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Vor 200 Jahren geboren
Gottfried Keller - Autodidakt, Vagabund, Schriftsteller

Er begann als jugendlicher Rabauke, der lärmend und prügelnd durch die Straßen seiner Heimatstadt Zürich zog. Später wurde aus Gottfried Keller ein berühmter Schriftsteller - und einer der angesehensten Repräsentanten der Schweizer Gesellschaft.

Von Christian Linder | 19.07.2019
    Eine Porträtaufnahme zeigt den Schweizer Dichter Gottfried Keller.
    Eine nachkolorierte Porträtaufnahme aus dem Jahr 1863 zeigt den Schweizer Schriftsteller und Autor Gottfried Keller. (picture alliance / akg-images)
    Ein früher Angsttraum Gottfried Kellers: "Ein gemeines, untätiges und verdorbenes Subjekt zu werden." Dass er dennoch auf eine Lebensbahn geriet, die ihn zu einem der angesehensten Repräsentanten der Schweizer Gesellschaft und der europäischen Literatur werden ließ, hat ihn selbst manchmal verwundert.
    Für seinen Ruhm stand ein Gedicht wie "Die Zeit geht nicht". Es beginnt - hier zu hören in einer Lesung des Schauspielers Mathias Wiemann - mit den Versen:
    "Die Zeit geht nicht, sie stehet still ..., // Ein Etwas, form- und farbenlos, / Das nur Gestalt gewinnt, / Wo ihr drin auf und nieder taucht, / Bis wieder ihr zerrinnt. / Es blitzt ein Tropfen Morgentau / Im Strahl des Sonnenlichts; / Ein Tag kann eine Perle sein / Und ein Jahrhundert nichts."
    Von der Schule verwiesen
    Welch harter innerer Lebenskampf diese äußerlich ruhig fließende Wortmusik erst hervorbringen konnte, hat Keller in seiner romanversetzten Autobiographie "Der grüne Heinrich" erzählt. Geboren am 19. Juli 1819 in Zürich und in seiner Jugend ein aufbrausender Kopf, zechte er gern und ausgiebig und ging keiner Schlägerei aus dem Weg.
    Nach einem bösen Streich für immer von der Schule verwiesen und zum Autodidakten geworden, finanzierte die früh verwitwete Mutter später sein Vagabundenleben als Kunstmaler in München und Heidelberg, bis Keller 1850 nach Berlin ging und in einem ärmlich möblierten Zimmer in der Nähe des Gendarmenmarkts hauste, Mohrenstraße 9:
    "In totaler Abgeschiedenheit, stumm und nüchtern wie eine Schildkröte." Da hatte er aber die Malerei aufgegeben und Gedichte zu schreiben begonnen.
    Anfangs ohne große Resonanz, folgten bald immer mehr Leser dem verführerischen Ton eines neuen "poetischen Realismus" vor allem in dem 1854/55 erschienenen "Grünen Heinrich" und der 1856 herausgekommenen Novellensammlung "Die Leute von Seldwyla".
    "Seldwyla bedeutet nach der älteren Sprache einen wonnigen und sonnigen Ort, und so ist auch in der Tat die kleine Stadt dieses Namens gelegen … mitten in grünen Bergen, die nach der Mittagseite zu offen sind, so dass wohl die Sonne hereinkam, aber kein rauhes Lüftchen."
    Am Ende blieben nur Erinnerungen an seine Schreibjahre
    Szenarien wie die von der Gemeinde Seldwyla, von deren Bürgern niemand wisse, wovon sie seit Jahrhunderten eigentlich lebten und auch noch "lustig und guter Dinge", gefielen natürlich, zumal Kellers Sprachbilder erhellende Einsichten transportierten – "Kleider machen Leute", diesen Spruch redet noch heute alle Welt nach. In der von Humor geprägten und zugleich von einem dunklen Ton der Melancholie durchzogenen Welt seiner Bücher hatte sich der einstige zornige junge Mann eine an Einsichten Goethes orientierte neue innere Verfassung gegeben:
    "(Nicht das) Unbegreifliche und Unmögliche, das Abenteuerliche und Überschwängliche (ist das Poetische, sondern) die hingebende Liebe an alles Gewordene und Bestehende, welche das Recht und die Bedeutung jeglichen Dinges ehrt und den Zusammenhang und die Tiefe der Welt empfindet."
    Als Keller, 1855 nach Zürich zurückgekehrt, 1861 in das hochdotierte Amt eines "Staatsschreibers" der Kantonalregierung gewählt wurde, war er auch äußerlich ein allseits respektierter Bürger geworden. Die nebenbei geschriebenen "Sieben Legenden" sowie ein zweiter Band der "Leute von Seldwyla" brachten ihm dann erstmals einen so großen ökonomischen Erfolg, dass er 1876 das Staatsamt aufgeben und wieder freier Schriftsteller werden konnte, der sein Œuvre mit den "Zürcher Novellen" und einer zweiten, grundlegend überarbeiteten Fassung des "Grünen Heinrich" sowie mit dem Roman "Martin Salander" vervollständigte.
    Der Ruhm konnte Gottfried Keller im Innersten aber nicht wirklich befriedigen. Im Alter spottete er über sich selbst: "Ein kleiner dicker Kerl, der abends 9 Uhr ins Wirtshaus und um Mitternacht zu Bett geht als alter Junggeselle." Am Ende blieben ihm nur die Erinnerungen an seine Schreibjahre. Das Gedicht "Die Zeit steht nicht" endet mit den Versen:
    "An dich, du wunderbare Welt, / Du Schönheit ohne End', / Auch ich schreib' meinen Liebesbrief / Auf dieses Pergament. // Froh bin ich, dass ich aufgeblüht / In deinem runden Kranz; / Zum Dank trüb' ich die Quelle nicht / Und lobe ihren Glanz."