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Vor 150 Jahren erschienen
Dostojewskis Roman "Schuld und Sühne"

Für Thomas Mann war es "der größte Kriminalroman aller Zeiten". Vor 150 Jahren erschien die letzte Folge von "Schuld und Sühne", dem Fortsetzungsroman von Fjodor Michailowitsch Dostojewski. Das Buch ist auch Zeichen der bis heute andauernden Auseinandersetzung zwischen rationaler und metaphysischer Weltsicht.

Von Christoph Schmitz-Scholemann |
    Der Schreibtisch des russischen Dichters Fjodor Michailowitsch Dostojewski im Museum in der Kusnetschni Straße in Sankt Petersburg. (Aufnahme vom Januar 1992). Dostojewski wurde am 11. November 1821 in Moskau geboren und starb am 9. Februar 1881 in St. Petersburg. Zu seinen bekanntesten Werken gehören "Die Brüder Karamasow", "Schuld und Sühne" und "Der Idiot".
    Der Schreibtisch des russischen Dichters Fjodor Michailowitsch Dostojewski im Museum in der Kusnetschni Straße in Sankt Petersburg. (picture-alliance / dpa / Tass)
    Ob es wirklich der 28. Dezember 1866 war, an dem der letzte Teil des Romans "Schuld und Sühne" von Fjodor Michailowitsch Dostojewski erschien, weiß man nicht genau. Es kann sogar sein, dass die Dezemberausgabe des "Russischen Boten" erst im Februar 1867 herauskam.
    "Haben Sie übrigens bemerkt, dass die besten Zeitschriften sich samt und sonders keineswegs durch Pünktlichkeit auszeichnen?"
    So klagte Dostojewski später und meinte mit den "besten Zeitschriften" natürlich die, denen er seine Werke als Fortsetzungsromane zu verkaufen pflegte. Es waren die Blätter der konservativen, christlich-orthodoxen Richtung im damals erregt geführten politischen Meinungskampf, der auch den Hintergrund des Romans "Schuld und Sühne" bildet.
    Gegenpartei der Orthodoxen waren die "Westler". Sie wollten den Atheismus und Rationalismus der europäischen Aufklärung nach Russland importieren. Zu ihnen hatte der 1821 geborene Dostojewski in seinen jungen Jahren gehört und war 1849 deswegen vor Gericht gestellt worden.
    Nur zum Schein aufs Schafott geführt
    "Man las uns das Todesurteil vor, ließ uns das Kreuz küssen ... und stellte uns an den Galgen, um die Strafe zu vollziehen ... und es blieb mir nicht mehr als eine Minute zu leben."
    Erst in allerletzter Sekunde erfuhr der junge Dichter, dass man ihn nur zum Schein aufs Schafott geführt hatte. Die wahre Strafe bestand in acht Jahren Sibirien, davon vier im Straflager. Dort, mit der Bibel als einziger Lektüre, studierte Dostojewski das ganze Elend von "Verbrechen und Strafe", wie die wörtliche Übersetzung des Romantitels lautet. Verachtet hat er die Räuber und Mörder nie.
    "Das war ja russisches Volk, das waren meine Brüder im Unglück, und ich hatte das Glück, mehr als einmal in der Seele eines Räubers auf Großmut zu stoßen."
    So war es kein Wunder, dass sich im Geist des Dichters wohl schon in der Lagerzeit der Roman um die Hauptfigur Rodion Raskolnikow entwickelte, jenen bitterarmen ehemaligen Jurastudenten aus Petersburg, der eine geldgierige alte Pfandleiherin und ihre Schwester erschlägt.
    "Mit aller Wucht schlug er ein zweites und ein drittes Mal zu, jedes Mal mit dem Beilrücken ... auf den Scheitel. Das Blut ergoss sich wie aus einem umgestoßenen Glas ..."
    Hin- und hergerissen zwischen Abscheu und Mitleid
    Dieser Mord steht am Beginn des 700 Seiten dicken Buchs und der Leser kennt den Mörder von Anfang an. Die gleichwohl bis fast zum Schluss aufrecht erhaltene Spannung nährt sich aus der Frage, ob der schlaue Ermittlungsrichter dem Täter auf die Spur kommt. Dabei geht es, in der Sprache heutiger Kriminalistik, vor allem um Tatmotiv und Täterumfeld. Das soziale Milieu, die politische Stimmung, die Familie – alles ergründet der Roman. Besonders die verwirrte und kranke Seele des Täters gräbt Dostojewski um und um. Raskolnikow, so viel ist sicher, glaubt, im Namen von Vernunft und Fortschritt getötet zu haben. Was wiegt da das Leben eines Menschen? Er sagt:
    "Ich wollte bei der Ausführung die denkbar größte Gerechtigkeit walten lassen ... Unter allen Läusen wählte ich die allerunnützeste ..."
    Hin- und hergerissen zwischen Abscheu vor der Tat und Mitleid mit dem Täter, verfolgt auch der heutige Leser, wie Rodion Raskolnikow sich den Abgründen seines Gewissens nähert. Bis ihm in der fast noch kindlichen Prostituierten Sonja ein Engel der Lauterkeit begegnet. Raskolnikow bittet sie, ihm aus der Bibel vorzulesen:
    "'Lies! Ich will es' beharrte er ... Sonja schlug das Buch auf und suchte die Seite. Ihre Hände zitterten, ihre Stimme versagte. Zweimal setzte sie an, aber schon die erste Silbe wollte nicht über ihre Lippen."
    Chance einer moralischen Auferstehung
    Die Geschichte von der Auferweckung des toten Lazarus, die Sonja dann vorliest, ist zugleich der Wendepunkt zur Chance einer moralischen Auferstehung, von der man erst im Schlusskapitel erfährt, ob sie gelingt. Eine wirkungsvolle Szene an der Grenze zum Kitsch – aber die Rettung durch den christlichen Glauben war für Dostojewski keine sentimentale Masche. Nur das Christentum, glaubte er, nehme den Menschen in allen seinen Dimensionen ernst und könne Europa vor der blinden Wut rationalistischen, ökonomischen und nationalistischen Denkens bewahren.
    "Und späterhin werden wir ... der europäischen Sehnsucht den Ausweg ... zeigen in der allmenschlichen russischen Seele, ... der brüderlichen ... Harmonie nach dem Gesetz des Evangeliums Christi!"