 vor unserer Zeit entstanden ist und aus der Feder einem Mannes namens Titus Lucretius Carus stammt, ein antiker Dichter und Philosoph. Titel des Werks: De rerum natura – Über die Natur.

    Frühling kommt und Venus, und ihnen voraus sind Venus’ geflügelter Bote und Mutter Flora, auf den Versen folgt ihnen Zephyr, und sie bereiten der Göttin den Weg, verbreiten mit den Blumen herrliche Farben und Wohlgerüche.

    In Sandro Botticellis berühmtem Bild "La primavera – Der Frühling" spiegeln sich diese Zeilen des römischen Dichters wider. Lukrez betrachtete das Universum als unaufhörliche, intensiv erotische Hymne an die römische Göttin Venus. Das konnte den Christen von damals nicht gefallen – und auch bei denen von heute dürfte das Loblied auf Sex und Erotik nicht unwidersprochen bleiben. Es stellt das Ganze geistige Universum des Christentums in Frage.

    Natürlich kann man ein Gedicht allein nicht verantwortlich machen für eine so umfassende geistige, moralische und gesellschaftliche Transformation [wie es die Renaissance darstellt] – das vermag ein einziges Werk nicht, und schon gar nicht eines, über das man jahrhundertelang nicht ohne Furcht öffentlich und frei hatte reden können.

    Um was dreht es sich nun bei diesem außergewöhnlichen Werk mit dem Titel "De rerum natura – Über die Natur" nun genau?
    Es besteht aus sechs Büchern und rund 17.400 Versen im Maß des Hexameters. In dem Langgedicht werden Passagen großer literarischer Schönheit mit philosophischen Reflexionen verbunden. Lukrez behauptet darin, dass die Dinge aufgrund der Kollisionen kleinster Teilchen entstehen. In den Atomen haben die Dinge ihren Keim. Aber würden diese Atome in der Leere immer die gleichen Bewegungen absolvieren, gäbe es nichts Neues und erst recht gäbe es keinen freien Willen. Es ist die Ablenkung, die Deklination, die kleinste Abweichung, die das Universum in seiner Vielgestaltigkeit und seinem ewigen Wandel ermöglich – und die Schöpfung überhaupt erst in Gang gebracht hat. Im Englischen nennt sich diese Abweichung swerve – und so heißt im Original auch Greenblatts Buch.

    Ein einfaches Wort für das, was Lukrez brachte, ist Atheismus – ein Vorwurf, der oft gegen ihn erhoben wurde, nachdem sein Gedicht wiedergelesen wurde. Aber Lukrez war gar kein Atheist. Er glaubte an die Existenz von Göttern. Aber er glaubte auch, dass sie sich, wenn sie denn wirklich Götter waren, sich niemals um uns Menschen und das, was wir tun, kümmern würden. Göttlichkeit, dachte er, kann sich ihrem eigenen Wesen nach nur des ewigen Lebens und Friedens erfreuen, unberührt von jeglichem Leid und jeglicher Störung, völlig indifferent dem menschlichen Handeln gegenüber.

    Greenblatt lässt die Renaissance in seinem Buch Die Wende mit der Wiederentdeckung dieses materialistischen und für die christliche Welt an Zumutungen reichen Textes beginnen. Aber darüber hinaus erzählt er uns leichtfüßig und elegant, wie das Lesen im alten Rom in Mode kam und zur Gewohnheit wurde - und schließlich die Begüterten anfingen, sich eine Privatbibliothek mit Buchrollen der alten Griechen anzulegen. Greenblatt erzählt, dass die idealisierte Figur des einsam Denkenden erst seit Descartes existiert, bei Griechen und Römern dagegen gar nicht im Ansehen stand; er erzählt, wie im Mittelalter die Sehnsucht nach der Antike geboren wurde, wie das Sammlertum entstanden ist und wie es in den mittelalterlichen Skriptorien der Klöster zuging:

    Schon das Kloster war ein Ort der Regeln, im Skriptorium aber galten Regeln innerhalb dieser Regeln. Zutritt zu diesem besonderen Ort, an dem absolute Stille herrschte, hatten nur die Schreiber. Ihnen war es nicht gestattet, sich die Bücher auszusuchen, die sie kopierten, auch durften sie die Totenstille nicht brechen, um den Bibliothekar mit lauter Stimme um Bücher zu bitten. Eine komplizierte Zeichensprache wurde erfunden, die solche Nachfragen in statthafter Form ermöglichte... Wenn er ein heidnisches Buch brauchte, begann er sich, nach dem allgemeinen Zeichen für Buch, wie ein Hund hinterm Ohr zu kratzen. Wollte er aber haben, was die Kirche als besonders beleidigendes oder gefährliches Werk betrachtete, konnte er zwei Finger in den Mund stecken, als wolle er sich übergeben.

    Eine Kopie der Abschrift von Lukrez Gedicht, die Poggio hat anfertigen lassen, findet sich heute in der Florenzer Bibliothek, die Michelangelo für die Medici hat anfertigen lassen.

    Das Buch, eine der Hauptquellen der Neuzeit, präsentiert sich als bescheidener Band, gebunden in das inzwischen verblasste, ramponierte rote Leder mit Metalleinlagen, das die Medici für ihre Handschriften ausgewählt hatten; am unteren Rand des hinteren Buchdeckels ist die Kette befestigt, mit der die Handschriften an den Lesepulten festgemacht waren.

    Stephen Greenblatts "Die Wende. Wie die Renaissance begann" ist eine abwechslungsreiche und erhellende Lektüre über eine große Wendezeit in Europas Geschichte. Der Autor weiß anschaulich, umfassend und spannend zu erzählen, und es gelingt ihm, dem Leser klarzumachen, wie sehr wir noch heute von dieser Wende profitieren. Und damit von der Antike. Zu den Sachen selbst, das heißt eben immer auch: Zurück auf Anfang. Der Eitelkeit der Gegenwart mag das nicht gefallen.

    Stephen Greenblatt: Die Wende. Wie die Renaissance begann
    aus dem Englischen von Klaus Binder
    Siedler Verlag, München
    352 Seiten, 24,99 Euro