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Vor 245 Jahren
Goethes Ankunft in Weimar

Als Johann Wolfgang Goethe am 7. November 1775 zum ersten Mal ins thüringische Weimar kam, hatte das auch sehr private Gründe. Doch es wurde der Auftakt einer großen Epoche – für die Stadt Weimar und die deutsche Literatur.

Von Christoph Schmitz-Scholemann | 07.11.2020
    Johann Wolfgang von Goethe nach einer Miniatur Johann Daniel Bagers von 1773
    Johann Wolfgang von Goethe nach einer Miniatur Johann Daniel Bagers von 1773 (The Print Collector / Heritage / picture alliance)
    Als der 26-jährige Johann Wolfgang Goethe am 7. November 1775 morgens um fünf Uhr in Weimar aus der Kutsche stieg, dürfte er sich gewundert haben. Die dunklen Straßen, auf die der Frankfurter Bürgersohn seinen Fuß setzte, waren mit Mist und Morast bedeckt, Hühner liefen herum und das Schloss ragte als Brandruine in den Nachthimmel. Was um alles in der Welt hatte den Rechtsanwalt und genialen Dichter des "Götz von Berlichingen" und des "Werther" hierhin verschlagen? Dazu der langjährige Präsident der Klassikstiftung Weimar Hellmut Seemann:
    "Dieser Gang nach Weimar ist ja von vielen Goethe immer wieder vorgeworfen worden. Sowas macht man nicht als Nationaldichter der Deutschen, einfach in so eine Provinzresidenzstadt zu gehen."
    Angefangen hatte es im Dezember 1774. Die jungen Weimarer Prinzen Carl August und Constantin machten auf einer Reise Station in Frankfurt am Main. Ihr Erzieher, Carl Ludwig von Knebel, Offizier mit literarischen Neigungen, wollte den berühmten Goethe kennenlernen und besuchte ihn unangemeldet. Goethe war überrascht.
    "Ich glaube, bei diesem ursprünglichen ersten Treffen hat Goethe nur das, was er immer hat: nämlich Neugier. Er hat Lust zu leben, Lust zu reisen, Menschen kennen zu lernen, und deswegen lässt er sich mit Lust ablenken."
    Mittagessen mit den Prinzen
    Goethe und Knebel sind einander auf Anhieb sympathisch. Man verabredet sich zum Mittagessen mit den beiden Prinzen und ihrer Begleitung in einem Gasthof.
    "Als er da ankommt, sieht er: Das sind nicht nur wohlerzogene und interessierte Menschen, die er da antrifft, sondern das sind offenbar auch Leute, die Bücher lesen. Denn auf dem Tisch liegt eben – wenn auch noch unaufgeschnitten – der Band 'Patriotische Phantasien'."
    Die "Patriotischen Phantasien" waren ein damals berühmtes rechtspolitisches Werk: ein Lob der deutschen Kleinstaaten, die aufgrund der Nähe zwischen Volk und Herrschern besser und humaner als zentralistische Länder zu regieren seien. Goethe kannte das Buch und glänzte mit einem spontanen Kurzreferat, so Hellmut Seemann:
    "Und das finden die gleich hochinteressant, weil sie denken: Der könnte ja tatsächlich auch ganz andere Aufgaben in einem kleinen Fürstentum wahrnehmen als nur die, das Glanzlicht eines Hofes zu sein."
    Historischer Stahlstich von Ferdinand Rothbart, 1823 - 1899, ein deutscher Illustrator, Friederike Elisabeth Brion und Goethe als junges Paar
    Goethe und Friederike - Der selbstverliebte Dichter und das Landmädchen
    Ein Glücksfall für die Literatur, doch fatal für die Frau: Seine Liebschaft mit der Pfarrerstochter Friederike von Brion inspirierten Goethe zu einigen seiner schönsten Gedichte. Theo Stemmler erzählt auf neue Weise vom liebenden – und selbstverliebten Dichterfürsten.
    Flucht vor dem nervigen Vater
    In diesem Augenblick gewann ein Experiment Konturen: Könnte Goethe nicht dem Weimarer Hof zugleich als Schriftsteller und Politiker dienen? Für Goethe ein anziehender Gedanke, denn er hatte auch ganz persönliche Gründe, Frankfurt zu verlassen. Liebeskummer zum Beispiel. Und: Der Vater nervte. Dazu Hellmut Seemann:
    "1774 ist Goethe ein berühmter Mann. Sitzt aber bei seinem Vater im Haus. Und der Vater ist auch genau der Typ, der zweimal am Tag sagt: So lange du deine Füße unter meinen Tisch setzt, hast du mir bitte jetzt zu sagen, wo du gerade hingehst."
    Herzog Carl August erweist sich als seelenverwandt
    Im Laufe des Jahres 1775 verfestigten sich die Weimar-Pläne, schienen dann in letzter Minute fehlzuschlagen, bis Goethe doch noch nach einer rasanten mehrtägigen Kutschfahrt in Weimar landete. Rasch war er hier ein Herz und eine Seele mit dem jungen Herzog Carl August. Man jagte und feierte, Goethe wurde zum Minister befördert – verstummte allerdings vorerst als Dichter.
    Finanzminister Goethe tritt auf die Schuldenbremse
    Immerhin: Goethe sanierte den überschuldeten Haushalt des Herzogtums und zog weitere Schriftsteller und Intellektuelle in das Fürstentum. Und ab Mitte der 80er-Jahre schrieb er wieder: All die Dramen, Romane und Gedichte, die heute zum Kern dessen zählen, was man die Weimarer Klassik nennt. Also, sagt Hellmut Seemann:
    "Für Weimar hat es sich auf jeden Fall gelohnt. Eigentlich müsste Weimar den 7. November als seinen Goethe-Festtag feiern. Denn wäre Goethe nicht nach Weimar gekommen, wäre diese Stadt um ein entscheidendes Asset, wie man heute sagt, entreichert."
    Der Eingang zur Gedenkstätte Buchenwald
    "Zeitschneise" in Weimar - Erinnerungspolitisches Kunstwerk droht zu verfallen
    Sie liegt zwischen dem Musenschloss der Weimarer Fürsten und dem späteren KZ Buchenwald: eine Schneise durch den Wald. Seit 1999, dem Kulturhauptstadtjahr Weimars, verdeutlicht diese "Zeitschneise" den kurzen Weg zwischen kulturellem Höhenflug und Barbarei. Gegen ihren Verfall regt sich Protest.
    Und die traditionell zersiedelte deutsche Literaturlandschaft gewann in Goethes Weimar zum ersten Mal ein Zentrum, das seinen Glanz bis heute bewahrt.